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Sonntags-Blatt. Nr. 45. Berlin, 8. November 1868.

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[Beginn Spaltensatz] lange Leid und Freud' getheilt und die früher in allen Dingen einer
Meinung mit mir war, nimmt jetzt häufig Judica's Partei gegen
mich. Werde mich aber von meinem Willen und dem, was ich für
gut und nothwendig erachte, nicht abbringen lassen. Dazu kommt
jetzt wieder die neue Sorge um Hans, da ich noch gar nicht weiß,
wie es nach dem Vorfall mit dem Stiefsohn des Barons mit dem
Unterricht auf dem Schloß werden soll. Welche Noth hat man mit
Kindern, wenn sie erwachsen zu sein beginnen, und ich muß in letzter
Zeit manchmal unwillkürlich denken, daß es nicht einmal meine
eigenen sind. --

    Den 15. August.

Die Andern mögen doch in Manchem wohl Recht gehabt haben.
Meine Natur ist mit den Jahren, und vielleicht grade durch die Er-
eignisse der letzten Jahre, etwas heftig geworden, daß ich wohl dies
oder das in der Aufwallung übersehen.

Der Hofmeister vom Schloß, Herr Sonnewald, war heut bei
mir. Er sagte, daß er von Hohenwerdach fortgehe; seitdem die Ba-
ronin und der im vorigen Jahr geflüchtete Kammerdiener zurück-
gekommen, gefalle ihm das Treiben dort durchaus nicht mehr. Auch
der Baron habe alle Energie, zu der er sich inzwischen aufgerafft,
wieder verloren, und das sei hauptsächlich der Grund seines Weg-
gangs in die Hauptstadt, wo ihm eine gute Stellung geboten, weil
mit dem jungen Baron seit der Rückkehr der Mutter nichts mehr
anzufangen sei. Er wisse bestimmt, daß derselbe im Lauf des Som-
mers mehrere Mädchen aus dem Dorf verführt und fast Allen nach-
gestellt, und daß die Baronin dazu gelacht habe. Dieselbe schäume
vor Wuth über den Schlag, welchen ihr Sohn von Hans empfangen
-- und der jedenfalls mehr als verdient gewesen -- und habe ver-
langt, mein Pflegesohn solle dafür gerichtlich verfolgt werden; allein
fast wider Erwarten habe der Baron in diesem Falle nicht nach-
gegeben, und in einem heftigen Auftritt seinen Willen durchgesetzt.
Seitdem sei er kränklicher, als je; Baron Albert aber gehe in einigen
Tagen zur Universität in die Hauptstadt ab, wo er, zu jedem Stu-
dium total unfähig, den Beruf der Mehrzahl seiner adeligen Genossen
theilen werde, in Saus und Braus Geld und Zeit todtzuschlagen und
zu warten, bis der Tod seines Stiefvaters ihn als Herrn nach Hohen-
werdach zurückrufe.

Herr Sonnewald gab mir den Rath, Hans unbekümmert noch ein
Jahr lang im Hause seinen Privatstudien obliegen zu lassen, da er
die Bürgschaft übernähme, daß derselbe sich in dieser Frist durch seinen
Fleiß und seine Talente vollständig zum Bezug der Hochschule vor-
bereitet haben werde. Auch hinsichtlich Judica's gab er mir mehrere
gute Rathschläge, die im Grundgedanken mit der gestrigen Frage
meiner Frau übereinstimmten, ob ich denn allein blind sei und nicht
sähe, daß unsere Pflegetochter ein erwachsenes Mädchen von seltener
und wunderbarer Schönheit, wie sie es früher als kleines Kind ver-
sprochen, geworden sei, um derenwillen allein sowohl der Doktor
Fabri als der Hofmeister schon seit Jahr und Tag unser Haus so
fleißig besucht hätten. Sie und das alte Sprüchwort haben wohl
Recht: "Kinder werden Leute"; das Alter merkt es nur nicht, was
unter der einförmigen Rinde in den jungen Gemüthern treibt und
aufgeht. Zu Sophie habe ich jedoch gesagt: "Judica sei noch nicht
konfirmirt, und bis dies geschehe, werde ich sie nach alter, guter
Sitte als Kind betrachten."

    Den 1. Januar 1850.

