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Sonntags-Blatt. Nr. 45. Berlin, 8. November 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

Auch von Cölestine ist nach längerem Schweigen wieder zur Weih-
nacht ein Brief gekommen. Die Handschrift ist anders, als früher,
und sie schreibt, sie sei unwohl und müsse eine Bekannte für sich
schreiben lassen. Doch der ganze Brief enthält fast nichts als Grüße
und Küsse für Judica, die unter die Schrift gezeichnet sind, und Ge-
danken, wie schön und stattlich sie jetzt aussehen müsse. Daneben
Ermahnungen, ihre Zeit nicht an unbedeutende Bücher zu vergeuden,
sondern unsere großen Dichter recht mit Eifer und eigenem Denken
zu lesen. Jch weiß manchmal gar nicht, was ich von den Menschen-
kindern mehr denken soll; die Cölestine mit ihrer merkwürdigen An-
hänglichkeit an uns, ist mir ebenso räthselhaft, wie meine Pflege-
tochter, die, während sie die kostbaren Geschenke, wie ich oben schon
sagte, gleichgültig und fast wie selbstverständlich hinnahm, über den
Brief in lautes Weinen ausbrach, ihn in ihrem Kleide versteckte und
hinausging. Sophie sagte mir nachher, daß Judica ihr geklagt, es
verstehe sie Niemand im Hause. Es ist wahrhaftig Zeit, daß die
mädchenhafte Ueberspanntheit ihr aus dem Kopf getrieben wird, ehe
das Ding zu weit um sich greift.

    Den 12. August.

Muß doch immer der Krug so lang' zu Wasser gehen, bis er bricht.
Freut's mich indessen, daß ich die Sache selber mit angesehen, da ich
sonst leicht geglaubt hätte, daß Judica durch ihre häufig die duld-
samste Natur aufreizende Manier, selbst den größten Theil der Schuld
daran getragen. Es war vorgestern ein wundersamer Sommerspät-
abend nach einem heftigen Gewitter, das wir am Nachmittag gehabt,
und ich saß an meinem Arbeitstisch und mußte immer wieder über
die köstliche Regenfrische des Gartens in die stillen Felder und auf
den fernen Waldrand hinausblicken, auf dem die untergehende Sonne,
glänzend am Goldsaum einer dunklen Wolke hervortretend, in un-
endlich duftigem Farbenspiel lag. Setzte mich zuletzt, überwältigt von
der feiersamen Ruhe der Natur, wie sie uns manchmal plötzlich
sehnsüchtig und friedevoll zugleich in's Herz steigen kann, an's offene
Fenster und sah, wie in weiter Ferne die gelben Waizenkoppeln noch
hie und da schnittreif aus dem Grün aufblickten, sah über den Kirch-
hof weg, wo mein eigener kleiner Junge nun schon so lange Jahre
liegt, und wo ein paar Mädchen aus dem Dorf, mit langgelösten
Zöpfen, in abendlicher Feier zwischen den Kreuzen herumgingen --
weit von den Wiesengründen am Bach her kam das Brüllen der
Rinder herüber, wohl auch dazwischen das Bellen eines Dorfhundes,
der in den Feldern herumjagte, und unter meinem Fenster im hohen
Grasrain schwirrten die Heugrillen, und meine Gedanken gingen mit
meinen Augen zurück und vorwärts, so zwischen Himmel und Erd'
auf und ab, wie die Wolken am dämmernden Firmament, man weiß
nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Dann sah ich Judica
drunten im Garten zwischen den hohen Gesträuchen. Sie stand und
schattete das Auge mit der Hand und sah unbeweglich in die sin-
kende Sonnengluth hinein, die ihr leichtes Sommerkleid mit einem
eigenen röthlichen Abendglanz übergoß. Und auf einmal kam eine
von den merkwürdigen Wolken, die wie ein unerklärlicher Schatten
über die Menschenseele hintreiben, denn mir kam es ganz deutlich zum
Bewußtsein, daß ich diese Gestalt mit dem reichen Haar, das auf die
Schultern herabfloß, schon einmal gesehen -- anders und doch wieder
ebenso -- und im nächsten Augenblick gewahrte ich, mit Augen und
Gedanken weiterschweifend, wie die beiden Mädchen auf dem ein-
samen Kirchhof sich ängstlich nach einem Gegenstande, der den Fuß-
steig durch das gelbe Kornfeld herabkam, und den ich nicht zu [unleserliches Material - 9 Zeichen fehlen]erken-
nen vermochte, umblickten und gleich darauf eilig in den Hauptweg
und auf das Dorf zuliefen. Dann dauerte es eine Weile, allerhand
Träume kamen und gingen, bis ich durch die tiefe Abendstille in dem
Garten Stimmen heraufklingen hörte. Es war Judica; ich kenne
keinen Menschen, vielleicht außer dem Baron Hochseß in früheren
Tagen, dessen Stimme einen so glockenhellen Klang hat, als ihre;
allein mit wem sie sprach, konnte ich nicht unterscheiden, und auch
nicht sehen, da die Sonne grade blendend am Horizont über ihren
Kopf wegtrat. Sie lachte anfänglich, und ich gab auf ihre Worte
nicht Acht; doch allmälig klang ihr Ton mir gereizt und sie redete
heftiger und in abgestoßenen Sätzen. Dann hörte ich plötzlich, daß
ihr Widerpart laut rief:

