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Sonntags-Blatt. Nr. 28. Berlin, 12. Juli 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

Mit dem Frühesten zu Wagen von Neapel aufgebrochen, hatten
wir am Vormittag Bajä und das Cap Misene gesehen. Auch Austern
hatten wir selbstverständlich gefrühstückt an jenen berühmten Seen,
die schon dem Lukullus dieselben Leckerbissen geliefert, wobei wir aber
freilich aufs Neue die Bemerkung machen mußten, daß unsere nor-
dischen Meere dem Gaumen doch ungleich Besseres zu liefern haben,
als jene südlichen mit ihren meist weichlichen Produkten.

Nachdem wir also in angegebener Weise den Morgen hingebracht,
waren wir jetzt, in den ersten Nachmittagsstunden, im Begriff, die
zauberhaften Höhen hinter dem einst so prächtigen, jetzt so elenden
Puzzuoli empor zu steigen, um dem halb ausgebrannten Vulkan La
Solfatara und einigen Trümmern antiker Gebäude in seiner Um-
gebung einen Besuch abzustatten.

Des Weges unkundig, und dennoch den lästigen Dienst eines
Führers, wie gewöhnlich, verschmähend, auch bei dem furchtbaren
Sonnenbrand von all' den tiefschattigen Weinbergpfaden instinktmäßig
stets nur den schattigsten wählend, hatten wir jedoch den richtigen
Weg bald gänzlich verloren und wußten nun nicht, welcher von all'
den schmalen Fußsteigen am schnellsten, ja ob überhaupt einer von
ihnen zeitig genug zu einem schützenden Obdach führe.

"Das kömmt vom Pochen auf Deinen Ortssinn", murrte meine
Frau; "da tröpfelt es schon -- geht's rechts jetzt, geht es links?"

"Rechts, natürlich!" rief ich mit unglaublicher Sicherheit. "Nein,
links!" verbesserte ich mich schnell, weil mir so eben ein unverschämter
Windstoß den Strohhut vom Kopf riß und ihn weit links hinein
in die Blättergewölbe jagte. "Links, links! Das ist ja klar!" Und
damit schoß ich, einer riesigen, vom Sturm entführten Cactus-
blüthe nicht unähnlich, der vor mir hintanzenden Bedeckung meines
Hauptes nach.

Einer Cactusblüthe -- ach ja, lieber Leser! -- wenn auch nicht
in der Form, so doch in der Farbe recht wohl zu vergleichen. Jch
hatte mich nämlich, längst aus Erfahrung wissend, daß das praktischste
aller Kleidungsstücke bei Touren in der Hitze ein wollenes Hemd sei,
auch mit diesem Artikel in Deutschland versehen, war aber dabei
durch Schicksalstücke an ein so brennend rothes gerathen, daß sich
mein Oberkörper, wenn ich, wie jetzt, ohne Weste und Rock über
den Arm gehängt, einherzog, im höchsten Grade prächtig gegen
das immergrüne Laub des Südens abhob. Es war deßhalb auch
gar nicht zum Verwundern, daß die Kinder, sobald ich mich in solchem
Aufzug in einem italienischen Dorfe blicken ließ, gleich zu Dutzenden
hinter mir her waren und sich begeistert " un patriotto!" zuraunten.
Denn was sollten die kleinen Schmutzteufel anders, als einen Gari-
baldiner von ächtem Schrot und Korn unter so leuchtender Wolle
vermuthen? Jm Geschwindschritt, unter immer heftigerem Donner und
Sturm, eilten wir jetzt auf dem nach links führenden Pfade weiter
empor. Und wahrlich, noch heut danke ich es jenem getreuen Stroh-
hut, daß er, er allein, der vielgeprüfte, der jetzt leider pensionirt und
altersschwach an der Wand meines Zimmers verstäubt, uns damals
hinwies auf einen Weg, der uns zu einer der anmuthigsten Reise-
erinnerungen verhelfen sollte.

Wir waren noch nicht zwei Minuten dahingetrabt, als bei einer
scharfen Wendung des Pfades meine Frau plötzlich stehen blieb, mich
am Arm faßte und mir ganz erregt zuflüsterte:

"Sieh, wie schön!"

Jch folgte ihrem Auge und sah eine Erscheinung vor mir, die ich
unbedingt zu dem Reizendsten zähle, was ich jemals geschaut.