Nur um den alten Brauch fortzusetzen, schreibe ich heut ein paar
Worte. Hans arbeitet mit unausgesetztem Fleiß, damit er zu Ostern,
das in diesem Jahr sehr spät, erst gegen das Ende des April fallen
wird, die Universität beziehen kann, um Arzeneiwissenschaft zu studiren.
Wie er diesen Plan nun seit zehn Jahren unverrückt festgehalten hat,
liegt überhaupt in seinem Wesen etwas Zähes, Hartnäckiges, daß er das,
was er einmal gefaßt hat, nicht wieder aufgiebt, und am wenigsten,
sobald Jemand ihn davon abzubringen sucht. Er erinnert mich oft
lebhaft an seinen Vater, der diesen eigensinnigen Zug ebenfalls, doch
nicht in dem Maße besaß. Ja, es ist ein ehrwürdiges Wort, daß
der Väter Sünden und Tugenden sich forterben bis in's vierte Glied.
Jch wollt' im Stande sein, wie Cuvier aus einem versteinerten Fuß-
knochen ein antediluvianisches Geschöpf aufgebaut hat, aus dem Wesen
Judica's mir ihre Eltern leibhaftig vorzustellen. Sie müssen schön,
heißblütig, leichtsinnig und schwermüthig, bezaubernd und abstoßend,
närrisch und talentvoll gewesen sein, denn das Alles sind Keime, die
wir nicht in die Seele des Mädchens hineinzulegen vermocht, die von
Anbeginn darin geruht und hervorbrechen wie Korn und Unkraut auf
dem Acker, der Landmann mag selbst gesäet haben, was er will.

Es ist nicht die rechte Freudigkeit im Hause, wie in früherer Zeit.
Sophie sagt, ich trüge selber die Schuld daran und sei auch
weniger milde als früher. Gott aber hat mir zwei Seelen anver-
traut -- er helfe mir, ich kann nicht anders. Amen!

[Spaltenumbruch]

    Ostersonntag den 20. April.

Gott helfe mir, ich kann nicht anders. Amen. Jch habe damit
geschlossen und beginne damit. Er wende Alles zum Guten; er lasse
uns seine Wege wandeln im Dunkel.

Jch habe im verwichenen Zeitraum, zwischen Neujahr und Ostern,
nicht zufrieden sein können mit Judica. Sie hat mit den Mädchen
des Dorfes Unterricht für die bevorstehende Konfirmation bei mir
gehabt, allein die Geringste von ihnen hat die zugetheilten Arbeiten
besser geliefert und aufmerksamer Acht gegeben, als sie.

Hatte sie allzeit andere Dinge im Kopf, zeichnete Allotria an den
Rand ihrer Aufsätze und schmierte dieselben, da sie sonst eine feine
und merkwürdig feste Hand schreibt, so unleserlich und gedankenlos
hin, daß ich sie mit äußerster Strenge angehalten, Nachts so lange
aufzusitzen, bis sie den Vortrag, den ich am Morgen beendet, ordentlich
und lesbar zu Papier gebracht. Jst viel dabei geweint worden und
hat's böse Stunden, ja Tage und Wochen im Hause gegeben, da
denn Hans natürlich auch allemal, sobald es einen Auftritt mit
Judica gesetzt, stumm bei Tisch gesessen und höchst ungnädig gewesen,
und gefruchtet hat Alles doch nicht, als Unfrieden und Mißmuth
hervorgerufen, daß ich manchmal einsam auf meinem Zimmer geblieben
und gedacht, daß wir arge Thoren sind, die Schickungen Gottes ver-
bessern zu wollen, und wenn er uns keine Kinder verliehen, fremde
in's Haus zu nehmen zu täglicher Noth und Trübsal an Leib
und Seele.

So ist langsam der Konfirmationstag heut herangekommen, und
ich habe Judica vor'm Altar das Wort aus den Sprüchen Salo-
monis mitgegeben:

"Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn
fürchtet, soll man loben. Sie wird gerühmet werden von den Früchten
ihrer Hände. Sie schauet, wie es in ihrem Hause zugehet, und isset
ihr Brot nicht mit Faulheit."