"Dafür sollst Du mir büßen, Wildkatze!"

Jm nämlichen Augenblick sank die Sonne über den Baumkronen
des Waldes hinunter, und ich sah jetzt deutlich, daß der junge Baron
Albert drüben über den Rasenplatz auf das Mädchen zusprang. Sie
sah ihn trotzig an und sagte herausfordernd:

"Was willst Du?"

Er faßte ihren Arm und rang mit ihr; ich glaubte noch immer,
es sei halb Spiel, halb Ernst, wie ich es früher wohl schon zwischen
ihnen gesehen, als Judica plötzlich laut rief:

"Hans, Hans, hilf mir!"

Jhr Angreifer aber hielt ihre weißen, ringenden Arme fest zu-
sammengedrückt und rief, während er ihren angstvoll abgewandten
[Spaltenumbruch] Kopf mit Gewalt herumzudrehen suchte, so laut, daß ich es deutlich
verstehen konnte:

"Jch hab' es lange darauf abgesehen, Dich einmal allein zu
treffen, und wenn Du Dich jetzt nicht von mir küssen läßt, so lasse
ich Dich von meinem Bedienten zu mir auf's Schloß holen. Meine
Mutter sagt, ich habe von Alters her das Recht, alle Mädchen aus
dem Dorf, die ich leiden mag, zu mir bringen zu lassen und mit
ihnen zu thun, was ich will!"

Jch war aufgesprungen -- allein plötzlich hörte ich die vor Grimm
zitternde Stimme meines Hans dazwischen:

"Und ich habe das Recht, Jedem, der meiner Schwester etwas
thun will, den Kopf entzwei zu schlagen, ob es ein Bauernknecht oder
ein Baron ist."

Zugleich sah ich, daß der starke Knabe, der athemlos aus dem
Gebüsch hervorgesprungen, seinen adeligen Schulgefährten mit einem
Stock über die Stirn hieb und sich gleichzeitig auf ihn warf, ihn zu
Boden schleuderte und über ihm kniete.

"Nimm eine Nadel, Judica, und stich ihm die Augen aus, wie
sie im "König Lear" dem Grafen von Kent ausgestochen werden; er
soll Dich nie wieder ansehen können!" rief Hans in wilder Aufregung.

Judica zog mit unheimlichem Ernst einen vergoldeten Pfeil, den
sie im Haar trug, heraus und prüfte seine Spitze an ihrem Finger.

"Ja, Du hast Recht, er wollte mich küssen, er muß dafür blind
werden", erwiderte sie kalt.

Der junge Baron hatte seinem Ueberwältiger bis dahin mit gif-
tigen Worten gedroht und mit den Füßen nach ihm gestoßen, jetzt
starrte er Judica, die gelassen auf ihn zutrat, einen Augenblick entsetzt
ins Gesicht und hub dann wie wahnsinnig an, um Hülfe zu schreien.

Der grausame Spaß, den sie mit ihm trieben, schien mir aber
doch über das Maß gerechter Strafe zu gehen, so daß ich, um anderer-
seits den jungen Baron dadurch noch mehr zu beschämen, daß er
erführe, wie ich Alles angesehen, laut Judica bei Namen rief. Sie
fuhr zusammen und wandte langsam den Kopf nach mir um, doch in
ihren Augen und in ihrer ganzen Haltung lag ein Ausdruck, der, eh'
ich wußte, was ich that, mich über den Fensterbord in den Garten
hinuntersteigen und eilig auf sie zugehen ließ.

"Judica, hörst Du nicht? Was treibst Du?" fragte ich heftig.