Den Pfad etwas weiter hinauf, etwa dreißig Schritte vor uns,
stand ein Mädchen in der farbenhellen Tracht ihres Landes. Den
Arm auf ein Wassergefäß, das sie weiter unten am Berghange ge-
füllt und jetzt auf einen Rest antiken Gemäuers neben sich abgesetzt
hatte, gelehnt, die Wange auf die Hand gestützt, die unter dem auf-
geschürzten Kleide hervorlugenden Füßchen leicht über einander ge-
schlagen, schaute sie ernst, träumerisch, unbekümmert um das nahende
Wetter, durch die um sie her auf und ab wogenden Zweige hinaus
in die Gegend.

Die unbewußte und deßhalb unnachahmliche Grazie in ihrer
Stellung, die schlanke, hohe Gestalt, die nach Landessitte nur wenig
vom nachlässig zugeschnürten Mieder gezähmte Fülle ihrer Formen,
die wirklich klassische Schönheit des Gesichts, dessen dunkelfarbiger
Teint und rabenschwarzer Haarschmuck grell abstachen gegen das blen-
dende Weiß des über die Stirn zum Nacken wallenden Kopftuchs,
dazu die Ruhe der ganzen Erscheinung gegenüber der drohenden Be-
wegung in der Natur -- es war ein Bild von ganz hinreißender
Wirkung.

Das vermaledeite rothe Hemd! Es verrieth uns durch sein Leuchten,
und das ganze Bild war zerstört. Die Träumende suhr überrascht
empor, blitzte uns an mit zwei Augen, so groß und so schwarz, wie
die Kirschen von Sorrent, kehrte den Blick aber sofort, schnell erken-
nend, daß wir Ausländer seien, gleichgültig wieder von uns ab, hob
mit langsamer, vollendet schöner Bewegung das Gefäß auf ihr Haupt,
wandte uns den Rücken und schritt dann fest, sicher, mit der Haltung
[Spaltenumbruch] einer Olympierin, das Gefäß auf dem Haupt wiegend, den Weg
weiter hinan. Mir aber klang es wie lauter Hexameter und Penta-
meter vor dem Ohr, und nie wohl habe ich wärmer mit den Alt-
meister Goethe gefühlt, als in diesem Augenblick, wo ich stand und
schaute und mir im Schauen immer und immer wieder die Verse aus
Alexis und Dora wiederholte:

"Und vom Brunnen, wie kühn! wiegte Dein Haupt das Gefäß.
Da erschien Dein Hals, erschien Dein Nacken vor allen
Und vor allen erschien Deiner Bewegungen Maß!"

Es ist gewiß, daß die viel gerühmte Grazie der italienischen
Frauen nirgend glänzender hervortritt, als wenn sie mit einer nicht
allzu schweren Last auf dem Haupt, vielleicht mit einem Korb voll
Früchte, Gebäck, Blumen, oder, wie eben hier, mit einem jener hohen,
noch immer die antike Form treu bewahrenden Gefäße dahinschreiten.
Ja man hat wohl gerade in dieser Art, das Wasser zu tragen, nicht
den schwächsten Grund für jene ausgezeichnete, jeden Nordländer so
sehr überraschende Körperhaltung zu suchen. Bedarf es doch eines
äußerst sicheren, gleichmäßigen, leichten Schrittes, einer äußerst geraden
und straffen Haltung des Nackens und des ganzen übrigen Körpers, um
dem hohen Gefäß da oben das Gleichgewicht zu bewahren. Dieser
Schritt, diese Haltung werden zur Gewohnheit. Die Sitte unserer
Länder dagegen, das Wasser mittels schwerer Eimer in den Händen
oder in schweren Butten auf dem Rücken fortzuschaffen, beugt den
Körper unschön nach vorn und hat einen schweren, plumpen Gang
zur Folge.

Aber auch selbst eine sehr schwere Last auf dem Kopf vermag die
zum größten Theil freilich angeborene Grazie jener Frauen nicht ganz
zu unterdrücken. Wir sahen ein bildhübsches, kaum sechszehnjähriges
Mädchen von eher zartem als robustem Körperbau einen vollen
Scheffelsack Mehl auf die genannte Weise die hohen, steilen Felsen-
treppen hinter Amalfi herab zu den Makkaronimühlen am Strande
tragen, und es war doch nichts Schwerfälliges in ihrem Gang, und
das Lächeln und vor Allem die Bewegung, mit der sie ihr " date mi
un Bajocco
" begleitete, hätte schließlich auch kein Maler oder Bild-
hauer anmuthiger zu geben vermocht. Eine lange Kolonne von
fünfzig oder sechszig Frauen, die wir in einer andern Gegend Neapels
in Körben auf dem Kopf Erdreich und Steine zu einem Eisenbahn-
damm herbeibringen sahen, bewegte sich mit einem Anstand dahin,
als ob sie heilig Opfergeräth zum Tempelfest, und nicht eitel Schutt
und Staub zu einem profanen Schienenweg mit sich führte -- und
doch fürchte ich, daß unsere Jngenieure einen festen, tüchtigen Schub-
karren zu solchem Zweck für etwas geeigneter erklären dürften.

