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Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

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unbedeutend, wenn man nicht einen höhern
Sinn für die geheimere Bildung seines edlen
Gesichts und die ungewöhnliche Klarheit seiner
Augen mitbrachte. Je länger man ihn an¬
sah, desto anziehender ward er, und man
konnte sich kaum wieder von ihm trennen,
wenn man seine sanfte, eindringende Stimme
und seine anmuthige Gabe zu sprechen hörte.
Eines Tages hatte die Prinzessin, deren Lust¬
gärten an den Wald stießen, der das Land¬
gut des Alten in einem kleinen Thale ver¬
barg, sich allein zu Pferde in den Wald be¬
geben, um desto ungestörter ihren Fantasien
nachhängen und einige schöne Gesänge sich
wiederhohlen zu können. Die Frische des
hohen Waldes lockte sie immer tiefer in seine
Schatten, und so kam sie endlich an das
Landgut, wo der Alte mit seinem Sohne
lebte. Es kam ihr die Lust an, Milch zu
trinken, sie stieg ab, band ihr Pferd an ei¬

unbedeutend, wenn man nicht einen höhern
Sinn für die geheimere Bildung ſeines edlen
Geſichts und die ungewöhnliche Klarheit ſeiner
Augen mitbrachte. Je länger man ihn an¬
ſah, deſto anziehender ward er, und man
konnte ſich kaum wieder von ihm trennen,
wenn man ſeine ſanfte, eindringende Stimme
und ſeine anmuthige Gabe zu ſprechen hörte.
Eines Tages hatte die Prinzeſſin, deren Luſt¬
gärten an den Wald ſtießen, der das Land¬
gut des Alten in einem kleinen Thale ver¬
barg, ſich allein zu Pferde in den Wald be¬
geben, um deſto ungeſtörter ihren Fantaſien
nachhängen und einige ſchöne Geſänge ſich
wiederhohlen zu können. Die Friſche des
hohen Waldes lockte ſie immer tiefer in ſeine
Schatten, und ſo kam ſie endlich an das
Landgut, wo der Alte mit ſeinem Sohne
lebte. Es kam ihr die Luſt an, Milch zu
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[68/0076] unbedeutend, wenn man nicht einen höhern Sinn für die geheimere Bildung ſeines edlen Geſichts und die ungewöhnliche Klarheit ſeiner Augen mitbrachte. Je länger man ihn an¬ ſah, deſto anziehender ward er, und man konnte ſich kaum wieder von ihm trennen, wenn man ſeine ſanfte, eindringende Stimme und ſeine anmuthige Gabe zu ſprechen hörte. Eines Tages hatte die Prinzeſſin, deren Luſt¬ gärten an den Wald ſtießen, der das Land¬ gut des Alten in einem kleinen Thale ver¬ barg, ſich allein zu Pferde in den Wald be¬ geben, um deſto ungeſtörter ihren Fantaſien nachhängen und einige ſchöne Geſänge ſich wiederhohlen zu können. Die Friſche des hohen Waldes lockte ſie immer tiefer in ſeine Schatten, und ſo kam ſie endlich an das Landgut, wo der Alte mit ſeinem Sohne lebte. Es kam ihr die Luſt an, Milch zu trinken, ſie ſtieg ab, band ihr Pferd an ei¬

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Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/76>, abgerufen am 23.11.2024.