Jch glaube, allemal, wenn die Eltern nicht rechtzeitig Acht geben,
hat solch' ein vierzehnjähriger Mädchenkopf Anlage, sich vollständig
zu einem Tollhaus auszustaffiren, denn sie antwortete mir mit feier-
lichem Ernst:

"Jch bin Lukrezia, Vater, und muß den Tarquin tödten -- warte,
bis es vorüber ist."

Und sie nahm den vergoldeten Pfeil fest in die Rechte und hob
zielend die Hand, an der ich sie faßte und gewaltsam in die Höh' riß.

"Steh' auf, Hans, und laß Albert frei!" sagte ich zugleich zornig,
daß mein Pflegesohn sich brummend von seinem um vier Jahre älteren
Feinde erhob, und dieser sich leichenblaß und mit einer breiten, dick
aufgeschwollenen und blutunterlaufenen Strieme auf der Stirn auf-
richtete und mit giftfunkelnden Augen schweigend fortging. Als er
etwa auf hundert Schritte entfernt war, drehte er sich um, ballte uns
die Faust zu und rief ein Schimpfwort herüber. Hans wollte ihm
nachstürzen, ich rief ihn indeß streng bei Namen, daß er unwillig an-
hielt und vor Aufregung stotternd sagte:

"Jch will's nicht, ich lasse meine Schwester von Keinem küssen,
am allerwenigsten von dem!" Dann trat er auf Judica zu, die wie
aus einem verworrenen Traum erwacht, mich mit großen, scheuen
Augen anblickte, schlang den Arm fest um ihren Nacken und sagte:
"Komm, Judica, wenn ich bei Dir bin, soll Dir Niemand etwas
anhaben", und die beiden großen Kinder gingen, wichtig drein-
schauend und in leisem, eifrigem Gespräch, den Garten hinunter.

Jch habe oftmals Kinder sich streiten, schlagen und vertragen ge-
sehen, und weiß nicht, warum die Andern so viel Wesens aus der
Geschichte machen wollten. Mir schien das Bedenklichste die wirklich
verrückte Art, mit der Judica sich bei der Sache benommen, allein
Mama war so entrüstet und besonders der Doktor Fabri, der zufällig
noch an demselben Abend kam, zeigte sich, als er davon hörte, so
empört und verlangte mein Wort darauf, daß ich dem Baron Albert
nie wieder Zutritt in mein Haus verstatte, daß garnicht von dem
überspannten Benehmen der Kinder dabei, sondern nur von Hans'
Heldenmuth die Rede war, den der Doktor seitdem noch mehr, als
früher, in's Herz geschlossen zu haben scheint. Er brachte ihm schon
am andern Tage einen prächtigen Stock zum Geschenk mit, aus dem
sich durch einen Federdruck eine vollständige Degenklinge hervorziehen
läßt, und redete dazu allerlei Dinge, die mir beinahe ebenso konfus
vorkamen, als die neulichen Gespräche der Kinder untereinander. Wie
der Doktor fortgegangen, habe ich indeß zu Hans' großem Kummer
den Stock einstweilen in Verwahr genommen, der mir denn doch, bis
der Besitzer in vernünftigere Jahre geräth, besser in meinen Händen
aufgehoben scheint. Jch verstehe weder mein eigenes Haus, noch die
Fremden, die es besuchen, mehr; selbst meine Frau, mit der ich so
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Auch von Cölestine ist nach längerem Schweigen wieder zur Weih-
nacht ein Brief gekommen. Die Handschrift ist anders, als früher,
und sie schreibt, sie sei unwohl und müsse eine Bekannte für sich
schreiben lassen. Doch der ganze Brief enthält fast nichts als Grüße
und Küsse für Judica, die unter die Schrift gezeichnet sind, und Ge-
danken, wie schön und stattlich sie jetzt aussehen müsse. Daneben
Ermahnungen, ihre Zeit nicht an unbedeutende Bücher zu vergeuden,
sondern unsere großen Dichter recht mit Eifer und eigenem Denken
zu lesen. Jch weiß manchmal gar nicht, was ich von den Menschen-
kindern mehr denken soll; die Cölestine mit ihrer merkwürdigen An-
hänglichkeit an uns, ist mir ebenso räthselhaft, wie meine Pflege-
tochter, die, während sie die kostbaren Geschenke, wie ich oben schon
sagte, gleichgültig und fast wie selbstverständlich hinnahm, über den
Brief in lautes Weinen ausbrach, ihn in ihrem Kleide versteckte und
hinausging. Sophie sagte mir nachher, daß Judica ihr geklagt, es
verstehe sie Niemand im Hause. Es ist wahrhaftig Zeit, daß die
mädchenhafte Ueberspanntheit ihr aus dem Kopf getrieben wird, ehe
das Ding zu weit um sich greift.