Der Anblick einer mit belastetem Haupt schön dahinschreitenden
Jtalienerin war also nichts Neues mehr für uns; aber diese da vor
uns, die jetzt, ach! hinter den Blättern verschwand -- -- ich weiß
nicht, war es bei dem jetzt schon ernstlich beginnenden Regen erhöhte
Sorge für meinen Hut, oder war es Mitleid mit den Stiefelchen
meiner Frau -- kurz, ich gab mit einer plötzlichen Anwandlung von
Galanterie der mir angetrauten Reisegefährtin den Arm und zog sie
mit verdoppelter Eile, aber vielleicht mit etwas auffälliger Hast, der
Verschwundenen nach.

Die nur langsam Schreitende war bald wieder gefunden und in
wenigen Minuten erreicht. Als sie uns so eilig nachkommen hörte,
wandte sie sich um, und, wahrlich! die Ferne hatte uns nicht getäuscht,
ihr Gesicht war auch in der Nähe von frappirender Schönheit. Für
die Zähne, welche zwischen den stets ein wenig geöffneten Lippen her-
vorblitzten, hätte wohl manche Prinzessin mit Freuden ihre sämmtlichen
Diamanten und Perlen gegeben.

Ernst, gemessen, fast finster erwiderte sie unsern Gruß, und -- Heil
dem Schicksal! sie antwortete auf meine Frage, ob ein Obdach in
der Nähe sei:

"Ja, Herr, das Haus meines Vaters."

"Und wird er uns erlauben, dort unterzutreten?" fragte ich weiter.

Ein halb erstaunter, halb vorwurfsvoller Blick traf mich aus
ihrem kohlschwarzen Auge.

"Es hat Niemand ein Recht, daran zu zweifeln, Signore", ant-
wortete sie kurz und ging weiter.

Meine Frage hatte sie verletzt. Das in vielen Beziehungen so
liebenswürdige italienische Volk hält auch die Gastfreundschaft hoch und
scheint leicht beleidigt in diesem Punkt. Erst an demselben Morgen
hatte ich bei Bajä ein Häuflein Soldaten mit einer ähnlichen Frage
nicht wenig gekränkt. Wir hatten im Wachthäuschen derselben, zu
dem man nur auf einer schmalen Holzbrücke gelangen konnte, weil es
mitten in einem aus Meerwasser künstlich hergestellten See zur
Ueberwachung der in diesem See stattfindenden Salzfabrikation erbaut
war, gleichfalls Schutz vor einem Unwetter gesucht, und ich hatte
den Fehler begangen, die freundlichen Leute, welche uns mit Wein
und Früchten nach Kräften bewirthet, beim Abschied nach meiner
Schuld zu fragen.

"Wir sind Soldaten, Herr!" sagte der Unteroffizier, an die
Mütze greifend, mit stolzer Haltung, und es bedurfte manches guten
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Mit dem Frühesten zu Wagen von Neapel aufgebrochen, hatten
wir am Vormittag Bajä und das Cap Misene gesehen. Auch Austern
hatten wir selbstverständlich gefrühstückt an jenen berühmten Seen,
die schon dem Lukullus dieselben Leckerbissen geliefert, wobei wir aber
freilich aufs Neue die Bemerkung machen mußten, daß unsere nor-
dischen Meere dem Gaumen doch ungleich Besseres zu liefern haben,
als jene südlichen mit ihren meist weichlichen Produkten.

Nachdem wir also in angegebener Weise den Morgen hingebracht,
waren wir jetzt, in den ersten Nachmittagsstunden, im Begriff, die
zauberhaften Höhen hinter dem einst so prächtigen, jetzt so elenden
Puzzuoli empor zu steigen, um dem halb ausgebrannten Vulkan La
Solfatara und einigen Trümmern antiker Gebäude in seiner Um-
gebung einen Besuch abzustatten.

Des Weges unkundig, und dennoch den lästigen Dienst eines
Führers, wie gewöhnlich, verschmähend, auch bei dem furchtbaren
Sonnenbrand von all' den tiefschattigen Weinbergpfaden instinktmäßig
stets nur den schattigsten wählend, hatten wir jedoch den richtigen
Weg bald gänzlich verloren und wußten nun nicht, welcher von all'
den schmalen Fußsteigen am schnellsten, ja ob überhaupt einer von
ihnen zeitig genug zu einem schützenden Obdach führe.