Jch habe es vor allen Hörern der Kirche mit Ernst und Nach-
druck zu ihr gesprochen, daß sie sehr blaß geworden und so gezittert,
daß ich geglaubt, sie werde umfallen. Hat mich indeß nicht irre ge-
macht, und wie ich nach Hause gekommen, hab' ich sie zu mir rufen
lassen, und wie Niemand gewußt zu sagen, wo sie sei, sie selbst auf-
gesucht. Da ich sie denn zuletzt auf einer Bank im abgelegensten
Winkel des Küchengartens in dem Goethe'schen "Faust" lesend ge-
funden, der vor einem Jahr mit bei dem namenlosen Weihnachts-
paquet für sie gewesen. Weil ich ihr nun schon in den letzten Wochen
öfter gesagt, daß es einer christlichen Konfirmandin vor ihrer Ein-
segnung nicht anstehe, derlei Bücher, die überhaupt für ihr Alter noch
nicht passend seien, zu lesen, ist mir dies als ein offenbarer und
trotziger Ungehorsam erschienen, daß ich ihr sehr zornig das Buch aus
der Hand gerissen und dabei gesehen habe, daß ein Blatt heraus-
gefallen, auf dem als Anrede mit deutlicher Hand: "Meine süße, einzige
Judica" geschrieben stand. Wie ich aber die Hand danach aus-
gestreckt, um das Uebrige zu lesen, hat sie es hastig genommen, an
ihrer Brust verborgen und die Hand daraufgelegt. Da habe ich noch
ziemlich ruhig gefragt, was das bedeute, und sie hat gleichgültig ge-
antwortet, nichts, das Papier sei in dem Buch gewesen, seitdem sie
es bekommen. Es besitze keine Unterschrift und sie wisse nicht, von
wem es sei, keinenfalls von einem Manne. Allein es sei ein Begleit-
brief zu den Geschenken für sie gewesen, und sie werde ihn Nieman-
dem zeigen, am wenigsten mir, nachdem ich ihr in der Kirche solchen
Schimpf angethan.

Da bin ich denn, ob dem Trotz und der Herzenshärtigkeit des
Mädchens, aufgebracht worden, wie niemals noch in meinem Leben,
daß ich kaum mehr Alles weiß, was ich darauf gesagt. Aber ich
habe begonnen, daß sie in schwerem Jrrthum sei, wenn sie meine
Tochter zu sein glaube, daß ich sie aus Gnade und Barmherzigkeit
aufgenommen und sie kein Anrecht an mich oder etwas von mir be-
sitze. Und ich habe hart und erbarmungslos in ihrem Jnnern ge-
wühlt, daß sie ohn' allen Zweifel das Kind einer sündhaften Liebe
und einer verlorenen Mutter sei, und daß sie denselben Weg ein-
schlage, den jene gegangen, da Verstocktheit und Lüge der Anfang zu
allen Lastern und Erniedrigungen wäre. Es werde nicht fürder gehen
mit uns, wenn sie sich nicht zusammennähme und einen anderen,
ehrbaren, der Pflegetochter eines Pastoren, die keine Schauspielerin
oder Kunstreiterin sei, entsprechenderen Wandel beginne. Sie könne
sich darauf verlassen, daß ich zu ihrem zeitlichen und ewigen Heil, das
mir anvertraut worden, meinen Willen durchsetzen und ihre Wider-
spenstigkeit brechen, mir auch das Blatt zu verschaffen wissen werde,
da ich, wenn sie auf ihrer Weigerung beharre, sie von der Mutter
und den Mädchen entkleiden und es ihr mit Gewalt nehmen lasse.
Jch rieth ihr aber, den Brief nicht vorher zu vernichten, da sonst --

Jch weiß nicht mehr, womit ich in meinem Zorn gedroht, der
immer höher stieg, als ich das Mädchen todtenbleich, mit fest zu-
sammengepreßten Lippen, aber unbeweglich vor mir stehen sah. Manch-
mal nahm ich wahr, daß es ihr wie ein Rütteln durch den Körper
lief und daß sie einen ungeheuren Kampf kämpfte, sich aufrecht zu
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] lange Leid und Freud' getheilt und die früher in allen Dingen einer
Meinung mit mir war, nimmt jetzt häufig Judica's Partei gegen
mich. Werde mich aber von meinem Willen und dem, was ich für
gut und nothwendig erachte, nicht abbringen lassen. Dazu kommt
jetzt wieder die neue Sorge um Hans, da ich noch gar nicht weiß,
wie es nach dem Vorfall mit dem Stiefsohn des Barons mit dem
Unterricht auf dem Schloß werden soll. Welche Noth hat man mit
Kindern, wenn sie erwachsen zu sein beginnen, und ich muß in letzter
Zeit manchmal unwillkürlich denken, daß es nicht einmal meine
eigenen sind. —

    Den 15. August.

Die Andern mögen doch in Manchem wohl Recht gehabt haben.
Meine Natur ist mit den Jahren, und vielleicht grade durch die Er-
eignisse der letzten Jahre, etwas heftig geworden, daß ich wohl dies
oder das in der Aufwallung übersehen.

