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Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. München-Gern, 1909.

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Wie verhielt sich der Akademiker bei diesen großen
Veränderungen? Er muß nicht den richtigen Weg einge-
schlagen haben, sonst hätte er nicht das Vertrauen des
Volkes verloren, wäre nicht ein Opfer des Volkswitzes
geworden und - was vor allem bedenklich ist - er wäre
nicht der Spielball moderner Mächte geworden, die seine
Unkenntnis der Praxis zu ihrem Vorteil ausnützen. Der
intelligente Arbeiter versteht vom modernen Leben, vom
richtigen Kämpfen um die Existenz mehr als im Durch-
schnitt der Akademiker. Sonst wäre dieser nicht als Arzt
in ein unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis zu den Kran-
kenkassen gekommen, müßte nicht als Jurist das Mißtrauen
in seine Entscheidungen erleben, müßte nicht als Pfarrer
die Abwendung ganzer Volksklassen von der Kirche untätig
mitansehen, würde nicht als Lehrer der Jugend in die
Karrikatur hineingezogen, müßte nicht als Beamter Dienste
leisten, die mit der akademischen Vorbildung wenig in
Einklang stehen, müßte nicht als Techniker um Hunger-
löhne arbeiten und in Stellungen gehen, wo er ein Hand-
langer und kein mit Geist und Ueberlegung arbeitender
Mensch ist. Der Gelehrte von heute wird als Träumer
und Jdealist in Witzblättern verspottet und tatsächlich ver-
läßt der größte Teil der Studierenden mit einer Unkennt-
nis des praktischen Lebens die Universität, durch die
eine große Zahl zur Beute unlauterer Konkurrenz und
proletarischer Armut werden.

Dem Mangel an Zusammenhang mit dem modernen
Leben abhelfen und die Neuentstehung des alten humanisti-
schen Jdeals in modernem Sinne fördern, das will die
Freie Studentenschaft. Jhre Organisationsform selber ist
modern - Vertretung der Masse (aber wohlgemerkt nicht
des Einzelnen in der Masse, sondern der Gesamtheit),
Neutralität in politischen und religiösen Dingen, Wahl

Wie verhielt sich der Akademiker bei diesen großen
Veränderungen? Er muß nicht den richtigen Weg einge-
schlagen haben, sonst hätte er nicht das Vertrauen des
Volkes verloren, wäre nicht ein Opfer des Volkswitzes
geworden und – was vor allem bedenklich ist – er wäre
nicht der Spielball moderner Mächte geworden, die seine
Unkenntnis der Praxis zu ihrem Vorteil ausnützen. Der
intelligente Arbeiter versteht vom modernen Leben, vom
richtigen Kämpfen um die Existenz mehr als im Durch-
schnitt der Akademiker. Sonst wäre dieser nicht als Arzt
in ein unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis zu den Kran-
kenkassen gekommen, müßte nicht als Jurist das Mißtrauen
in seine Entscheidungen erleben, müßte nicht als Pfarrer
die Abwendung ganzer Volksklassen von der Kirche untätig
mitansehen, würde nicht als Lehrer der Jugend in die
Karrikatur hineingezogen, müßte nicht als Beamter Dienste
leisten, die mit der akademischen Vorbildung wenig in
Einklang stehen, müßte nicht als Techniker um Hunger-
löhne arbeiten und in Stellungen gehen, wo er ein Hand-
langer und kein mit Geist und Ueberlegung arbeitender
Mensch ist. Der Gelehrte von heute wird als Träumer
und Jdealist in Witzblättern verspottet und tatsächlich ver-
läßt der größte Teil der Studierenden mit einer Unkennt-
nis des praktischen Lebens die Universität, durch die
eine große Zahl zur Beute unlauterer Konkurrenz und
proletarischer Armut werden.

Dem Mangel an Zusammenhang mit dem modernen
Leben abhelfen und die Neuentstehung des alten humanisti-
schen Jdeals in modernem Sinne fördern, das will die
Freie Studentenschaft. Jhre Organisationsform selber ist
modern – Vertretung der Masse (aber wohlgemerkt nicht
des Einzelnen in der Masse, sondern der Gesamtheit),
Neutralität in politischen und religiösen Dingen, Wahl

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[30/0029] Wie verhielt sich der Akademiker bei diesen großen Veränderungen? Er muß nicht den richtigen Weg einge- schlagen haben, sonst hätte er nicht das Vertrauen des Volkes verloren, wäre nicht ein Opfer des Volkswitzes geworden und – was vor allem bedenklich ist – er wäre nicht der Spielball moderner Mächte geworden, die seine Unkenntnis der Praxis zu ihrem Vorteil ausnützen. Der intelligente Arbeiter versteht vom modernen Leben, vom richtigen Kämpfen um die Existenz mehr als im Durch- schnitt der Akademiker. Sonst wäre dieser nicht als Arzt in ein unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis zu den Kran- kenkassen gekommen, müßte nicht als Jurist das Mißtrauen in seine Entscheidungen erleben, müßte nicht als Pfarrer die Abwendung ganzer Volksklassen von der Kirche untätig mitansehen, würde nicht als Lehrer der Jugend in die Karrikatur hineingezogen, müßte nicht als Beamter Dienste leisten, die mit der akademischen Vorbildung wenig in Einklang stehen, müßte nicht als Techniker um Hunger- löhne arbeiten und in Stellungen gehen, wo er ein Hand- langer und kein mit Geist und Ueberlegung arbeitender Mensch ist. Der Gelehrte von heute wird als Träumer und Jdealist in Witzblättern verspottet und tatsächlich ver- läßt der größte Teil der Studierenden mit einer Unkennt- nis des praktischen Lebens die Universität, durch die eine große Zahl zur Beute unlauterer Konkurrenz und proletarischer Armut werden. Dem Mangel an Zusammenhang mit dem modernen Leben abhelfen und die Neuentstehung des alten humanisti- schen Jdeals in modernem Sinne fördern, das will die Freie Studentenschaft. Jhre Organisationsform selber ist modern – Vertretung der Masse (aber wohlgemerkt nicht des Einzelnen in der Masse, sondern der Gesamtheit), Neutralität in politischen und religiösen Dingen, Wahl

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Zitationshilfe: Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. München-Gern, 1909, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ohr_studentin_1909/29>, abgerufen am 24.11.2024.