„Das kömmt vom Pochen auf Deinen Ortssinn“, murrte meine
Frau; „da tröpfelt es schon — geht's rechts jetzt, geht es links?“

„Rechts, natürlich!“ rief ich mit unglaublicher Sicherheit. „Nein,
links!“ verbesserte ich mich schnell, weil mir so eben ein unverschämter
Windstoß den Strohhut vom Kopf riß und ihn weit links hinein
in die Blättergewölbe jagte. „Links, links! Das ist ja klar!“ Und
damit schoß ich, einer riesigen, vom Sturm entführten Cactus-
blüthe nicht unähnlich, der vor mir hintanzenden Bedeckung meines
Hauptes nach.

Einer Cactusblüthe — ach ja, lieber Leser! — wenn auch nicht
in der Form, so doch in der Farbe recht wohl zu vergleichen. Jch
hatte mich nämlich, längst aus Erfahrung wissend, daß das praktischste
aller Kleidungsstücke bei Touren in der Hitze ein wollenes Hemd sei,
auch mit diesem Artikel in Deutschland versehen, war aber dabei
durch Schicksalstücke an ein so brennend rothes gerathen, daß sich
mein Oberkörper, wenn ich, wie jetzt, ohne Weste und Rock über
den Arm gehängt, einherzog, im höchsten Grade prächtig gegen
das immergrüne Laub des Südens abhob. Es war deßhalb auch
gar nicht zum Verwundern, daß die Kinder, sobald ich mich in solchem
Aufzug in einem italienischen Dorfe blicken ließ, gleich zu Dutzenden
hinter mir her waren und sich begeistert „ un patriotto!“ zuraunten.
Denn was sollten die kleinen Schmutzteufel anders, als einen Gari-
baldiner von ächtem Schrot und Korn unter so leuchtender Wolle
vermuthen? Jm Geschwindschritt, unter immer heftigerem Donner und
Sturm, eilten wir jetzt auf dem nach links führenden Pfade weiter
empor. Und wahrlich, noch heut danke ich es jenem getreuen Stroh-
hut, daß er, er allein, der vielgeprüfte, der jetzt leider pensionirt und
altersschwach an der Wand meines Zimmers verstäubt, uns damals
hinwies auf einen Weg, der uns zu einer der anmuthigsten Reise-
erinnerungen verhelfen sollte.

Wir waren noch nicht zwei Minuten dahingetrabt, als bei einer
scharfen Wendung des Pfades meine Frau plötzlich stehen blieb, mich
am Arm faßte und mir ganz erregt zuflüsterte:

„Sieh, wie schön!“

Jch folgte ihrem Auge und sah eine Erscheinung vor mir, die ich
unbedingt zu dem Reizendsten zähle, was ich jemals geschaut.

Den Pfad etwas weiter hinauf, etwa dreißig Schritte vor uns,
stand ein Mädchen in der farbenhellen Tracht ihres Landes. Den
Arm auf ein Wassergefäß, das sie weiter unten am Berghange ge-
füllt und jetzt auf einen Rest antiken Gemäuers neben sich abgesetzt
hatte, gelehnt, die Wange auf die Hand gestützt, die unter dem auf-
geschürzten Kleide hervorlugenden Füßchen leicht über einander ge-
schlagen, schaute sie ernst, träumerisch, unbekümmert um das nahende
Wetter, durch die um sie her auf und ab wogenden Zweige hinaus
in die Gegend.

Die unbewußte und deßhalb unnachahmliche Grazie in ihrer
Stellung, die schlanke, hohe Gestalt, die nach Landessitte nur wenig
vom nachlässig zugeschnürten Mieder gezähmte Fülle ihrer Formen,
die wirklich klassische Schönheit des Gesichts, dessen dunkelfarbiger
Teint und rabenschwarzer Haarschmuck grell abstachen gegen das blen-
dende Weiß des über die Stirn zum Nacken wallenden Kopftuchs,
dazu die Ruhe der ganzen Erscheinung gegenüber der drohenden Be-
wegung in der Natur — es war ein Bild von ganz hinreißender
Wirkung.