Der Hofmeister vom Schloß, Herr Sonnewald, war heut bei
mir. Er sagte, daß er von Hohenwerdach fortgehe; seitdem die Ba-
ronin und der im vorigen Jahr geflüchtete Kammerdiener zurück-
gekommen, gefalle ihm das Treiben dort durchaus nicht mehr. Auch
der Baron habe alle Energie, zu der er sich inzwischen aufgerafft,
wieder verloren, und das sei hauptsächlich der Grund seines Weg-
gangs in die Hauptstadt, wo ihm eine gute Stellung geboten, weil
mit dem jungen Baron seit der Rückkehr der Mutter nichts mehr
anzufangen sei. Er wisse bestimmt, daß derselbe im Lauf des Som-
mers mehrere Mädchen aus dem Dorf verführt und fast Allen nach-
gestellt, und daß die Baronin dazu gelacht habe. Dieselbe schäume
vor Wuth über den Schlag, welchen ihr Sohn von Hans empfangen
— und der jedenfalls mehr als verdient gewesen — und habe ver-
langt, mein Pflegesohn solle dafür gerichtlich verfolgt werden; allein
fast wider Erwarten habe der Baron in diesem Falle nicht nach-
gegeben, und in einem heftigen Auftritt seinen Willen durchgesetzt.
Seitdem sei er kränklicher, als je; Baron Albert aber gehe in einigen
Tagen zur Universität in die Hauptstadt ab, wo er, zu jedem Stu-
dium total unfähig, den Beruf der Mehrzahl seiner adeligen Genossen
theilen werde, in Saus und Braus Geld und Zeit todtzuschlagen und
zu warten, bis der Tod seines Stiefvaters ihn als Herrn nach Hohen-
werdach zurückrufe.

Herr Sonnewald gab mir den Rath, Hans unbekümmert noch ein
Jahr lang im Hause seinen Privatstudien obliegen zu lassen, da er
die Bürgschaft übernähme, daß derselbe sich in dieser Frist durch seinen
Fleiß und seine Talente vollständig zum Bezug der Hochschule vor-
bereitet haben werde. Auch hinsichtlich Judica's gab er mir mehrere
gute Rathschläge, die im Grundgedanken mit der gestrigen Frage
meiner Frau übereinstimmten, ob ich denn allein blind sei und nicht
sähe, daß unsere Pflegetochter ein erwachsenes Mädchen von seltener
und wunderbarer Schönheit, wie sie es früher als kleines Kind ver-
sprochen, geworden sei, um derenwillen allein sowohl der Doktor
Fabri als der Hofmeister schon seit Jahr und Tag unser Haus so
fleißig besucht hätten. Sie und das alte Sprüchwort haben wohl
Recht: „Kinder werden Leute“; das Alter merkt es nur nicht, was
unter der einförmigen Rinde in den jungen Gemüthern treibt und
aufgeht. Zu Sophie habe ich jedoch gesagt: „Judica sei noch nicht
konfirmirt, und bis dies geschehe, werde ich sie nach alter, guter
Sitte als Kind betrachten.“

    Den 1. Januar 1850.

Nur um den alten Brauch fortzusetzen, schreibe ich heut ein paar
Worte. Hans arbeitet mit unausgesetztem Fleiß, damit er zu Ostern,
das in diesem Jahr sehr spät, erst gegen das Ende des April fallen
wird, die Universität beziehen kann, um Arzeneiwissenschaft zu studiren.
Wie er diesen Plan nun seit zehn Jahren unverrückt festgehalten hat,
liegt überhaupt in seinem Wesen etwas Zähes, Hartnäckiges, daß er das,
was er einmal gefaßt hat, nicht wieder aufgiebt, und am wenigsten,
sobald Jemand ihn davon abzubringen sucht. Er erinnert mich oft
lebhaft an seinen Vater, der diesen eigensinnigen Zug ebenfalls, doch
nicht in dem Maße besaß. Ja, es ist ein ehrwürdiges Wort, daß
der Väter Sünden und Tugenden sich forterben bis in's vierte Glied.
Jch wollt' im Stande sein, wie Cuvier aus einem versteinerten Fuß-
knochen ein antediluvianisches Geschöpf aufgebaut hat, aus dem Wesen
Judica's mir ihre Eltern leibhaftig vorzustellen. Sie müssen schön,
heißblütig, leichtsinnig und schwermüthig, bezaubernd und abstoßend,
närrisch und talentvoll gewesen sein, denn das Alles sind Keime, die
wir nicht in die Seele des Mädchens hineinzulegen vermocht, die von
Anbeginn darin geruht und hervorbrechen wie Korn und Unkraut auf
dem Acker, der Landmann mag selbst gesäet haben, was er will.

Es ist nicht die rechte Freudigkeit im Hause, wie in früherer Zeit.
Sophie sagt, ich trüge selber die Schuld daran und sei auch
weniger milde als früher. Gott aber hat mir zwei Seelen anver-
traut — er helfe mir, ich kann nicht anders. Amen!