    Den 12. August.

Muß doch immer der Krug so lang' zu Wasser gehen, bis er bricht.
Freut's mich indessen, daß ich die Sache selber mit angesehen, da ich
sonst leicht geglaubt hätte, daß Judica durch ihre häufig die duld-
samste Natur aufreizende Manier, selbst den größten Theil der Schuld
daran getragen. Es war vorgestern ein wundersamer Sommerspät-
abend nach einem heftigen Gewitter, das wir am Nachmittag gehabt,
und ich saß an meinem Arbeitstisch und mußte immer wieder über
die köstliche Regenfrische des Gartens in die stillen Felder und auf
den fernen Waldrand hinausblicken, auf dem die untergehende Sonne,
glänzend am Goldsaum einer dunklen Wolke hervortretend, in un-
endlich duftigem Farbenspiel lag. Setzte mich zuletzt, überwältigt von
der feiersamen Ruhe der Natur, wie sie uns manchmal plötzlich
sehnsüchtig und friedevoll zugleich in's Herz steigen kann, an's offene
Fenster und sah, wie in weiter Ferne die gelben Waizenkoppeln noch
hie und da schnittreif aus dem Grün aufblickten, sah über den Kirch-
hof weg, wo mein eigener kleiner Junge nun schon so lange Jahre
liegt, und wo ein paar Mädchen aus dem Dorf, mit langgelösten
Zöpfen, in abendlicher Feier zwischen den Kreuzen herumgingen —
weit von den Wiesengründen am Bach her kam das Brüllen der
Rinder herüber, wohl auch dazwischen das Bellen eines Dorfhundes,
der in den Feldern herumjagte, und unter meinem Fenster im hohen
Grasrain schwirrten die Heugrillen, und meine Gedanken gingen mit
meinen Augen zurück und vorwärts, so zwischen Himmel und Erd'
auf und ab, wie die Wolken am dämmernden Firmament, man weiß
nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Dann sah ich Judica
drunten im Garten zwischen den hohen Gesträuchen. Sie stand und
schattete das Auge mit der Hand und sah unbeweglich in die sin-
kende Sonnengluth hinein, die ihr leichtes Sommerkleid mit einem
eigenen röthlichen Abendglanz übergoß. Und auf einmal kam eine
von den merkwürdigen Wolken, die wie ein unerklärlicher Schatten
über die Menschenseele hintreiben, denn mir kam es ganz deutlich zum
Bewußtsein, daß ich diese Gestalt mit dem reichen Haar, das auf die
Schultern herabfloß, schon einmal gesehen — anders und doch wieder
ebenso — und im nächsten Augenblick gewahrte ich, mit Augen und
Gedanken weiterschweifend, wie die beiden Mädchen auf dem ein-
samen Kirchhof sich ängstlich nach einem Gegenstande, der den Fuß-
steig durch das gelbe Kornfeld herabkam, und den ich nicht zu [unleserliches Material – 9 Zeichen fehlen]erken-
nen vermochte, umblickten und gleich darauf eilig in den Hauptweg
und auf das Dorf zuliefen. Dann dauerte es eine Weile, allerhand
Träume kamen und gingen, bis ich durch die tiefe Abendstille in dem
Garten Stimmen heraufklingen hörte. Es war Judica; ich kenne
keinen Menschen, vielleicht außer dem Baron Hochseß in früheren
Tagen, dessen Stimme einen so glockenhellen Klang hat, als ihre;
allein mit wem sie sprach, konnte ich nicht unterscheiden, und auch
nicht sehen, da die Sonne grade blendend am Horizont über ihren
Kopf wegtrat. Sie lachte anfänglich, und ich gab auf ihre Worte
nicht Acht; doch allmälig klang ihr Ton mir gereizt und sie redete
heftiger und in abgestoßenen Sätzen. Dann hörte ich plötzlich, daß
ihr Widerpart laut rief:

„Dafür sollst Du mir büßen, Wildkatze!“

Jm nämlichen Augenblick sank die Sonne über den Baumkronen
des Waldes hinunter, und ich sah jetzt deutlich, daß der junge Baron
Albert drüben über den Rasenplatz auf das Mädchen zusprang. Sie
sah ihn trotzig an und sagte herausfordernd:

„Was willst Du?“

Er faßte ihren Arm und rang mit ihr; ich glaubte noch immer,
es sei halb Spiel, halb Ernst, wie ich es früher wohl schon zwischen
ihnen gesehen, als Judica plötzlich laut rief:

