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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 2. Solingen, 1844.

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linge sind! Dann auch als Arzt muß ich für das Tur-
nen reden, weil wir Aerzte für den Leib sorgen sollen,
daß er wohl wachse und gedeihe, nicht bloß daß er ge-
nese, wenn er erkrankte. Zwar haben Könen, Koch, Lo-
rinser es dargethan, daß es Turnen und Leben heißen
müsse: aber es ging damit, wie mit allen Aufforderun-
gen zu guter That, sie wird gebilligt und gepriesen, nur
nicht wiederholt und nicht wiedergethan. Es ist wahr,
Anklang sand die Sache im ganzen Vaterlande, aber
was hilft das bloße Klingen, laßt uns schwingen und
ringen!

Jn der That sind seit der Lorinser'schen Anregung
wieder mehrere Turnplätze entstanden, aber noch immer
nicht genug. Und doch ist das Turnen für alle Jugend
nothwendig, weil die Ansprüche an den Geist so bedeu-
tend sind und die körperliche Erziehung mit diesen nicht
gleichen Schritt hält. Wenn wir noch wie unsere Alt-
vordern im Naturzustande lebten, so hätte unsere Jugend
das Turnen freilich nicht nöthig. Aber nicht genug, daß
schon viele Kinder den Keim zum künftigen Siechthum
von ihren Aeltern mit zur Welt bringen, viele Väter
und Mütter sorgen mit Aengstlichkeit dafür, daß aus
dem schwachen Säuglinge ja ein Marzipanpüppchen
werde, welches dem schönen Erdenleben mit Jammer und
Elend entgegentritt und kaum gegen die unbedingt noth-
wendigen Lebensreize hinreichende Lebenskraft besitzt.
Wenn das, oft nur in enger Stubenluft bis zum 6. Jahre
gehegte und gepflegte Kind das Aelternhaus zuerst ver-
läßt, bestimmt man es zum sechsstündigen täglichen Bank-
rutschen. Kehrt es darauf artig gleich wieder heim, so
wird es gefüttert und genudelt, als hätte es zehn Tage
die Hungerkur gebraucht. Macht sich in ihm aber das
körperliche Bedürfniß nach Gottes freier Luft rege, tum-
melt es sich unter frohen Spielen, und vergißt das
A B C und das Heimkehren, so sehen manche Aeltern
darin nur den großen Hang zur Unordnung, nicht aber
das Lebensverlangen nach Körperbewegung und gesunder

linge ſind! Dann auch als Arzt muß ich für das Tur-
nen reden, weil wir Aerzte für den Leib ſorgen ſollen,
daß er wohl wachſe und gedeihe, nicht bloß daß er ge-
neſe, wenn er erkrankte. Zwar haben Könen, Koch, Lo-
rinſer es dargethan, daß es Turnen und Leben heißen
müſſe: aber es ging damit, wie mit allen Aufforderun-
gen zu guter That, ſie wird gebilligt und geprieſen, nur
nicht wiederholt und nicht wiedergethan. Es iſt wahr,
Anklang ſand die Sache im ganzen Vaterlande, aber
was hilft das bloße Klingen, laßt uns ſchwingen und
ringen!

Jn der That ſind ſeit der Lorinſer’ſchen Anregung
wieder mehrere Turnplätze entſtanden, aber noch immer
nicht genug. Und doch iſt das Turnen für alle Jugend
nothwendig, weil die Anſprüche an den Geiſt ſo bedeu-
tend ſind und die körperliche Erziehung mit dieſen nicht
gleichen Schritt hält. Wenn wir noch wie unſere Alt-
vordern im Naturzuſtande lebten, ſo hätte unſere Jugend
das Turnen freilich nicht nöthig. Aber nicht genug, daß
ſchon viele Kinder den Keim zum künftigen Siechthum
von ihren Aeltern mit zur Welt bringen, viele Väter
und Mütter ſorgen mit Aengſtlichkeit dafür, daß aus
dem ſchwachen Säuglinge ja ein Marzipanpüppchen
werde, welches dem ſchönen Erdenleben mit Jammer und
Elend entgegentritt und kaum gegen die unbedingt noth-
wendigen Lebensreize hinreichende Lebenskraft beſitzt.
Wenn das, oft nur in enger Stubenluft bis zum 6. Jahre
gehegte und gepflegte Kind das Aelternhaus zuerſt ver-
läßt, beſtimmt man es zum ſechsſtündigen täglichen Bank-
rutſchen. Kehrt es darauf artig gleich wieder heim, ſo
wird es gefüttert und genudelt, als hätte es zehn Tage
die Hungerkur gebraucht. Macht ſich in ihm aber das
körperliche Bedürfniß nach Gottes freier Luft rege, tum-
melt es ſich unter frohen Spielen, und vergißt das
A B C und das Heimkehren, ſo ſehen manche Aeltern
darin nur den großen Hang zur Unordnung, nicht aber
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[6/0010] linge ſind! Dann auch als Arzt muß ich für das Tur- nen reden, weil wir Aerzte für den Leib ſorgen ſollen, daß er wohl wachſe und gedeihe, nicht bloß daß er ge- neſe, wenn er erkrankte. Zwar haben Könen, Koch, Lo- rinſer es dargethan, daß es Turnen und Leben heißen müſſe: aber es ging damit, wie mit allen Aufforderun- gen zu guter That, ſie wird gebilligt und geprieſen, nur nicht wiederholt und nicht wiedergethan. Es iſt wahr, Anklang ſand die Sache im ganzen Vaterlande, aber was hilft das bloße Klingen, laßt uns ſchwingen und ringen! Jn der That ſind ſeit der Lorinſer’ſchen Anregung wieder mehrere Turnplätze entſtanden, aber noch immer nicht genug. Und doch iſt das Turnen für alle Jugend nothwendig, weil die Anſprüche an den Geiſt ſo bedeu- tend ſind und die körperliche Erziehung mit dieſen nicht gleichen Schritt hält. Wenn wir noch wie unſere Alt- vordern im Naturzuſtande lebten, ſo hätte unſere Jugend das Turnen freilich nicht nöthig. Aber nicht genug, daß ſchon viele Kinder den Keim zum künftigen Siechthum von ihren Aeltern mit zur Welt bringen, viele Väter und Mütter ſorgen mit Aengſtlichkeit dafür, daß aus dem ſchwachen Säuglinge ja ein Marzipanpüppchen werde, welches dem ſchönen Erdenleben mit Jammer und Elend entgegentritt und kaum gegen die unbedingt noth- wendigen Lebensreize hinreichende Lebenskraft beſitzt. Wenn das, oft nur in enger Stubenluft bis zum 6. Jahre gehegte und gepflegte Kind das Aelternhaus zuerſt ver- läßt, beſtimmt man es zum ſechsſtündigen täglichen Bank- rutſchen. Kehrt es darauf artig gleich wieder heim, ſo wird es gefüttert und genudelt, als hätte es zehn Tage die Hungerkur gebraucht. Macht ſich in ihm aber das körperliche Bedürfniß nach Gottes freier Luft rege, tum- melt es ſich unter frohen Spielen, und vergißt das A B C und das Heimkehren, ſo ſehen manche Aeltern darin nur den großen Hang zur Unordnung, nicht aber das Lebensverlangen nach Körperbewegung und geſunder

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 2. Solingen, 1844, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst02_1844/10>, abgerufen am 29.03.2024.