[Spaltenumbruch]

    Ostersonntag den 20. April.

Gott helfe mir, ich kann nicht anders. Amen. Jch habe damit
geschlossen und beginne damit. Er wende Alles zum Guten; er lasse
uns seine Wege wandeln im Dunkel.

Jch habe im verwichenen Zeitraum, zwischen Neujahr und Ostern,
nicht zufrieden sein können mit Judica. Sie hat mit den Mädchen
des Dorfes Unterricht für die bevorstehende Konfirmation bei mir
gehabt, allein die Geringste von ihnen hat die zugetheilten Arbeiten
besser geliefert und aufmerksamer Acht gegeben, als sie.

Hatte sie allzeit andere Dinge im Kopf, zeichnete Allotria an den
Rand ihrer Aufsätze und schmierte dieselben, da sie sonst eine feine
und merkwürdig feste Hand schreibt, so unleserlich und gedankenlos
hin, daß ich sie mit äußerster Strenge angehalten, Nachts so lange
aufzusitzen, bis sie den Vortrag, den ich am Morgen beendet, ordentlich
und lesbar zu Papier gebracht. Jst viel dabei geweint worden und
hat's böse Stunden, ja Tage und Wochen im Hause gegeben, da
denn Hans natürlich auch allemal, sobald es einen Auftritt mit
Judica gesetzt, stumm bei Tisch gesessen und höchst ungnädig gewesen,
und gefruchtet hat Alles doch nicht, als Unfrieden und Mißmuth
hervorgerufen, daß ich manchmal einsam auf meinem Zimmer geblieben
und gedacht, daß wir arge Thoren sind, die Schickungen Gottes ver-
bessern zu wollen, und wenn er uns keine Kinder verliehen, fremde
in's Haus zu nehmen zu täglicher Noth und Trübsal an Leib
und Seele.

So ist langsam der Konfirmationstag heut herangekommen, und
ich habe Judica vor'm Altar das Wort aus den Sprüchen Salo-
monis mitgegeben:

„Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn
fürchtet, soll man loben. Sie wird gerühmet werden von den Früchten
ihrer Hände. Sie schauet, wie es in ihrem Hause zugehet, und isset
ihr Brot nicht mit Faulheit.“

Jch habe es vor allen Hörern der Kirche mit Ernst und Nach-
druck zu ihr gesprochen, daß sie sehr blaß geworden und so gezittert,
daß ich geglaubt, sie werde umfallen. Hat mich indeß nicht irre ge-
macht, und wie ich nach Hause gekommen, hab' ich sie zu mir rufen
lassen, und wie Niemand gewußt zu sagen, wo sie sei, sie selbst auf-
gesucht. Da ich sie denn zuletzt auf einer Bank im abgelegensten
Winkel des Küchengartens in dem Goethe'schen „Faust“ lesend ge-
funden, der vor einem Jahr mit bei dem namenlosen Weihnachts-
paquet für sie gewesen. Weil ich ihr nun schon in den letzten Wochen
öfter gesagt, daß es einer christlichen Konfirmandin vor ihrer Ein-
segnung nicht anstehe, derlei Bücher, die überhaupt für ihr Alter noch
nicht passend seien, zu lesen, ist mir dies als ein offenbarer und
trotziger Ungehorsam erschienen, daß ich ihr sehr zornig das Buch aus
der Hand gerissen und dabei gesehen habe, daß ein Blatt heraus-
gefallen, auf dem als Anrede mit deutlicher Hand: „Meine süße, einzige
Judica“ geschrieben stand. Wie ich aber die Hand danach aus-
gestreckt, um das Uebrige zu lesen, hat sie es hastig genommen, an
ihrer Brust verborgen und die Hand daraufgelegt. Da habe ich noch
ziemlich ruhig gefragt, was das bedeute, und sie hat gleichgültig ge-
antwortet, nichts, das Papier sei in dem Buch gewesen, seitdem sie
es bekommen. Es besitze keine Unterschrift und sie wisse nicht, von
wem es sei, keinenfalls von einem Manne. Allein es sei ein Begleit-
brief zu den Geschenken für sie gewesen, und sie werde ihn Nieman-
dem zeigen, am wenigsten mir, nachdem ich ihr in der Kirche solchen
Schimpf angethan.