Das vermaledeite rothe Hemd! Es verrieth uns durch sein Leuchten,
und das ganze Bild war zerstört. Die Träumende suhr überrascht
empor, blitzte uns an mit zwei Augen, so groß und so schwarz, wie
die Kirschen von Sorrent, kehrte den Blick aber sofort, schnell erken-
nend, daß wir Ausländer seien, gleichgültig wieder von uns ab, hob
mit langsamer, vollendet schöner Bewegung das Gefäß auf ihr Haupt,
wandte uns den Rücken und schritt dann fest, sicher, mit der Haltung
[Spaltenumbruch] einer Olympierin, das Gefäß auf dem Haupt wiegend, den Weg
weiter hinan. Mir aber klang es wie lauter Hexameter und Penta-
meter vor dem Ohr, und nie wohl habe ich wärmer mit den Alt-
meister Goethe gefühlt, als in diesem Augenblick, wo ich stand und
schaute und mir im Schauen immer und immer wieder die Verse aus
Alexis und Dora wiederholte:

„Und vom Brunnen, wie kühn! wiegte Dein Haupt das Gefäß.
Da erschien Dein Hals, erschien Dein Nacken vor allen
Und vor allen erschien Deiner Bewegungen Maß!“

Es ist gewiß, daß die viel gerühmte Grazie der italienischen
Frauen nirgend glänzender hervortritt, als wenn sie mit einer nicht
allzu schweren Last auf dem Haupt, vielleicht mit einem Korb voll
Früchte, Gebäck, Blumen, oder, wie eben hier, mit einem jener hohen,
noch immer die antike Form treu bewahrenden Gefäße dahinschreiten.
Ja man hat wohl gerade in dieser Art, das Wasser zu tragen, nicht
den schwächsten Grund für jene ausgezeichnete, jeden Nordländer so
sehr überraschende Körperhaltung zu suchen. Bedarf es doch eines
äußerst sicheren, gleichmäßigen, leichten Schrittes, einer äußerst geraden
und straffen Haltung des Nackens und des ganzen übrigen Körpers, um
dem hohen Gefäß da oben das Gleichgewicht zu bewahren. Dieser
Schritt, diese Haltung werden zur Gewohnheit. Die Sitte unserer
Länder dagegen, das Wasser mittels schwerer Eimer in den Händen
oder in schweren Butten auf dem Rücken fortzuschaffen, beugt den
Körper unschön nach vorn und hat einen schweren, plumpen Gang
zur Folge.

Aber auch selbst eine sehr schwere Last auf dem Kopf vermag die
zum größten Theil freilich angeborene Grazie jener Frauen nicht ganz
zu unterdrücken. Wir sahen ein bildhübsches, kaum sechszehnjähriges
Mädchen von eher zartem als robustem Körperbau einen vollen
Scheffelsack Mehl auf die genannte Weise die hohen, steilen Felsen-
treppen hinter Amalfi herab zu den Makkaronimühlen am Strande
tragen, und es war doch nichts Schwerfälliges in ihrem Gang, und
das Lächeln und vor Allem die Bewegung, mit der sie ihr „ date mi
un Bajocco
“ begleitete, hätte schließlich auch kein Maler oder Bild-
hauer anmuthiger zu geben vermocht. Eine lange Kolonne von
fünfzig oder sechszig Frauen, die wir in einer andern Gegend Neapels
in Körben auf dem Kopf Erdreich und Steine zu einem Eisenbahn-
damm herbeibringen sahen, bewegte sich mit einem Anstand dahin,
als ob sie heilig Opfergeräth zum Tempelfest, und nicht eitel Schutt
und Staub zu einem profanen Schienenweg mit sich führte — und
doch fürchte ich, daß unsere Jngenieure einen festen, tüchtigen Schub-
karren zu solchem Zweck für etwas geeigneter erklären dürften.

Der Anblick einer mit belastetem Haupt schön dahinschreitenden
Jtalienerin war also nichts Neues mehr für uns; aber diese da vor
uns, die jetzt, ach! hinter den Blättern verschwand — — ich weiß
nicht, war es bei dem jetzt schon ernstlich beginnenden Regen erhöhte
Sorge für meinen Hut, oder war es Mitleid mit den Stiefelchen
meiner Frau — kurz, ich gab mit einer plötzlichen Anwandlung von
Galanterie der mir angetrauten Reisegefährtin den Arm und zog sie
mit verdoppelter Eile, aber vielleicht mit etwas auffälliger Hast, der
Verschwundenen nach.

Die nur langsam Schreitende war bald wieder gefunden und in
wenigen Minuten erreicht. Als sie uns so eilig nachkommen hörte,
wandte sie sich um, und, wahrlich! die Ferne hatte uns nicht getäuscht,
ihr Gesicht war auch in der Nähe von frappirender Schönheit. Für
die Zähne, welche zwischen den stets ein wenig geöffneten Lippen her-
vorblitzten, hätte wohl manche Prinzessin mit Freuden ihre sämmtlichen
Diamanten und Perlen gegeben.