„Hans, Hans, hilf mir!“

Jhr Angreifer aber hielt ihre weißen, ringenden Arme fest zu-
sammengedrückt und rief, während er ihren angstvoll abgewandten
[Spaltenumbruch] Kopf mit Gewalt herumzudrehen suchte, so laut, daß ich es deutlich
verstehen konnte:

„Jch hab' es lange darauf abgesehen, Dich einmal allein zu
treffen, und wenn Du Dich jetzt nicht von mir küssen läßt, so lasse
ich Dich von meinem Bedienten zu mir auf's Schloß holen. Meine
Mutter sagt, ich habe von Alters her das Recht, alle Mädchen aus
dem Dorf, die ich leiden mag, zu mir bringen zu lassen und mit
ihnen zu thun, was ich will!“

Jch war aufgesprungen — allein plötzlich hörte ich die vor Grimm
zitternde Stimme meines Hans dazwischen:

„Und ich habe das Recht, Jedem, der meiner Schwester etwas
thun will, den Kopf entzwei zu schlagen, ob es ein Bauernknecht oder
ein Baron ist.“

Zugleich sah ich, daß der starke Knabe, der athemlos aus dem
Gebüsch hervorgesprungen, seinen adeligen Schulgefährten mit einem
Stock über die Stirn hieb und sich gleichzeitig auf ihn warf, ihn zu
Boden schleuderte und über ihm kniete.

„Nimm eine Nadel, Judica, und stich ihm die Augen aus, wie
sie im „König Lear“ dem Grafen von Kent ausgestochen werden; er
soll Dich nie wieder ansehen können!“ rief Hans in wilder Aufregung.

Judica zog mit unheimlichem Ernst einen vergoldeten Pfeil, den
sie im Haar trug, heraus und prüfte seine Spitze an ihrem Finger.

„Ja, Du hast Recht, er wollte mich küssen, er muß dafür blind
werden“, erwiderte sie kalt.

Der junge Baron hatte seinem Ueberwältiger bis dahin mit gif-
tigen Worten gedroht und mit den Füßen nach ihm gestoßen, jetzt
starrte er Judica, die gelassen auf ihn zutrat, einen Augenblick entsetzt
ins Gesicht und hub dann wie wahnsinnig an, um Hülfe zu schreien.

Der grausame Spaß, den sie mit ihm trieben, schien mir aber
doch über das Maß gerechter Strafe zu gehen, so daß ich, um anderer-
seits den jungen Baron dadurch noch mehr zu beschämen, daß er
erführe, wie ich Alles angesehen, laut Judica bei Namen rief. Sie
fuhr zusammen und wandte langsam den Kopf nach mir um, doch in
ihren Augen und in ihrer ganzen Haltung lag ein Ausdruck, der, eh'
ich wußte, was ich that, mich über den Fensterbord in den Garten
hinuntersteigen und eilig auf sie zugehen ließ.

„Judica, hörst Du nicht? Was treibst Du?“ fragte ich heftig.

Jch glaube, allemal, wenn die Eltern nicht rechtzeitig Acht geben,
hat solch' ein vierzehnjähriger Mädchenkopf Anlage, sich vollständig
zu einem Tollhaus auszustaffiren, denn sie antwortete mir mit feier-
lichem Ernst:

„Jch bin Lukrezia, Vater, und muß den Tarquin tödten — warte,
bis es vorüber ist.“

Und sie nahm den vergoldeten Pfeil fest in die Rechte und hob
zielend die Hand, an der ich sie faßte und gewaltsam in die Höh' riß.

„Steh' auf, Hans, und laß Albert frei!“ sagte ich zugleich zornig,
daß mein Pflegesohn sich brummend von seinem um vier Jahre älteren
Feinde erhob, und dieser sich leichenblaß und mit einer breiten, dick
aufgeschwollenen und blutunterlaufenen Strieme auf der Stirn auf-
richtete und mit giftfunkelnden Augen schweigend fortging. Als er
etwa auf hundert Schritte entfernt war, drehte er sich um, ballte uns
die Faust zu und rief ein Schimpfwort herüber. Hans wollte ihm
nachstürzen, ich rief ihn indeß streng bei Namen, daß er unwillig an-
hielt und vor Aufregung stotternd sagte:

„Jch will's nicht, ich lasse meine Schwester von Keinem küssen,
am allerwenigsten von dem!“ Dann trat er auf Judica zu, die wie
aus einem verworrenen Traum erwacht, mich mit großen, scheuen
Augen anblickte, schlang den Arm fest um ihren Nacken und sagte:
„Komm, Judica, wenn ich bei Dir bin, soll Dir Niemand etwas
anhaben“, und die beiden großen Kinder gingen, wichtig drein-
schauend und in leisem, eifrigem Gespräch, den Garten hinunter.