Da bin ich denn, ob dem Trotz und der Herzenshärtigkeit des
Mädchens, aufgebracht worden, wie niemals noch in meinem Leben,
daß ich kaum mehr Alles weiß, was ich darauf gesagt. Aber ich
habe begonnen, daß sie in schwerem Jrrthum sei, wenn sie meine
Tochter zu sein glaube, daß ich sie aus Gnade und Barmherzigkeit
aufgenommen und sie kein Anrecht an mich oder etwas von mir be-
sitze. Und ich habe hart und erbarmungslos in ihrem Jnnern ge-
wühlt, daß sie ohn' allen Zweifel das Kind einer sündhaften Liebe
und einer verlorenen Mutter sei, und daß sie denselben Weg ein-
schlage, den jene gegangen, da Verstocktheit und Lüge der Anfang zu
allen Lastern und Erniedrigungen wäre. Es werde nicht fürder gehen
mit uns, wenn sie sich nicht zusammennähme und einen anderen,
ehrbaren, der Pflegetochter eines Pastoren, die keine Schauspielerin
oder Kunstreiterin sei, entsprechenderen Wandel beginne. Sie könne
sich darauf verlassen, daß ich zu ihrem zeitlichen und ewigen Heil, das
mir anvertraut worden, meinen Willen durchsetzen und ihre Wider-
spenstigkeit brechen, mir auch das Blatt zu verschaffen wissen werde,
da ich, wenn sie auf ihrer Weigerung beharre, sie von der Mutter
und den Mädchen entkleiden und es ihr mit Gewalt nehmen lasse.
Jch rieth ihr aber, den Brief nicht vorher zu vernichten, da sonst —

Jch weiß nicht mehr, womit ich in meinem Zorn gedroht, der
immer höher stieg, als ich das Mädchen todtenbleich, mit fest zu-
sammengepreßten Lippen, aber unbeweglich vor mir stehen sah. Manch-
mal nahm ich wahr, daß es ihr wie ein Rütteln durch den Körper
lief und daß sie einen ungeheuren Kampf kämpfte, sich aufrecht zu
[Ende Spaltensatz]

