Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.lich auf eine sichre Gelangung und Landung an der Küste der Die wildesten, gefräßigsten Neigungen mußten der Ehr¬ lich auf eine ſichre Gelangung und Landung an der Kuͤſte der Die wildeſten, gefraͤßigſten Neigungen mußten der Ehr¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0012" n="190"/> lich auf eine ſichre Gelangung und Landung an der Kuͤſte der<lb/> eigentlichen vaterlaͤndiſchen Welt rechnen durfte.</p><lb/> <p>Die wildeſten, gefraͤßigſten Neigungen mußten der Ehr¬<lb/> furcht und dem Gehorſam gegen ihre Worte weichen. Friede<lb/> ging von ihnen aus. — Sie predigten nichts als Liebe zu der<lb/> heiligen, wunderſchoͤnen Frau der Chriſtenheit, die mit goͤttli¬<lb/> chen Kraͤften verſehen, jeden Glaͤubigen aus den ſchrecklichſten<lb/> Gefahren zu retten bereit war. Sie erzaͤhlten von laͤngſt ver¬<lb/> ſtorbenen himmliſchen Menſchen, die durch Anhaͤnglichkeit und<lb/> Treue an jene ſelige Mutter und ihr himmliſches, freundliches<lb/> Kind, die Verſuchung der irdiſchen Welt beſtanden, zu goͤttli¬<lb/> chen Ehren gelangt und nun ſchuͤtzende, wohlthaͤtige Maͤchte<lb/> ihrer lebenden Bruͤder, willige Helfer in der Noth, Vertreter<lb/> menſchlicher Gebrechen und wirkſame Freunde der Menſchheit<lb/> am himmliſchen Throne geworden waren. Mit welcher Hei¬<lb/> terkeit verließ man die ſchoͤnen Verſammlungen in den geheim¬<lb/> nißvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geſchmuͤckt,<lb/> mit ſuͤßen Duͤften erfuͤllt, und von heiliger erhebender Muſik<lb/> belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reſte ehemali¬<lb/> ger gottesfuͤrchtiger Menſchen dankbar, in koͤſtlichen Behaͤlt¬<lb/> niſſen aufbewahrt. — Und an ihnen offenbahrte ſich die goͤttli¬<lb/> che Guͤte und Allmacht, die maͤchtige Wohlthaͤtigkeit dieſer<lb/> gluͤcklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. So<lb/> bewahren liebende Seelen, Locken oder Schriftzuͤge ihrer ver¬<lb/> ſtorbenen Geliebten, und naͤhren die ſuͤße Glut damit, bis an<lb/> den wiedervereinigenden Tod. Man ſammelte mit inniger<lb/> Sorgfalt uͤberall was dieſen geliebten Seelen angehoͤrt hatte,<lb/> und jeder pries ſich gluͤcklich der eine ſo troͤſtliche Reliquie er¬<lb/> halten oder nur beruͤhren konnte. Hin und wieder ſchien ſich<lb/> die himmliſche Gnade vorzuͤglich auf ein ſeltſames Bild, oder<lb/> einen Grabhuͤgel niedergelaſſen zu haben. — Dorthin ſtroͤmten<lb/> aus allen Gegenden Menſchen mit ſchoͤnen Gaben und brach¬<lb/> ten himmliſche Gegengeſchenke: Frieden der Seele und Ge¬<lb/> ſundheit des Leibes, zuruͤck. Aemſig ſuchte, dieſe maͤchtige frie¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [190/0012]
lich auf eine ſichre Gelangung und Landung an der Kuͤſte der
eigentlichen vaterlaͤndiſchen Welt rechnen durfte.
Die wildeſten, gefraͤßigſten Neigungen mußten der Ehr¬
furcht und dem Gehorſam gegen ihre Worte weichen. Friede
ging von ihnen aus. — Sie predigten nichts als Liebe zu der
heiligen, wunderſchoͤnen Frau der Chriſtenheit, die mit goͤttli¬
chen Kraͤften verſehen, jeden Glaͤubigen aus den ſchrecklichſten
Gefahren zu retten bereit war. Sie erzaͤhlten von laͤngſt ver¬
ſtorbenen himmliſchen Menſchen, die durch Anhaͤnglichkeit und
Treue an jene ſelige Mutter und ihr himmliſches, freundliches
Kind, die Verſuchung der irdiſchen Welt beſtanden, zu goͤttli¬
chen Ehren gelangt und nun ſchuͤtzende, wohlthaͤtige Maͤchte
ihrer lebenden Bruͤder, willige Helfer in der Noth, Vertreter
menſchlicher Gebrechen und wirkſame Freunde der Menſchheit
am himmliſchen Throne geworden waren. Mit welcher Hei¬
terkeit verließ man die ſchoͤnen Verſammlungen in den geheim¬
nißvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geſchmuͤckt,
mit ſuͤßen Duͤften erfuͤllt, und von heiliger erhebender Muſik
belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reſte ehemali¬
ger gottesfuͤrchtiger Menſchen dankbar, in koͤſtlichen Behaͤlt¬
niſſen aufbewahrt. — Und an ihnen offenbahrte ſich die goͤttli¬
che Guͤte und Allmacht, die maͤchtige Wohlthaͤtigkeit dieſer
gluͤcklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. So
bewahren liebende Seelen, Locken oder Schriftzuͤge ihrer ver¬
ſtorbenen Geliebten, und naͤhren die ſuͤße Glut damit, bis an
den wiedervereinigenden Tod. Man ſammelte mit inniger
Sorgfalt uͤberall was dieſen geliebten Seelen angehoͤrt hatte,
und jeder pries ſich gluͤcklich der eine ſo troͤſtliche Reliquie er¬
halten oder nur beruͤhren konnte. Hin und wieder ſchien ſich
die himmliſche Gnade vorzuͤglich auf ein ſeltſames Bild, oder
einen Grabhuͤgel niedergelaſſen zu haben. — Dorthin ſtroͤmten
aus allen Gegenden Menſchen mit ſchoͤnen Gaben und brach¬
ten himmliſche Gegengeſchenke: Frieden der Seele und Ge¬
ſundheit des Leibes, zuruͤck. Aemſig ſuchte, dieſe maͤchtige frie¬
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