Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846.mühvolles Tagewerk ist ihnen wohl gar eine freundliche Gewohnheit; die Leiden, welche sie äußerlich treffen, sind ihnen vielleicht nicht härter, als diejenigen, welche die Wohlhabenden und Reichen geistig empfinden und in ihrem Herzen durchzukämpfen haben." "Und so ist es auch," unterbrach sie ihre Mutter, "diesen Leuten ist nicht Entbehrung, was uns so scheint -- sie sind in vielen Dingen glücklicher, der Hunger würzt ihr Mahl, von der Arbeit ermüdet schlafen sie auf hartem Lager besser, als wir auf weichen Polstern, der Feierabend giebt ihnen genußreiche Stunden, die gewiß so wohlthuend sind, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen können." "Gewiß," nahm Aarens das Wort, "es ist Nichts als wahre Sittenverderbniß, was den Pöbel unzufrieden machen kann; Faulheit, Trunksucht und Ausschweifungen aller Art sind die Ursachen des Elendes, welches sich öffentlich zur Schau stellt, um unsere Augen auf sich zu ziehen, unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm die Mittel geben, ein sittenloses Leben fortzusetzen." Elisabeth nahm hastig wieder das Wort, das man ihr vorher abgeschnitten hatte, und sagte: "Ach nein, nein! Jetzt weiß ich es anders! Wir brauchen hier nicht weit umzuspähen, um die Noth der untersten Classen in ihrer ärgsten Gestalt zu erblicken -- und seitdem ich sie gesehen, mühvolles Tagewerk ist ihnen wohl gar eine freundliche Gewohnheit; die Leiden, welche sie äußerlich treffen, sind ihnen vielleicht nicht härter, als diejenigen, welche die Wohlhabenden und Reichen geistig empfinden und in ihrem Herzen durchzukämpfen haben.“ „Und so ist es auch,“ unterbrach sie ihre Mutter, „diesen Leuten ist nicht Entbehrung, was uns so scheint — sie sind in vielen Dingen glücklicher, der Hunger würzt ihr Mahl, von der Arbeit ermüdet schlafen sie auf hartem Lager besser, als wir auf weichen Polstern, der Feierabend giebt ihnen genußreiche Stunden, die gewiß so wohlthuend sind, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen können.“ „Gewiß,“ nahm Aarens das Wort, „es ist Nichts als wahre Sittenverderbniß, was den Pöbel unzufrieden machen kann; Faulheit, Trunksucht und Ausschweifungen aller Art sind die Ursachen des Elendes, welches sich öffentlich zur Schau stellt, um unsere Augen auf sich zu ziehen, unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm die Mittel geben, ein sittenloses Leben fortzusetzen.“ Elisabeth nahm hastig wieder das Wort, das man ihr vorher abgeschnitten hatte, und sagte: „Ach nein, nein! Jetzt weiß ich es anders! Wir brauchen hier nicht weit umzuspähen, um die Noth der untersten Classen in ihrer ärgsten Gestalt zu erblicken — und seitdem ich sie gesehen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0173" n="167"/> mühvolles Tagewerk ist ihnen wohl gar eine freundliche Gewohnheit; die Leiden, welche sie äußerlich treffen, sind ihnen vielleicht nicht härter, als diejenigen, welche die Wohlhabenden und Reichen geistig empfinden und in ihrem Herzen durchzukämpfen haben.“</p> <p>„Und so ist es auch,“ unterbrach sie ihre Mutter, „diesen Leuten ist nicht Entbehrung, was uns so scheint — sie sind in vielen Dingen glücklicher, der Hunger würzt ihr Mahl, von der Arbeit ermüdet schlafen sie auf hartem Lager besser, als wir auf weichen Polstern, der Feierabend giebt ihnen genußreiche Stunden, die gewiß so wohlthuend sind, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen können.“</p> <p>„Gewiß,“ nahm Aarens das Wort, „es ist Nichts als wahre Sittenverderbniß, was den Pöbel unzufrieden machen kann; Faulheit, Trunksucht und Ausschweifungen aller Art sind die Ursachen des Elendes, welches sich öffentlich zur Schau stellt, um unsere Augen auf sich zu ziehen, unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm die Mittel geben, ein sittenloses Leben fortzusetzen.“</p> <p>Elisabeth nahm hastig wieder das Wort, das man ihr vorher abgeschnitten hatte, und sagte: „Ach nein, nein! Jetzt weiß ich es anders! Wir brauchen hier nicht weit umzuspähen, um die Noth der untersten Classen in ihrer ärgsten Gestalt zu erblicken — und seitdem ich sie gesehen, </p> </div> </body> </text> </TEI> [167/0173]
mühvolles Tagewerk ist ihnen wohl gar eine freundliche Gewohnheit; die Leiden, welche sie äußerlich treffen, sind ihnen vielleicht nicht härter, als diejenigen, welche die Wohlhabenden und Reichen geistig empfinden und in ihrem Herzen durchzukämpfen haben.“
„Und so ist es auch,“ unterbrach sie ihre Mutter, „diesen Leuten ist nicht Entbehrung, was uns so scheint — sie sind in vielen Dingen glücklicher, der Hunger würzt ihr Mahl, von der Arbeit ermüdet schlafen sie auf hartem Lager besser, als wir auf weichen Polstern, der Feierabend giebt ihnen genußreiche Stunden, die gewiß so wohlthuend sind, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen können.“
„Gewiß,“ nahm Aarens das Wort, „es ist Nichts als wahre Sittenverderbniß, was den Pöbel unzufrieden machen kann; Faulheit, Trunksucht und Ausschweifungen aller Art sind die Ursachen des Elendes, welches sich öffentlich zur Schau stellt, um unsere Augen auf sich zu ziehen, unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm die Mittel geben, ein sittenloses Leben fortzusetzen.“
Elisabeth nahm hastig wieder das Wort, das man ihr vorher abgeschnitten hatte, und sagte: „Ach nein, nein! Jetzt weiß ich es anders! Wir brauchen hier nicht weit umzuspähen, um die Noth der untersten Classen in ihrer ärgsten Gestalt zu erblicken — und seitdem ich sie gesehen,
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Zitationshilfe: | Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss02_1846/173>, abgerufen am 22.07.2024. |