geistigstark oder wissensreich oder einfältiglich waren, wenn sie nur wie Du selber sagst -- aber im höchsten Sinne "Gott vor Augen und im Herzen trugen" -- aber an mich hatte sie ihr ganzes Herz hingegeben und ich habe ihr immer viel von Dir erzählen müssen. Sie war auch nicht gar so hochgeboren, wie Du vielleicht denkst. Jhr Vater war ein Buchhändler, der auch aus dem Volke aus Armuth und Dürftigkeit hervorgegangen war, und es durch Fleiß, Ausdauer und Glück zugleich bis zum reichen angesehenen Manne gebracht hatte. Es ist derselbe Buch- händler, für welchen ich hier das Buch schreiben will. Sieh nun, diese Aurora hab' ich geliebt und bin mit ihr glücklich gewesen -- ach! nur Monate lang! Jm Spätsom- mer hatt' ich sie kennen gelernt und wie der nächste Früh- ling kam, legte sie sich unter die Blumen und starb. Das Nervenfieber hatte sie schnell hinweggerafft. Sie starb mit Bewußtsein und wie eine Seherin, vor der ganze kommende Jahre und Zeiten sich aufrollen. "Jch muß Dich allein lassen," sagte sie, "damit Du Dein Herz an keinen einzelnen Menschen mehr hängst, sondern an die ganze Menschheit -- Deine einzige Geliebte sei nur die Freiheit!" -- So hab' ich mich fügen lernen in das herbe Geschick und habe den Schmerz überwunden -- aber die süße Erinnerung halt' ich fest."
Mutter Eva streichelte liebevoll die Wangen ihres
geiſtigſtark oder wiſſensreich oder einfaͤltiglich waren, wenn ſie nur wie Du ſelber ſagſt — aber im hoͤchſten Sinne „Gott vor Augen und im Herzen trugen“ — aber an mich hatte ſie ihr ganzes Herz hingegeben und ich habe ihr immer viel von Dir erzaͤhlen muͤſſen. Sie war auch nicht gar ſo hochgeboren, wie Du vielleicht denkſt. Jhr Vater war ein Buchhaͤndler, der auch aus dem Volke aus Armuth und Duͤrftigkeit hervorgegangen war, und es durch Fleiß, Ausdauer und Gluͤck zugleich bis zum reichen angeſehenen Manne gebracht hatte. Es iſt derſelbe Buch- haͤndler, fuͤr welchen ich hier das Buch ſchreiben will. Sieh nun, dieſe Aurora hab’ ich geliebt und bin mit ihr gluͤcklich geweſen — ach! nur Monate lang! Jm Spaͤtſom- mer hatt’ ich ſie kennen gelernt und wie der naͤchſte Fruͤh- ling kam, legte ſie ſich unter die Blumen und ſtarb. Das Nervenfieber hatte ſie ſchnell hinweggerafft. Sie ſtarb mit Bewußtſein und wie eine Seherin, vor der ganze kommende Jahre und Zeiten ſich aufrollen. „Jch muß Dich allein laſſen,“ ſagte ſie, „damit Du Dein Herz an keinen einzelnen Menſchen mehr haͤngſt, ſondern an die ganze Menſchheit — Deine einzige Geliebte ſei nur die Freiheit!“ — So hab’ ich mich fuͤgen lernen in das herbe Geſchick und habe den Schmerz uͤberwunden — aber die ſuͤße Erinnerung halt’ ich feſt.“
Mutter Eva ſtreichelte liebevoll die Wangen ihres
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geiſtigſtark oder wiſſensreich oder einfaͤltiglich waren, wenn
ſie nur wie Du ſelber ſagſt — aber im hoͤchſten Sinne
„Gott vor Augen und im Herzen trugen“ — aber an
mich hatte ſie ihr ganzes Herz hingegeben und ich habe
ihr immer viel von Dir erzaͤhlen muͤſſen. Sie war auch
nicht gar ſo hochgeboren, wie Du vielleicht denkſt. Jhr
Vater war ein Buchhaͤndler, der auch aus dem Volke
aus Armuth und Duͤrftigkeit hervorgegangen war, und es
durch Fleiß, Ausdauer und Gluͤck zugleich bis zum reichen
angeſehenen Manne gebracht hatte. Es iſt derſelbe Buch-
haͤndler, fuͤr welchen ich hier das Buch ſchreiben will.
Sieh nun, dieſe Aurora hab’ ich geliebt und bin mit ihr
gluͤcklich geweſen — ach! nur Monate lang! Jm Spaͤtſom-
mer hatt’ ich ſie kennen gelernt und wie der naͤchſte Fruͤh-
ling kam, legte ſie ſich unter die Blumen und ſtarb.
Das Nervenfieber hatte ſie ſchnell hinweggerafft. Sie
ſtarb mit Bewußtſein und wie eine Seherin, vor der ganze
kommende Jahre und Zeiten ſich aufrollen. „Jch muß
Dich allein laſſen,“ ſagte ſie, „damit Du Dein Herz an
keinen einzelnen Menſchen mehr haͤngſt, ſondern an die
ganze Menſchheit — Deine einzige Geliebte ſei nur die
Freiheit!“ — So hab’ ich mich fuͤgen lernen in das
herbe Geſchick und habe den Schmerz uͤberwunden —
aber die ſuͤße Erinnerung halt’ ich feſt.“
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Otto-Peters, Louise: Ein Bauernsohn. Leipzig, 1849, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_bauernsohn_1849/191>, abgerufen am 24.11.2024.
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