Jch habe oftmals Kinder sich streiten, schlagen und vertragen ge-
sehen, und weiß nicht, warum die Andern so viel Wesens aus der
Geschichte machen wollten. Mir schien das Bedenklichste die wirklich
verrückte Art, mit der Judica sich bei der Sache benommen, allein
Mama war so entrüstet und besonders der Doktor Fabri, der zufällig
noch an demselben Abend kam, zeigte sich, als er davon hörte, so
empört und verlangte mein Wort darauf, daß ich dem Baron Albert
nie wieder Zutritt in mein Haus verstatte, daß garnicht von dem
überspannten Benehmen der Kinder dabei, sondern nur von Hans'
Heldenmuth die Rede war, den der Doktor seitdem noch mehr, als
früher, in's Herz geschlossen zu haben scheint. Er brachte ihm schon
am andern Tage einen prächtigen Stock zum Geschenk mit, aus dem
sich durch einen Federdruck eine vollständige Degenklinge hervorziehen
läßt, und redete dazu allerlei Dinge, die mir beinahe ebenso konfus
vorkamen, als die neulichen Gespräche der Kinder untereinander. Wie
der Doktor fortgegangen, habe ich indeß zu Hans' großem Kummer
den Stock einstweilen in Verwahr genommen, der mir denn doch, bis
der Besitzer in vernünftigere Jahre geräth, besser in meinen Händen
aufgehoben scheint. Jch verstehe weder mein eigenes Haus, noch die
Fremden, die es besuchen, mehr; selbst meine Frau, mit der ich so
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[354/0002] 354 Auch von Cölestine ist nach längerem Schweigen wieder zur Weih- nacht ein Brief gekommen. Die Handschrift ist anders, als früher, und sie schreibt, sie sei unwohl und müsse eine Bekannte für sich schreiben lassen. Doch der ganze Brief enthält fast nichts als Grüße und Küsse für Judica, die unter die Schrift gezeichnet sind, und Ge- danken, wie schön und stattlich sie jetzt aussehen müsse. Daneben Ermahnungen, ihre Zeit nicht an unbedeutende Bücher zu vergeuden, sondern unsere großen Dichter recht mit Eifer und eigenem Denken zu lesen. Jch weiß manchmal gar nicht, was ich von den Menschen- kindern mehr denken soll; die Cölestine mit ihrer merkwürdigen An- hänglichkeit an uns, ist mir ebenso räthselhaft, wie meine Pflege- tochter, die, während sie die kostbaren Geschenke, wie ich oben schon sagte, gleichgültig und fast wie selbstverständlich hinnahm, über den Brief in lautes Weinen ausbrach, ihn in ihrem Kleide versteckte und hinausging. Sophie sagte mir nachher, daß Judica ihr geklagt, es verstehe sie Niemand im Hause. Es ist wahrhaftig Zeit, daß die mädchenhafte Ueberspanntheit ihr aus dem Kopf getrieben wird, ehe das Ding zu weit um sich greift. Den 12. August. Muß doch immer der Krug so lang' zu Wasser gehen, bis er bricht. Freut's mich indessen, daß ich die Sache selber mit angesehen, da ich sonst leicht geglaubt hätte, daß Judica durch ihre häufig die duld- samste Natur aufreizende Manier, selbst den größten Theil der Schuld daran getragen. Es war vorgestern ein wundersamer Sommerspät- abend nach einem heftigen Gewitter, das wir am Nachmittag gehabt, und ich saß an meinem Arbeitstisch und mußte immer wieder über die köstliche Regenfrische des Gartens in die stillen Felder und auf den fernen Waldrand hinausblicken, auf dem die untergehende Sonne, glänzend am Goldsaum einer dunklen Wolke hervortretend, in un- endlich duftigem Farbenspiel lag. Setzte mich zuletzt, überwältigt von der feiersamen Ruhe der Natur, wie sie uns manchmal plötzlich sehnsüchtig und friedevoll zugleich in's Herz steigen kann, an's offene Fenster und sah, wie in weiter Ferne die gelben Waizenkoppeln noch hie und da schnittreif aus dem Grün aufblickten, sah über den Kirch- hof weg, wo mein eigener kleiner Junge nun schon so lange Jahre liegt, und wo ein paar Mädchen aus dem Dorf, mit langgelösten Zöpfen, in abendlicher Feier zwischen den Kreuzen herumgingen — weit von den Wiesengründen am Bach her kam das Brüllen der Rinder