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[355/0003] 355 lange Leid und Freud' getheilt und die früher in allen Dingen einer Meinung mit mir war, nimmt jetzt häufig Judica's Partei gegen mich. Werde mich aber von meinem Willen und dem, was ich für gut und nothwendig erachte, nicht abbringen lassen. Dazu kommt jetzt wieder die neue Sorge um Hans, da ich noch gar nicht weiß, wie es nach dem Vorfall mit dem Stiefsohn des Barons mit dem Unterricht auf dem Schloß werden soll. Welche Noth hat man mit Kindern, wenn sie erwachsen zu sein beginnen, und ich muß in letzter Zeit manchmal unwillkürlich denken, daß es nicht einmal meine eigenen sind. — Den 15. August. Die Andern mögen doch in Manchem wohl Recht gehabt haben. Meine Natur ist mit den Jahren, und vielleicht grade durch die Er- eignisse der letzten Jahre, etwas heftig geworden, daß ich wohl dies oder das in der Aufwallung übersehen. Der Hofmeister vom Schloß, Herr Sonnewald, war heut bei mir. Er sagte, daß er von Hohenwerdach fortgehe; seitdem die Ba- ronin und der im vorigen Jahr geflüchtete Kammerdiener zurück- gekommen, gefalle ihm das Treiben dort durchaus nicht mehr. Auch der Baron habe alle Energie, zu der er sich inzwischen aufgerafft, wieder verloren, und das sei hauptsächlich der Grund seines Weg- gangs in die Hauptstadt, wo ihm eine gute Stellung geboten, weil mit dem jungen Baron seit der Rückkehr der Mutter nichts mehr anzufangen sei. Er wisse bestimmt, daß derselbe im Lauf des Som- mers mehrere Mädchen aus dem Dorf verführt und fast Allen nach- gestellt, und daß die Baronin dazu gelacht habe. Dieselbe schäume vor Wuth über den Schlag, welchen ihr Sohn von Hans empfangen — und der jedenfalls mehr als verdient gewesen — und habe ver- langt, mein Pflegesohn solle dafür gerichtlich verfolgt werden; allein fast wider Erwarten habe der Baron in diesem Falle nicht nach- gegeben, und in einem heftigen Auftritt seinen Willen durchgesetzt. Seitdem sei er kränklicher, als je; Baron Albert aber gehe in einigen Tagen zur Universität in die Hauptstadt ab, wo er, zu jedem Stu- dium total unfähig, den Beruf der Mehrzahl seiner adeligen Genossen theilen werde, in Saus und Braus Geld und Zeit todtzuschlagen und zu warten, bis der Tod seines Stiefvaters ihn als Herrn nach Hohen- werdach zurückrufe. Herr Sonnewald gab mir den Rath, Hans unbekümmert noch ein Jahr lang im Hause seinen Privatstudien obliegen zu lassen, da er die Bürgschaft übernähme, daß derselbe sich in dieser Frist durch seinen Fleiß und seine Talente vollständig zum Bezug der Hochschule vor- bereitet haben werde. Auch hinsichtlich Judica's gab er mir mehrere gute Rathschläge, die im Grundgedanken mit der gestrigen Frage meiner Frau übereinstimmten, ob ich denn allein blind sei und nicht sähe, daß unsere Pflegetochter ein erwachsenes Mädchen von seltener und wunderbarer Schönheit, wie sie es früher als kleines Kind ver- sprochen, geworden sei, um derenwillen allein sowohl der Doktor Fabri als der Hofmeister schon seit Jahr und Tag unser Haus so fleißig besucht hätten. Sie und das alte Sprüchwort haben wohl Recht: „Kinder werden Leute“; das Alter merkt es nur nicht, was unter der einförmigen Rinde in den jungen Gemüthern treibt und aufgeht. Zu Sophie habe ich jedoch gesagt: „Judica sei noch nicht konfirmirt, und bis dies geschehe, werde ich sie nach alter, guter Sitte als Kind betrachten.“ Den 1. Januar 1850. Nur um den alten Brauch fortzusetzen, schreibe ich heut ein paar Worte. Hans arbeitet mit unausgesetztem Fleiß, damit er zu Ostern, das in diesem Jahr sehr spät, erst gegen das Ende des April fallen wird, die Universität beziehen kann, um Arzeneiwissenschaft zu studiren. Wie er diesen Plan nun seit zehn Jahren unverrückt festgehalten hat, liegt überhaupt in seinem Wesen etwas Zähes, Hartnäckiges, daß er das, was er einmal gefaßt hat, nicht wieder aufgiebt, und am wenigsten, sobald Jemand ihn davon abzubringen sucht. Er erinnert mich oft lebhaft an seinen Vater, der diesen eigensinnigen Zug ebenfalls, doch nicht in dem Maße besaß. Ja, es ist ein ehrwürdiges Wort, daß der Väter Sünden und Tugenden sich forterben bis in's vierte Glied. Jch wollt' im Stande sein, wie Cuvier aus einem versteinerten Fuß- knochen ein antediluvianisches Geschöpf aufgebaut hat, aus dem Wesen Judica's mir ihre Eltern leibhaftig vorzustellen. Sie müssen schön, heißblütig, leichtsinnig und schwermüthig, bezaubernd und abstoßend, närrisch und talentvoll gewesen sein, denn das Alles sind Keime, die wir nicht in die Seele des Mädchens hineinzulegen vermocht, die von Anbeginn darin geruht und hervorbrechen wie Korn und Unkraut auf dem Acker, der Landmann mag selbst gesäet haben, was er will. Es ist nicht die rechte Freudigkeit im Hause, wie in früherer Zeit. Sophie sagt, ich trüge selber die Schuld daran und sei auch weniger milde als früher. Gott aber hat mir zwei Seelen anver- traut — er helfe mir, ich kann nicht anders. Amen! Ostersonntag den 20. April. Gott helfe mir, ich kann nicht anders. Amen. Jch habe damit geschlossen und beginne damit. Er wende Alles zum Guten; er lasse uns seine Wege wandeln im