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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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denstiftende Gesellschaft, alle Menschen dieses schönen Glau¬
bens theilhaftig zu machen und sandte ihre Genossen, in alle
Welttheile, um überall das Evangelium des Lebens zu ver¬
kündigen, und das Himmelreich zum einzigen Reiche auf dieser
Welt zu machen. Mit Recht widersetzte sich das weise Ober¬
haupt der Kirche, frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen
auf Kosten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefährlichen
Entdeckungen, im Gebiete des Wissens. So wehrte er den
kühnen Denkern öffentlich zu behaupten, daß die Erde ein un¬
bedeutender Wandelstern sey, denn er wußte wohl, daß die
Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und ihr irdisches
Vaterland, auch die Achtung vor der himmlischen Heimath und
ihrem Geschlecht verlieren, und das eingeschränkte Wissen dem
unendlichen Glauben vorziehn und sich gewöhnen würden alles
Große und Wunderwürdige zu verachten, und als todte Ge¬
setzwirkung zu betrachten. An seinem Hofe versammelten sich
alle klugen und ehrwürdigen Menschen aus Europa. Alle
Schätze flossen dahin, das zerstörte Jerusalem hatte sich ge¬
rächt, und Rom selbst war Jerusalem, die heilige Residenz der
göttlichen Regierung auf Erden geworden. Fürsten legten ihre
Streitigkeiten dem Vater der Christenheit vor, willig ihm ihre
Kronen und ihre Herrlichkeit zu Füßen, ja sie achteten es sich
zum Ruhm, als Mitglieder dieser hohen Zunft, den Abend ih¬
res Lebens in göttlichen Betrachtungen zwischen einsamen Klo¬
stermauern zu beschließen. Wie wohlthätig, wie angemessen,
der innern Natur der Menschen, diese Regierung, diese Ein¬
richtung war, zeigte das gewaltige Emporstreben, aller andern
menschlichen Kräfte, die harmonische Entwickelung aller Anla¬
gen; die ungeheure Höhe, die einzelne Menschen in allen
Fächern der Wissenschaften des Lebens und der Künste erreich¬
ten und der überall blühende Handelsverkehr mit geistigen und
irdischen Waaren, in dem Umkreis von Europa und bis in das
fernste Indien hinaus. --

denſtiftende Geſellſchaft, alle Menſchen dieſes ſchoͤnen Glau¬
bens theilhaftig zu machen und ſandte ihre Genoſſen, in alle
Welttheile, um uͤberall das Evangelium des Lebens zu ver¬
kuͤndigen, und das Himmelreich zum einzigen Reiche auf dieſer
Welt zu machen. Mit Recht widerſetzte ſich das weiſe Ober¬
haupt der Kirche, frechen Ausbildungen menſchlicher Anlagen
auf Koſten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefaͤhrlichen
Entdeckungen, im Gebiete des Wiſſens. So wehrte er den
kuͤhnen Denkern oͤffentlich zu behaupten, daß die Erde ein un¬
bedeutender Wandelſtern ſey, denn er wußte wohl, daß die
Menſchen mit der Achtung fuͤr ihren Wohnſitz und ihr irdiſches
Vaterland, auch die Achtung vor der himmliſchen Heimath und
ihrem Geſchlecht verlieren, und das eingeſchraͤnkte Wiſſen dem
unendlichen Glauben vorziehn und ſich gewoͤhnen wuͤrden alles
Große und Wunderwuͤrdige zu verachten, und als todte Ge¬
ſetzwirkung zu betrachten. An ſeinem Hofe verſammelten ſich
alle klugen und ehrwuͤrdigen Menſchen aus Europa. Alle
Schaͤtze floſſen dahin, das zerſtoͤrte Jeruſalem hatte ſich ge¬
raͤcht, und Rom ſelbſt war Jeruſalem, die heilige Reſidenz der
goͤttlichen Regierung auf Erden geworden. Fuͤrſten legten ihre
Streitigkeiten dem Vater der Chriſtenheit vor, willig ihm ihre
Kronen und ihre Herrlichkeit zu Fuͤßen, ja ſie achteten es ſich
zum Ruhm, als Mitglieder dieſer hohen Zunft, den Abend ih¬
res Lebens in goͤttlichen Betrachtungen zwiſchen einſamen Klo¬
ſtermauern zu beſchließen. Wie wohlthaͤtig, wie angemeſſen,
der innern Natur der Menſchen, dieſe Regierung, dieſe Ein¬
richtung war, zeigte das gewaltige Emporſtreben, aller andern
menſchlichen Kraͤfte, die harmoniſche Entwickelung aller Anla¬
gen; die ungeheure Hoͤhe, die einzelne Menſchen in allen
Faͤchern der Wiſſenſchaften des Lebens und der Kuͤnſte erreich¬
ten und der uͤberall bluͤhende Handelsverkehr mit geiſtigen und
irdiſchen Waaren, in dem Umkreis von Europa und bis in das
fernſte Indien hinaus. —

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[191/0013] denſtiftende Geſellſchaft, alle Menſchen dieſes ſchoͤnen Glau¬ bens theilhaftig zu machen und ſandte ihre Genoſſen, in alle Welttheile, um uͤberall das Evangelium des Lebens zu ver¬ kuͤndigen, und das Himmelreich zum einzigen Reiche auf dieſer Welt zu machen. Mit Recht widerſetzte ſich das weiſe Ober¬ haupt der Kirche, frechen Ausbildungen menſchlicher Anlagen auf Koſten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefaͤhrlichen Entdeckungen, im Gebiete des Wiſſens. So wehrte er den kuͤhnen Denkern oͤffentlich zu behaupten, daß die Erde ein un¬ bedeutender Wandelſtern ſey, denn er wußte wohl, daß die Menſchen mit der Achtung fuͤr ihren Wohnſitz und ihr irdiſches Vaterland, auch die Achtung vor der himmliſchen Heimath und ihrem Geſchlecht verlieren, und das eingeſchraͤnkte Wiſſen dem unendlichen Glauben vorziehn und ſich gewoͤhnen wuͤrden alles Große und Wunderwuͤrdige zu verachten, und als todte Ge¬ ſetzwirkung zu betrachten. An ſeinem Hofe verſammelten ſich alle klugen und ehrwuͤrdigen Menſchen aus Europa. Alle Schaͤtze floſſen dahin, das zerſtoͤrte Jeruſalem hatte ſich ge¬ raͤcht, und Rom ſelbſt war Jeruſalem, die heilige Reſidenz der goͤttlichen Regierung auf Erden geworden. Fuͤrſten legten ihre Streitigkeiten dem Vater der Chriſtenheit vor, willig ihm ihre Kronen und ihre Herrlichkeit zu Fuͤßen, ja ſie achteten es ſich zum Ruhm, als Mitglieder dieſer hohen Zunft, den Abend ih¬ res Lebens in goͤttlichen Betrachtungen zwiſchen einſamen Klo¬ ſtermauern zu beſchließen. Wie wohlthaͤtig, wie angemeſſen, der innern Natur der Menſchen, dieſe Regierung, dieſe Ein¬ richtung war, zeigte das gewaltige Emporſtreben, aller andern menſchlichen Kraͤfte, die harmoniſche Entwickelung aller Anla¬ gen; die ungeheure Hoͤhe, die einzelne Menſchen in allen Faͤchern der Wiſſenſchaften des Lebens und der Kuͤnſte erreich¬ ten und der uͤberall bluͤhende Handelsverkehr mit geiſtigen und irdiſchen Waaren, in dem Umkreis von Europa und bis in das fernſte Indien hinaus. —

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/13>, abgerufen am 28.03.2024.