Ernst, gemessen, fast finster erwiderte sie unsern Gruß, und — Heil
dem Schicksal! sie antwortete auf meine Frage, ob ein Obdach in
der Nähe sei:

„Ja, Herr, das Haus meines Vaters.“

„Und wird er uns erlauben, dort unterzutreten?“ fragte ich weiter.

Ein halb erstaunter, halb vorwurfsvoller Blick traf mich aus
ihrem kohlschwarzen Auge.

„Es hat Niemand ein Recht, daran zu zweifeln, Signore“, ant-
wortete sie kurz und ging weiter.

Meine Frage hatte sie verletzt. Das in vielen Beziehungen so
liebenswürdige italienische Volk hält auch die Gastfreundschaft hoch und
scheint leicht beleidigt in diesem Punkt. Erst an demselben Morgen
hatte ich bei Bajä ein Häuflein Soldaten mit einer ähnlichen Frage
nicht wenig gekränkt. Wir hatten im Wachthäuschen derselben, zu
dem man nur auf einer schmalen Holzbrücke gelangen konnte, weil es
mitten in einem aus Meerwasser künstlich hergestellten See zur
Ueberwachung der in diesem See stattfindenden Salzfabrikation erbaut
war, gleichfalls Schutz vor einem Unwetter gesucht, und ich hatte
den Fehler begangen, die freundlichen Leute, welche uns mit Wein
und Früchten nach Kräften bewirthet, beim Abschied nach meiner
Schuld zu fragen.

„Wir sind Soldaten, Herr!“ sagte der Unteroffizier, an die
Mütze greifend, mit stolzer Haltung, und es bedurfte manches guten
[Ende Spaltensatz]

