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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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unter den mannichfachen Verfolgungen seiner bisherigen Art,
seiner zeitigen Personalität. Das Resultat der modernen
Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu
was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall
gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den
katholischen Glauben ging allmählig in Haß gegen die Bibel,
gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Reli¬
gion über. Noch mehr -- der Religions-Haß, dehnte sich
sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthu¬
siasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und
Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der
Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die un¬
endliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klap¬
pern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls ge¬
trieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne
Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum
mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey.

Ein Enthusiasmus ward großmüthig dem armen Men¬
schengeschlechte übrig gelassen und als Prüfstein der höchsten
Bildung jedem Actionair derselben unentbehrlich gemacht. --
Der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie
und insbesondere für ihre Priester und ihre Mystagogen.
Frankreich war so glücklich der Schooß und der Sitz dieses
neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammen
geklebt war. So verschrien die Poesie in dieser neuen Kirche
war, so gab es doch einige Poeten darunter, die des Effekts
wegen, noch des alten Schmucks und der alten Lichter sich be¬
dienten, aber dabei in Gefahr kamen, das neue Weltsystem mit
altem Feuer zu entzünden. Klügere Mitglieder wußten je¬
doch die schon warmgewordenen Zuhörer sogleich wieder mit
kaltem Wasser zu begießen. Die Mitglieder waren rastlos be¬
schäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen
und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, -- jede
Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhe¬

unter den mannichfachen Verfolgungen ſeiner bisherigen Art,
ſeiner zeitigen Perſonalitaͤt. Das Reſultat der modernen
Denkungsart nannte man Philoſophie und rechnete alles dazu
was dem Alten entgegen war, vorzuͤglich alſo jeden Einfall
gegen die Religion. Der anfaͤngliche Perſonalhaß gegen den
katholiſchen Glauben ging allmaͤhlig in Haß gegen die Bibel,
gegen den chriſtlichen Glauben und endlich gar gegen die Reli¬
gion uͤber. Noch mehr — der Religions-Haß, dehnte ſich
ſehr natuͤrlich und folgerecht auf alle Gegenſtaͤnde des Enthu¬
ſiasmus aus, verketzerte Fantaſie und Gefuͤhl, Sittlichkeit und
Kunſtliebe, Zukunft und Vorzeit, ſetzte den Menſchen in der
Reihe der Naturweſen mit Noth oben an, und machte die un¬
endliche ſchoͤpferiſche Muſik des Weltalls zum einfoͤrmigen Klap¬
pern einer ungeheuren Muͤhle, die vom Strom des Zufalls ge¬
trieben und auf ihm ſchwimmend, eine Muͤhle an ſich, ohne
Baumeiſter und Muͤller und eigentlich ein aͤchtes Perpetuum
mobile, eine ſich ſelbſt mahlende Muͤhle ſey.

Ein Enthuſiasmus ward großmuͤthig dem armen Men¬
ſchengeſchlechte uͤbrig gelaſſen und als Pruͤfſtein der hoͤchſten
Bildung jedem Actionair derſelben unentbehrlich gemacht. —
Der Enthuſiasmus fuͤr dieſe herrliche, großartige Philoſophie
und insbeſondere fuͤr ihre Prieſter und ihre Myſtagogen.
Frankreich war ſo gluͤcklich der Schooß und der Sitz dieſes
neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wiſſen zuſammen
geklebt war. So verſchrien die Poeſie in dieſer neuen Kirche
war, ſo gab es doch einige Poeten darunter, die des Effekts
wegen, noch des alten Schmucks und der alten Lichter ſich be¬
dienten, aber dabei in Gefahr kamen, das neue Weltſyſtem mit
altem Feuer zu entzuͤnden. Kluͤgere Mitglieder wußten je¬
doch die ſchon warmgewordenen Zuhoͤrer ſogleich wieder mit
kaltem Waſſer zu begießen. Die Mitglieder waren raſtlos be¬
ſchaͤftigt, die Natur, den Erdboden, die menſchlichen Seelen
und die Wiſſenſchaften von der Poeſie zu ſaͤubern, — jede
Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhe¬

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[199/0021] unter den mannichfachen Verfolgungen ſeiner bisherigen Art, ſeiner zeitigen Perſonalitaͤt. Das Reſultat der modernen Denkungsart nannte man Philoſophie und rechnete alles dazu was dem Alten entgegen war, vorzuͤglich alſo jeden Einfall gegen die Religion. Der anfaͤngliche Perſonalhaß gegen den katholiſchen Glauben ging allmaͤhlig in Haß gegen die Bibel, gegen den chriſtlichen Glauben und endlich gar gegen die Reli¬ gion uͤber. Noch mehr — der Religions-Haß, dehnte ſich ſehr natuͤrlich und folgerecht auf alle Gegenſtaͤnde des Enthu¬ ſiasmus aus, verketzerte Fantaſie und Gefuͤhl, Sittlichkeit und Kunſtliebe, Zukunft und Vorzeit, ſetzte den Menſchen in der Reihe der Naturweſen mit Noth oben an, und machte die un¬ endliche ſchoͤpferiſche Muſik des Weltalls zum einfoͤrmigen Klap¬ pern einer ungeheuren Muͤhle, die vom Strom des Zufalls ge¬ trieben und auf ihm ſchwimmend, eine Muͤhle an ſich, ohne Baumeiſter und Muͤller und eigentlich ein aͤchtes Perpetuum mobile, eine ſich ſelbſt mahlende Muͤhle ſey. Ein Enthuſiasmus ward großmuͤthig dem armen Men¬ ſchengeſchlechte uͤbrig gelaſſen und als Pruͤfſtein der hoͤchſten Bildung jedem Actionair derſelben unentbehrlich gemacht. — Der Enthuſiasmus fuͤr dieſe herrliche, großartige Philoſophie und insbeſondere fuͤr ihre Prieſter und ihre Myſtagogen. Frankreich war ſo gluͤcklich der Schooß und der Sitz dieſes neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wiſſen zuſammen geklebt war. So verſchrien die Poeſie in dieſer neuen Kirche war, ſo gab es doch einige Poeten darunter, die des Effekts wegen, noch des alten Schmucks und der alten Lichter ſich be¬ dienten, aber dabei in Gefahr kamen, das neue Weltſyſtem mit altem Feuer zu entzuͤnden. Kluͤgere Mitglieder wußten je¬ doch die ſchon warmgewordenen Zuhoͤrer ſogleich wieder mit kaltem Waſſer zu begießen. Die Mitglieder waren raſtlos be¬ ſchaͤftigt, die Natur, den Erdboden, die menſchlichen Seelen und die Wiſſenſchaften von der Poeſie zu ſaͤubern, — jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhe¬

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/21>, abgerufen am 29.03.2024.