Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

und beschwerlichen Formeln, und können froh
seyn, nur für uns selbst eine brauchbare Vor¬
schrift zu finden, die uns hinlängliche Auf¬
schlüsse über unser eigenes kurzes Leben ver¬
schafft. Ich darf aber wohl sagen, daß jede
sorgfältige Betrachtung der Schicksale des
Lebens einen tiefen, unerschöpflichen Genuß
gewährt, und unter allen Gedanken uns am
meisten über die irdischen Übel erhebt. Die
Jugend liest die Geschichte nur aus Neugier,
wie ein unterhaltendes Mährchen; dem rei¬
feren Alter wird sie eine himmlische tröstende
und erbauende Freundinn, die ihn durch ihre
weisen Gespräche sanft zu einer höheren, um¬
fassenderen Laufbahn vorbereitet, und mit der
unbekannten Welt ihn in faßlichen Bildern
bekannt macht. Die Kirche ist das Wohn¬
haus der Geschichte, und der stille Hof ihr
sinnbildlicher Blumengarten. Von der Ge¬
schichte sollten nur alte, gottesfürchtige Leute

und beſchwerlichen Formeln, und können froh
ſeyn, nur für uns ſelbſt eine brauchbare Vor¬
ſchrift zu finden, die uns hinlängliche Auf¬
ſchlüſſe über unſer eigenes kurzes Leben ver¬
ſchafft. Ich darf aber wohl ſagen, daß jede
ſorgfältige Betrachtung der Schickſale des
Lebens einen tiefen, unerſchöpflichen Genuß
gewährt, und unter allen Gedanken uns am
meiſten über die irdiſchen Übel erhebt. Die
Jugend lieſt die Geſchichte nur aus Neugier,
wie ein unterhaltendes Mährchen; dem rei¬
feren Alter wird ſie eine himmliſche tröſtende
und erbauende Freundinn, die ihn durch ihre
weiſen Geſpräche ſanft zu einer höheren, um¬
faſſenderen Laufbahn vorbereitet, und mit der
unbekannten Welt ihn in faßlichen Bildern
bekannt macht. Die Kirche iſt das Wohn¬
haus der Geſchichte, und der ſtille Hof ihr
ſinnbildlicher Blumengarten. Von der Ge¬
ſchichte ſollten nur alte, gottesfürchtige Leute

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0186" n="178"/>
und be&#x017F;chwerlichen Formeln, und können froh<lb/>
&#x017F;eyn, nur für uns &#x017F;elb&#x017F;t eine brauchbare Vor¬<lb/>
&#x017F;chrift zu finden, die uns hinlängliche Auf¬<lb/>
&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e über un&#x017F;er eigenes kurzes Leben ver¬<lb/>
&#x017F;chafft. Ich darf aber wohl &#x017F;agen, daß jede<lb/>
&#x017F;orgfältige Betrachtung der Schick&#x017F;ale des<lb/>
Lebens einen tiefen, uner&#x017F;chöpflichen Genuß<lb/>
gewährt, und unter allen Gedanken uns am<lb/>
mei&#x017F;ten über die irdi&#x017F;chen Übel erhebt. Die<lb/>
Jugend lie&#x017F;t die Ge&#x017F;chichte nur aus Neugier,<lb/>
wie ein unterhaltendes Mährchen; dem rei¬<lb/>
feren Alter wird &#x017F;ie eine himmli&#x017F;che trö&#x017F;tende<lb/>
und erbauende Freundinn, die ihn durch ihre<lb/>
wei&#x017F;en Ge&#x017F;präche &#x017F;anft zu einer höheren, um¬<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;enderen Laufbahn vorbereitet, und mit der<lb/>
unbekannten Welt ihn in faßlichen Bildern<lb/>
bekannt macht. Die Kirche i&#x017F;t das Wohn¬<lb/>
haus der Ge&#x017F;chichte, und der &#x017F;tille Hof ihr<lb/>
&#x017F;innbildlicher Blumengarten. Von der Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte &#x017F;ollten nur alte, gottesfürchtige Leute<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0186] und beſchwerlichen Formeln, und können froh ſeyn, nur für uns ſelbſt eine brauchbare Vor¬ ſchrift zu finden, die uns hinlängliche Auf¬ ſchlüſſe über unſer eigenes kurzes Leben ver¬ ſchafft. Ich darf aber wohl ſagen, daß jede ſorgfältige Betrachtung der Schickſale des Lebens einen tiefen, unerſchöpflichen Genuß gewährt, und unter allen Gedanken uns am meiſten über die irdiſchen Übel erhebt. Die Jugend lieſt die Geſchichte nur aus Neugier, wie ein unterhaltendes Mährchen; dem rei¬ feren Alter wird ſie eine himmliſche tröſtende und erbauende Freundinn, die ihn durch ihre weiſen Geſpräche ſanft zu einer höheren, um¬ faſſenderen Laufbahn vorbereitet, und mit der unbekannten Welt ihn in faßlichen Bildern bekannt macht. Die Kirche iſt das Wohn¬ haus der Geſchichte, und der ſtille Hof ihr ſinnbildlicher Blumengarten. Von der Ge¬ ſchichte ſollten nur alte, gottesfürchtige Leute

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/186
Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/186>, abgerufen am 04.05.2024.