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[219/0003] 219 Mit dem Frühesten zu Wagen von Neapel aufgebrochen, hatten wir am Vormittag Bajä und das Cap Misene gesehen. Auch Austern hatten wir selbstverständlich gefrühstückt an jenen berühmten Seen, die schon dem Lukullus dieselben Leckerbissen geliefert, wobei wir aber freilich aufs Neue die Bemerkung machen mußten, daß unsere nor- dischen Meere dem Gaumen doch ungleich Besseres zu liefern haben, als jene südlichen mit ihren meist weichlichen Produkten. Nachdem wir also in angegebener Weise den Morgen hingebracht, waren wir jetzt, in den ersten Nachmittagsstunden, im Begriff, die zauberhaften Höhen hinter dem einst so prächtigen, jetzt so elenden Puzzuoli empor zu steigen, um dem halb ausgebrannten Vulkan La Solfatara und einigen Trümmern antiker Gebäude in seiner Um- gebung einen Besuch abzustatten. Des Weges unkundig, und dennoch den lästigen Dienst eines Führers, wie gewöhnlich, verschmähend, auch bei dem furchtbaren Sonnenbrand von all' den tiefschattigen Weinbergpfaden instinktmäßig stets nur den schattigsten wählend, hatten wir jedoch den richtigen Weg bald gänzlich verloren und wußten nun nicht, welcher von all' den schmalen Fußsteigen am schnellsten, ja ob überhaupt einer von ihnen zeitig genug zu einem schützenden Obdach führe. „Das kömmt vom Pochen auf Deinen Ortssinn“, murrte meine Frau; „da tröpfelt es schon — geht's rechts jetzt, geht es links?“ „Rechts, natürlich!“ rief ich mit unglaublicher Sicherheit. „Nein, links!“ verbesserte ich mich schnell, weil mir so eben ein unverschämter Windstoß den Strohhut vom Kopf riß und ihn weit links hinein in die Blättergewölbe jagte. „Links, links! Das ist ja klar!“ Und damit schoß ich, einer riesigen, vom Sturm entführten Cactus- blüthe nicht unähnlich, der vor mir hintanzenden Bedeckung meines Hauptes nach. Einer Cactusblüthe — ach ja, lieber Leser! — wenn auch nicht in der Form, so doch in der Farbe recht wohl zu vergleichen. Jch hatte mich nämlich, längst aus Erfahrung wissend, daß das praktischste aller Kleidungsstücke bei Touren in der Hitze ein wollenes Hemd sei, auch mit diesem Artikel in Deutschland versehen, war aber dabei durch Schicksalstücke an ein so brennend rothes gerathen, daß sich mein Oberkörper, wenn ich, wie jetzt, ohne Weste und Rock über den Arm gehängt, einherzog, im höchsten Grade prächtig gegen das immergrüne Laub des Südens abhob. Es war deßhalb auch gar nicht zum Verwundern, daß die Kinder, sobald ich mich in solchem Aufzug in einem italienischen Dorfe blicken ließ, gleich zu Dutzenden hinter mir her waren und sich begeistert „ un patriotto!“ zuraunten. Denn was sollten die kleinen Schmutzteufel anders, als einen Gari- baldiner von ächtem Schrot und Korn unter so leuchtender Wolle vermuthen? Jm Geschwindschritt, unter immer heftigerem Donner und Sturm, eilten wir jetzt auf dem nach links führenden Pfade weiter empor. Und wahrlich, noch heut danke ich es jenem getreuen Stroh- hut, daß er, er allein, der vielgeprüfte, der jetzt leider pensionirt und altersschwach an der Wand meines Zimmers verstäubt, uns damals hinwies auf einen Weg, der uns zu einer der anmuthigsten Reise- erinnerungen verhelfen sollte. Wir waren noch nicht zwei Minuten dahingetrabt, als bei einer scharfen Wendung des Pfades meine Frau plötzlich stehen blieb, mich am Arm faßte und mir ganz erregt zuflüsterte: „Sieh, wie schön!“ Jch folgte ihrem Auge und sah eine Erscheinung vor mir, die ich unbedingt zu dem Reizendsten zähle, was ich jemals geschaut. Den Pfad etwas weiter hinauf, etwa dreißig Schritte vor uns, stand ein Mädchen in der farbenhellen Tracht ihres Landes. Den Arm auf ein Wassergefäß, das sie weiter unten am Berghange ge- füllt und jetzt auf einen Rest antiken Gemäuers neben sich abgesetzt hatte, gelehnt, die Wange auf die Hand gestützt, die unter dem auf- geschürzten Kleide hervorlugenden Füßchen leicht über einander ge- schlagen, schaute sie ernst, träumerisch, unbekümmert um das nahende Wetter, durch die um sie her auf und ab wogenden Zweige hinaus in die Gegend. Die unbewußte und deßhalb unnachahmliche Grazie in ihrer Stellung, die schlanke, hohe Gestalt, die nach Landessitte nur wenig vom nachlässig zugeschnürten Mieder gezähmte Fülle ihrer Formen, die wirklich klassische Schönheit des Gesichts, dessen dunkelfarbiger Teint und rabenschwarzer Haarschmuck grell abstachen gegen das blen- dende Weiß des über die Stirn zum Nacken wallenden Kopftuchs, dazu die Ruhe der ganzen Erscheinung gegenüber der drohenden Be- wegung in der Natur — es war ein Bild von ganz hinreißender Wirkung. Das vermaledeite rothe Hemd! Es verrieth uns durch sein Leuchten, und das ganze Bild war zerstört. Die Träumende suhr überrascht empor, blitzte uns an mit zwei Augen, so groß und so schwarz, wie die Kirschen von Sorrent, kehrte den Blick aber sofort, schnell erken- nend, daß wir Ausländer seien, gleichgültig wieder von uns ab, hob mit langsamer, vollendet schöner Bewegung das Gefäß auf ihr Haupt, wandte uns den Rücken und schritt dann fest, sicher, mit der Haltung einer Olympierin, das Gefäß auf dem Haupt wiegend, den Weg weiter hinan. Mir aber klang es wie lauter Hexameter und Penta- meter vor dem Ohr, und nie wohl habe ich wärmer mit den Alt- meister Goethe gefühlt, als in diesem Augenblick, wo ich stand und schaute und mir im Schauen immer und immer wieder die Verse aus Alexis und Dora wiederholte: „Und vom Brunnen, wie kühn! wiegte Dein Haupt das Gefäß. Da erschien Dein Hals, erschien Dein Nacken vor allen Und vor allen erschien Deiner Bewegungen Maß!