Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.bende Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, bende Vorfaͤlle und Menſchen durch Sarkasmen zu verleiden, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="200"/> bende Vorfaͤlle und Menſchen durch Sarkasmen zu verleiden,<lb/> und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht<lb/> war wegen ſeines mathematiſchen Gehorſams und ſeiner Frech¬<lb/> heit ihr Liebling geworden. Sie freuten ſich, daß es ſich eher<lb/> zerbrechen ließ, als daß es mit Farben geſpielt haͤtte, und ſo<lb/> benannten ſie nach ihm ihr großes Geſchaͤft, Aufklaͤrung. In<lb/> Deutſchland betrieb man dieſes Geſchaͤft gruͤndlicher, man re¬<lb/> formirte das Erziehungsweſen, man ſuchte der alten Religion<lb/> einen neuern vernuͤnftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem<lb/> man alles Wunderbare und Geheimnißvolle ſorgfaͤltig von ihr<lb/> abwuſch; alle Gelehrſamkeit ward aufgeboten um die Zuflucht<lb/> zur Geſchichte abzuſchneiden, indem man die Geſchichte zu einem<lb/> haͤuslichen und buͤrgerlichen Sitten- und Familien-Gemaͤhlde zu<lb/> veredeln ſich bemuͤhte. — Gott wurde zum muͤßigen Zuſchauer<lb/> des großen ruͤhrenden Schauſpiels, das die Gelehrten auffuͤhr¬<lb/> ten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feier¬<lb/> lich bewirthen und bewundern ſollte. Das gemeine Volk<lb/> wurde recht mit Vorliebe aufgeklaͤrt, und zu jenem gebildeten<lb/> Enthuſiasmus erzogen, und ſo entſtand eine neue europaͤiſche<lb/> Zunft: die Philantropen und Aufklaͤrer. Schade daß die Na¬<lb/> tur ſo wunderbar und unbegreiflich, ſo poetiſch und unendlich<lb/> blieb, allen Bemuͤhungen ſie zu moderniſiren zum Trotz. Duckte<lb/> ſich ja irgendwo ein alter Aberglaube an eine hoͤhere Welt<lb/> und ſonſt auf, ſo wurde gleich von allen Seiten Laͤrm gebla¬<lb/> ſen, und wo moͤglich der gefaͤhrliche Funke durch Philoſophie<lb/> und Witz in der Aſche erſtickt; dennoch war Toleranz das Lo¬<lb/> ſungswort der Gebildeten, und beſonders in Frankreich gleich¬<lb/> bedeutend mit Philoſophie. Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt dieſe Ge¬<lb/> ſchichte des modernen Unglaubens, und der Schluͤſſel zu allen<lb/> ungeheuren Phaͤnomenen der neuern Zeit. Erſt in dieſem Jahr¬<lb/> hundert und beſonders in ſeiner letzten Haͤlfte beginnt ſie und<lb/> waͤchſt in kurzer Zeit zu einer unuͤberſehlichen Groͤße und Man¬<lb/> nigfaltigkeit; eine zweite Reformation, eine umfaſſendere <choice><sic>uud</sic><corr>und</corr></choice><lb/> eigenthuͤmlichere war unvermeidlich, und mußte das Land<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [200/0022]
bende Vorfaͤlle und Menſchen durch Sarkasmen zu verleiden,
und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht
war wegen ſeines mathematiſchen Gehorſams und ſeiner Frech¬
heit ihr Liebling geworden. Sie freuten ſich, daß es ſich eher
zerbrechen ließ, als daß es mit Farben geſpielt haͤtte, und ſo
benannten ſie nach ihm ihr großes Geſchaͤft, Aufklaͤrung. In
Deutſchland betrieb man dieſes Geſchaͤft gruͤndlicher, man re¬
formirte das Erziehungsweſen, man ſuchte der alten Religion
einen neuern vernuͤnftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem
man alles Wunderbare und Geheimnißvolle ſorgfaͤltig von ihr
abwuſch; alle Gelehrſamkeit ward aufgeboten um die Zuflucht
zur Geſchichte abzuſchneiden, indem man die Geſchichte zu einem
haͤuslichen und buͤrgerlichen Sitten- und Familien-Gemaͤhlde zu
veredeln ſich bemuͤhte. — Gott wurde zum muͤßigen Zuſchauer
des großen ruͤhrenden Schauſpiels, das die Gelehrten auffuͤhr¬
ten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feier¬
lich bewirthen und bewundern ſollte. Das gemeine Volk
wurde recht mit Vorliebe aufgeklaͤrt, und zu jenem gebildeten
Enthuſiasmus erzogen, und ſo entſtand eine neue europaͤiſche
Zunft: die Philantropen und Aufklaͤrer. Schade daß die Na¬
tur ſo wunderbar und unbegreiflich, ſo poetiſch und unendlich
blieb, allen Bemuͤhungen ſie zu moderniſiren zum Trotz. Duckte
ſich ja irgendwo ein alter Aberglaube an eine hoͤhere Welt
und ſonſt auf, ſo wurde gleich von allen Seiten Laͤrm gebla¬
ſen, und wo moͤglich der gefaͤhrliche Funke durch Philoſophie
und Witz in der Aſche erſtickt; dennoch war Toleranz das Lo¬
ſungswort der Gebildeten, und beſonders in Frankreich gleich¬
bedeutend mit Philoſophie. Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt dieſe Ge¬
ſchichte des modernen Unglaubens, und der Schluͤſſel zu allen
ungeheuren Phaͤnomenen der neuern Zeit. Erſt in dieſem Jahr¬
hundert und beſonders in ſeiner letzten Haͤlfte beginnt ſie und
waͤchſt in kurzer Zeit zu einer unuͤberſehlichen Groͤße und Man¬
nigfaltigkeit; eine zweite Reformation, eine umfaſſendere und
eigenthuͤmlichere war unvermeidlich, und mußte das Land
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