herüber, wohl auch dazwischen das Bellen eines Dorfhundes, der in den Feldern herumjagte, und unter meinem Fenster im hohen Grasrain schwirrten die Heugrillen, und meine Gedanken gingen mit meinen Augen zurück und vorwärts, so zwischen Himmel und Erd' auf und ab, wie die Wolken am dämmernden Firmament, man weiß nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Dann sah ich Judica drunten im Garten zwischen den hohen Gesträuchen. Sie stand und schattete das Auge mit der Hand und sah unbeweglich in die sin- kende Sonnengluth hinein, die ihr leichtes Sommerkleid mit einem eigenen röthlichen Abendglanz übergoß. Und auf einmal kam eine von den merkwürdigen Wolken, die wie ein unerklärlicher Schatten über die Menschenseele hintreiben, denn mir kam es ganz deutlich zum Bewußtsein, daß ich diese Gestalt mit dem reichen Haar, das auf die Schultern herabfloß, schon einmal gesehen — anders und doch wieder ebenso — und im nächsten Augenblick gewahrte ich, mit Augen und Gedanken weiterschweifend, wie die beiden Mädchen auf dem ein- samen Kirchhof sich ängstlich nach einem Gegenstande, der den Fuß- steig durch das gelbe Kornfeld herabkam, und den ich nicht zu _________erken- nen vermochte, umblickten und gleich darauf eilig in den Hauptweg und auf das Dorf zuliefen. Dann dauerte es eine Weile, allerhand Träume kamen und gingen, bis ich durch die tiefe Abendstille in dem Garten Stimmen heraufklingen hörte. Es war Judica; ich kenne keinen Menschen, vielleicht außer dem Baron Hochseß in früheren Tagen, dessen Stimme einen so glockenhellen Klang hat, als ihre; allein mit wem sie sprach, konnte ich nicht unterscheiden, und auch nicht sehen, da die Sonne grade blendend am Horizont über ihren Kopf wegtrat. Sie lachte anfänglich, und ich gab auf ihre Worte nicht Acht; doch allmälig klang ihr Ton mir gereizt und sie redete heftiger und in abgestoßenen Sätzen. Dann hörte ich plötzlich, daß ihr Widerpart laut rief: „Dafür sollst Du mir büßen, Wildkatze!“ Jm nämlichen Augenblick sank die Sonne über den Baumkronen des Waldes hinunter, und ich sah jetzt deutlich, daß der junge Baron Albert drüben über den Rasenplatz auf das Mädchen zusprang. Sie sah ihn trotzig an und sagte herausfordernd: „Was willst Du?“ Er faßte ihren Arm und rang mit ihr; ich glaubte noch immer, es sei halb Spiel, halb Ernst, wie ich es früher wohl schon zwischen ihnen gesehen, als Judica plötzlich laut rief: „Hans, Hans, hilf mir!“ Jhr Angreifer aber hielt ihre weißen, ringenden Arme fest zu- sammengedrückt und rief, während er ihren angstvoll abgewandten Kopf mit Gewalt herumzudrehen suchte, so laut, daß ich es deutlich verstehen konnte: „Jch hab' es lange darauf abgesehen, Dich einmal allein zu treffen, und wenn Du Dich jetzt nicht von mir küssen läßt, so lasse ich Dich von meinem Bedienten zu mir auf's Schloß holen. Meine Mutter sagt, ich habe von Alters her das Recht, alle Mädchen aus dem Dorf, die ich leiden mag, zu mir bringen zu lassen und mit ihnen zu thun, was ich will!“ Jch war aufgesprungen — allein plötzlich hörte ich die vor Grimm zitternde Stimme meines Hans dazwischen: „Und ich habe das Recht, Jedem, der meiner Schwester etwas thun will, den Kopf entzwei zu schlagen, ob es ein Bauernknecht oder ein Baron ist.“ Zugleich sah ich, daß der starke Knabe, der athemlos aus dem Gebüsch hervorgesprungen, seinen adeligen Schulgefährten mit einem Stock über die Stirn hieb und sich gleichzeitig auf ihn warf, ihn zu Boden schleuderte und über ihm kniete. „Nimm eine Nadel, Judica, und stich ihm die Augen aus, wie sie im „König Lear“ dem Grafen von Kent ausgestochen werden; er soll Dich nie wieder ansehen können!