“ Es ist gewiß, daß die viel gerühmte Grazie der italienischen Frauen nirgend glänzender hervortritt, als wenn sie mit einer nicht allzu schweren Last auf dem Haupt, vielleicht mit einem Korb voll Früchte, Gebäck, Blumen, oder, wie eben hier, mit einem jener hohen, noch immer die antike Form treu bewahrenden Gefäße dahinschreiten. Ja man hat wohl gerade in dieser Art, das Wasser zu tragen, nicht den schwächsten Grund für jene ausgezeichnete, jeden Nordländer so sehr überraschende Körperhaltung zu suchen. Bedarf es doch eines äußerst sicheren, gleichmäßigen, leichten Schrittes, einer äußerst geraden und straffen Haltung des Nackens und des ganzen übrigen Körpers, um dem hohen Gefäß da oben das Gleichgewicht zu bewahren. Dieser Schritt, diese Haltung werden zur Gewohnheit. Die Sitte unserer Länder dagegen, das Wasser mittels schwerer Eimer in den Händen oder in schweren Butten auf dem Rücken fortzuschaffen, beugt den Körper unschön nach vorn und hat einen schweren, plumpen Gang zur Folge. Aber auch selbst eine sehr schwere Last auf dem Kopf vermag die zum größten Theil freilich angeborene Grazie jener Frauen nicht ganz zu unterdrücken. Wir sahen ein bildhübsches, kaum sechszehnjähriges Mädchen von eher zartem als robustem Körperbau einen vollen Scheffelsack Mehl auf die genannte Weise die hohen, steilen Felsen- treppen hinter Amalfi herab zu den Makkaronimühlen am Strande tragen, und es war doch nichts Schwerfälliges in ihrem Gang, und das Lächeln und vor Allem die Bewegung, mit der sie ihr „ date mi un Bajocco “ begleitete, hätte schließlich auch kein Maler oder Bild- hauer anmuthiger zu geben vermocht. Eine lange Kolonne von fünfzig oder sechszig Frauen, die wir in einer andern Gegend Neapels in Körben auf dem Kopf Erdreich und Steine zu einem Eisenbahn- damm herbeibringen sahen, bewegte sich mit einem Anstand dahin, als ob sie heilig Opfergeräth zum Tempelfest, und nicht eitel Schutt und Staub zu einem profanen Schienenweg mit sich führte — und doch fürchte ich, daß unsere Jngenieure einen festen, tüchtigen Schub- karren zu solchem Zweck für etwas geeigneter erklären dürften. Der Anblick einer mit belastetem Haupt schön dahinschreitenden Jtalienerin war also nichts Neues mehr für uns; aber diese da vor uns, die jetzt, ach! hinter den Blättern verschwand — — ich weiß nicht, war es bei dem jetzt schon ernstlich beginnenden Regen erhöhte Sorge für meinen Hut, oder war es Mitleid mit den Stiefelchen meiner Frau — kurz, ich gab mit einer plötzlichen Anwandlung von Galanterie der mir angetrauten Reisegefährtin den Arm und zog sie mit verdoppelter Eile, aber vielleicht mit etwas auffälliger Hast, der Verschwundenen nach. Die nur langsam Schreitende war bald wieder gefunden und in wenigen Minuten erreicht. Als sie uns so eilig nachkommen hörte, wandte sie sich um, und, wahrlich! die Ferne hatte uns nicht getäuscht, ihr Gesicht war auch in der Nähe von frappirender Schönheit. Für die Zähne, welche zwischen den stets ein wenig geöffneten Lippen her- vorblitzten, hätte wohl manche Prinzessin mit Freuden ihre sämmtlichen Diamanten und Perlen gegeben. Ernst, gemessen, fast finster erwiderte sie unsern Gruß, und — Heil dem Schicksal! sie antwortete auf meine Frage, ob ein Obdach in der Nähe sei: „Ja, Herr, das Haus meines Vaters.“ „Und wird er uns erlauben, dort unterzutreten?“ fragte ich weiter. Ein halb erstaunter, halb vorwurfsvoller Blick traf mich aus ihrem kohlschwarzen Auge. „Es hat Niemand ein Recht, daran zu zweifeln, Signore“, ant- wortete sie kurz und ging weiter. Meine Frage hatte sie verletzt. Das in vielen Beziehungen so liebenswürdige italienische Volk hält auch die Gastfreundschaft hoch und scheint leicht beleidigt in diesem Punkt. Erst an demselben Morgen hatte ich bei Bajä ein Häuflein Soldaten mit einer ähnlichen Frage nicht wenig gekränkt. Wir hatten im Wachthäuschen derselben, zu dem man nur auf einer schmalen Holzbrücke gelangen konnte, weil es mitten in einem aus Meerwasser künstlich hergestellten See zur Ueberwachung der in diesem See stattfindenden Salzfabrikation erbaut war, gleichfalls Schutz vor einem Unwetter gesucht, und ich hatte den Fehler begangen, die freundlichen Leute, welche uns mit Wein und Früchten nach Kräften bewirthet, beim Abschied nach meiner Schuld zu fragen. „Wir sind Soldaten, Herr!“ sagte der Unteroffizier, an die Mütze greifend, mit stolzer Haltung, und es bedurfte manches guten

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 28. Berlin, 12. Juli 1868, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt28_1868/3>, abgerufen am 06.06.2024.