Dunkel. Jch habe im verwichenen Zeitraum, zwischen Neujahr und Ostern, nicht zufrieden sein können mit Judica. Sie hat mit den Mädchen des Dorfes Unterricht für die bevorstehende Konfirmation bei mir gehabt, allein die Geringste von ihnen hat die zugetheilten Arbeiten besser geliefert und aufmerksamer Acht gegeben, als sie. Hatte sie allzeit andere Dinge im Kopf, zeichnete Allotria an den Rand ihrer Aufsätze und schmierte dieselben, da sie sonst eine feine und merkwürdig feste Hand schreibt, so unleserlich und gedankenlos hin, daß ich sie mit äußerster Strenge angehalten, Nachts so lange aufzusitzen, bis sie den Vortrag, den ich am Morgen beendet, ordentlich und lesbar zu Papier gebracht. Jst viel dabei geweint worden und hat's böse Stunden, ja Tage und Wochen im Hause gegeben, da denn Hans natürlich auch allemal, sobald es einen Auftritt mit Judica gesetzt, stumm bei Tisch gesessen und höchst ungnädig gewesen, und gefruchtet hat Alles doch nicht, als Unfrieden und Mißmuth hervorgerufen, daß ich manchmal einsam auf meinem Zimmer geblieben und gedacht, daß wir arge Thoren sind, die Schickungen Gottes ver- bessern zu wollen, und wenn er uns keine Kinder verliehen, fremde in's Haus zu nehmen zu täglicher Noth und Trübsal an Leib und Seele. So ist langsam der Konfirmationstag heut herangekommen, und ich habe Judica vor'm Altar das Wort aus den Sprüchen Salo- monis mitgegeben: „Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben. Sie wird gerühmet werden von den Früchten ihrer Hände. Sie schauet, wie es in ihrem Hause zugehet, und isset ihr Brot nicht mit Faulheit.“ Jch habe es vor allen Hörern der Kirche mit Ernst und Nach- druck zu ihr gesprochen, daß sie sehr blaß geworden und so gezittert, daß ich geglaubt, sie werde umfallen. Hat mich indeß nicht irre ge- macht, und wie ich nach Hause gekommen, hab' ich sie zu mir rufen lassen, und wie Niemand gewußt zu sagen, wo sie sei, sie selbst auf- gesucht. Da ich sie denn zuletzt auf einer Bank im abgelegensten Winkel des Küchengartens in dem Goethe'schen „Faust“ lesend ge- funden, der vor einem Jahr mit bei dem namenlosen Weihnachts- paquet für sie gewesen. Weil ich ihr nun schon in den letzten Wochen öfter gesagt, daß es einer christlichen Konfirmandin vor ihrer Ein- segnung nicht anstehe, derlei Bücher, die überhaupt für ihr Alter noch nicht passend seien, zu lesen, ist mir dies als ein offenbarer und trotziger Ungehorsam erschienen, daß ich ihr sehr zornig das Buch aus der Hand gerissen und dabei gesehen habe, daß ein Blatt heraus- gefallen, auf dem als Anrede mit deutlicher Hand: „Meine süße, einzige Judica“ geschrieben stand. Wie ich aber die Hand danach aus- gestreckt, um das Uebrige zu lesen, hat sie es hastig genommen, an ihrer Brust verborgen und die Hand daraufgelegt. Da habe ich noch ziemlich ruhig gefragt, was das bedeute, und sie hat gleichgültig ge- antwortet, nichts, das Papier sei in dem Buch gewesen, seitdem sie es bekommen. Es besitze keine Unterschrift und sie wisse nicht, von wem es sei, keinenfalls von einem Manne. Allein es sei ein Begleit- brief zu den Geschenken für sie gewesen, und sie werde ihn Nieman- dem zeigen, am wenigsten mir, nachdem ich ihr in der Kirche solchen Schimpf angethan. Da bin ich denn, ob dem Trotz und der Herzenshärtigkeit des Mädchens, aufgebracht worden, wie niemals noch in meinem Leben, daß ich kaum mehr Alles weiß, was ich darauf gesagt. Aber ich habe begonnen, daß sie in schwerem Jrrthum sei, wenn sie meine Tochter zu sein glaube, daß ich sie aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen und sie kein Anrecht an mich oder etwas von mir be- sitze. Und ich habe hart und erbarmungslos in ihrem Jnnern ge- wühlt, daß sie ohn' allen Zweifel das Kind einer sündhaften Liebe und einer verlorenen Mutter sei, und daß sie denselben Weg ein- schlage, den jene gegangen, da Verstocktheit und Lüge der Anfang zu allen Lastern und Erniedrigungen wäre. Es werde nicht fürder gehen mit uns, wenn sie sich nicht zusammennähme und einen anderen, ehrbaren, der Pflegetochter eines Pastoren, die keine Schauspielerin oder Kunstreiterin sei, entsprechenderen Wandel beginne. Sie könne sich darauf verlassen, daß ich zu ihrem zeitlichen und ewigen Heil, das mir anvertraut worden, meinen Willen durchsetzen und ihre Wider- spenstigkeit brechen, mir auch das Blatt zu verschaffen wissen werde, da ich, wenn sie auf ihrer Weigerung beharre, sie von der Mutter und den Mädchen entkleiden und es ihr mit Gewalt nehmen lasse. Jch rieth ihr aber, den Brief nicht vorher zu vernichten, da sonst — Jch weiß nicht mehr, womit ich in meinem Zorn gedroht, der immer höher stieg, als ich das Mädchen todtenbleich, mit fest zu- sammengepreßten Lippen, aber unbeweglich vor mir stehen sah. Manch- mal nahm ich wahr, daß es ihr wie ein Rütteln durch den Körper lief und daß sie einen ungeheuren Kampf kämpfte, sich aufrecht zu

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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 45. Berlin, 8. November 1868, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt45_1868/3>, abgerufen am 16.07.2024.