“ rief Hans in wilder Aufregung. Judica zog mit unheimlichem Ernst einen vergoldeten Pfeil, den sie im Haar trug, heraus und prüfte seine Spitze an ihrem Finger. „Ja, Du hast Recht, er wollte mich küssen, er muß dafür blind werden“, erwiderte sie kalt. Der junge Baron hatte seinem Ueberwältiger bis dahin mit gif- tigen Worten gedroht und mit den Füßen nach ihm gestoßen, jetzt starrte er Judica, die gelassen auf ihn zutrat, einen Augenblick entsetzt ins Gesicht und hub dann wie wahnsinnig an, um Hülfe zu schreien. Der grausame Spaß, den sie mit ihm trieben, schien mir aber doch über das Maß gerechter Strafe zu gehen, so daß ich, um anderer- seits den jungen Baron dadurch noch mehr zu beschämen, daß er erführe, wie ich Alles angesehen, laut Judica bei Namen rief. Sie fuhr zusammen und wandte langsam den Kopf nach mir um, doch in ihren Augen und in ihrer ganzen Haltung lag ein Ausdruck, der, eh' ich wußte, was ich that, mich über den Fensterbord in den Garten hinuntersteigen und eilig auf sie zugehen ließ. „Judica, hörst Du nicht? Was treibst Du?“ fragte ich heftig. Jch glaube, allemal, wenn die Eltern nicht rechtzeitig Acht geben, hat solch' ein vierzehnjähriger Mädchenkopf Anlage, sich vollständig zu einem Tollhaus auszustaffiren, denn sie antwortete mir mit feier- lichem Ernst: „Jch bin Lukrezia, Vater, und muß den Tarquin tödten — warte, bis es vorüber ist.“ Und sie nahm den vergoldeten Pfeil fest in die Rechte und hob zielend die Hand, an der ich sie faßte und gewaltsam in die Höh' riß. „Steh' auf, Hans, und laß Albert frei!“ sagte ich zugleich zornig, daß mein Pflegesohn sich brummend von seinem um vier Jahre älteren Feinde erhob, und dieser sich leichenblaß und mit einer breiten, dick aufgeschwollenen und blutunterlaufenen Strieme auf der Stirn auf- richtete und mit giftfunkelnden Augen schweigend fortging. Als er etwa auf hundert Schritte entfernt war, drehte er sich um, ballte uns die Faust zu und rief ein Schimpfwort herüber. Hans wollte ihm nachstürzen, ich rief ihn indeß streng bei Namen, daß er unwillig an- hielt und vor Aufregung stotternd sagte: „Jch will's nicht, ich lasse meine Schwester von Keinem küssen, am allerwenigsten von dem!“ Dann trat er auf Judica zu, die wie aus einem verworrenen Traum erwacht, mich mit großen, scheuen Augen anblickte, schlang den Arm fest um ihren Nacken und sagte: „Komm, Judica, wenn ich bei Dir bin, soll Dir Niemand etwas anhaben“, und die beiden großen Kinder gingen, wichtig drein- schauend und in leisem, eifrigem Gespräch, den Garten hinunter. Jch habe oftmals Kinder sich streiten, schlagen und vertragen ge- sehen, und weiß nicht, warum die Andern so viel Wesens aus der Geschichte machen wollten. Mir schien das Bedenklichste die wirklich verrückte Art, mit der Judica sich bei der Sache benommen, allein Mama war so entrüstet und besonders der Doktor Fabri, der zufällig noch an demselben Abend kam, zeigte sich, als er davon hörte, so empört und verlangte mein Wort darauf, daß ich dem Baron Albert nie wieder Zutritt in mein Haus verstatte, daß garnicht von dem überspannten Benehmen der Kinder dabei, sondern nur von Hans' Heldenmuth die Rede war, den der Doktor seitdem noch mehr, als früher, in's Herz geschlossen zu haben scheint. Er brachte ihm schon am andern Tage einen prächtigen Stock zum Geschenk mit, aus dem sich durch einen Federdruck eine vollständige Degenklinge hervorziehen läßt, und redete dazu allerlei Dinge, die mir beinahe ebenso konfus vorkamen, als die neulichen Gespräche der Kinder untereinander. Wie der Doktor fortgegangen, habe ich indeß zu Hans' großem Kummer den Stock einstweilen in Verwahr genommen, der mir denn doch, bis der Besitzer in vernünftigere Jahre geräth, besser in meinen Händen aufgehoben scheint. Jch verstehe weder mein eigenes Haus, noch die Fremden, die es besuchen, mehr; selbst meine Frau, mit der ich so

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 45. Berlin, 8. November 1868, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt45_1868/2>, abgerufen am 06.06.2024.