Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sonntags-Blatt. Nr. 28. Berlin, 12. Juli 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] so trieb er denn, zum Jubel der Kleinen, stets das Schönste auf,
was sich an Blumen in den Gärtnereien vorfand. Daß die an-
spruchslose Frau, welche unten ruhte, über eine solche Verschwendung
schier außer sich gerathen wäre, fiel ihm nicht mehr ein. Bewies er
durch diese Ausgabe doch nur seine Liebe und Treue!

Mit der vorschreitenden Jahreszeit waren die Wallfahrten zu den
theuren Gräbern auf eine spätere Tageszeit verlegt worden. Jetzt
glichen die Hügel Rosenbanken und wurden täglich mit frischen Blü-
then besteckt.

Heut harrte Vater und Tochter mit dem vollen Körbchen
vergebens der "Nachbarin", und die Sonne neigte sich schon zum
Untergehen.

Das Nichterscheinen seiner Trauergefährtin ließ den Wittwer erst
empfinden, wie viel leichter ein gemeinsam getragenes Leid sei, und
wie sehr er sich schon an diese Gemeinsamkeit gewöhnt habe. Jn der
Einsamkeit gährte der Schmerz um die Geschiedene wieder heftiger
auf, ward er sich seines unersetzlichen Verlustes mit so schneidender
Schärfe bewußt, wie nur je in der ersten Zeit des Unglücks. Da-
neben machte die Befürchtung sich geltend, seiner Leidensgenossin möchte
irgend ein Unfall begegnet sein.

Um so erleichterter athmete er auf, als endlich ihr Kreppkleid durch
die Büsche sichtbar wurde. Hastig ging er ihr entgegen.

"Jch fürchtete schon ein neues Unglück, da Sie so lange aus-
blieben."

Sie schlug den Schleier zurück -- ihre Augen waren roth geweint.

"Um Gotteswillen -- was ist geschehen?"

"O, nichts, als daß ich bald gar nicht mehr hierher kommen
werde! Hierher, wo mein Alles ruht, zu diesem Plätzchen, das mir
ewig das liebste --"

Die erkünstelte Fassung verließ sie. Laut weinend warf sie sich
neben Edgars Grab nieder und drückte das Gesicht in die Rosen auf
demselben.

Vergebens sein Fragen, sein Drängen, seine Angst. Endlich hob
er sie mit sanfter Gewalt empor und führte die nur schwach Wider-
strebende zur Bank. Jhre Hände zwischen den seinen haltend, redete
er ihr zu wie einem Kinde, bis sie endlich hervorschluchzte, sie müsse
zur Tante zurück, fort von hier, von dem theuren Grabe.

"Müssen! Warum müssen Sie?"

Sie wandte schmerzlich das Gesicht ab und rang nach Worten.
Er begriff, daß ihr die Mittel zu einer ferneren selbstständigen Existenz
fehlten. Durch Arbeit konnte sie sich nicht erhalten, so natürlich ihm
das bei jeder Andern erschienen wäre; Eines schickt sich eben nicht
für Alle. Er kannte Goethe nicht, das aber wußte er vollkommen.

"Ueberdies findet man -- die Leute -- unser häufiges Beisammen-
sein hier -- o Gott, die Welt ist arg, und -- ich --" sie stockte.

"Die Welt! Geben Sie Etwas auf die Welt? Meine Julie that
es nicht."

"Jch auch nicht, wo ich mir keines Unrechts, nur einer Pflicht-
erfüllung bewußt bin, wie hier!" -- Sie richtete sich stolz auf.

"Gottlob, dann bleiben Sie also!"

Sie schüttelte trübe den Kopf.

"Aber wer wird das Grab pflegen -- oder vielmehr die Gräber?
Denn auch das meiner Julie gedeiht nicht ohne Jhre glückliche Hand.
Sie selber würden sich nach diesem Plätzchen stets zurücksehnen,
und ich --"

Er hielt schmerzerfüllt inne.

"Ob ich mich zurücksehnen würde? Ewig!" rief sie, Augen und
Hände zum Himmel erhebend. "Es ist ja die einzige Heimath, die
ich hienieden habe."

"Nun also? Sie bleiben, bleiben -- damit wir auch ferner ge-
meinsam unsere Lieben betrauern und ihre Gräber schmücken können."

Sie wollte aufstehen, wie um dem lockenden Vorschlag zu entflie-
hen. Er legte, sie zurückhaltend, den Arm um sie. Wie schutzlos
und verlassen war sie -- wie erwünscht ihr als sicherer Halt der starke
Arm eines Mannes! Sie blieb sitzen.

[Spaltenumbruch]

Die kleine Bertha hatte stumm und unbeachtet daneben gestanden.
Jetzt brach sie in die geflügelten Worte aus:

"Aha, darum sagt der Guste ihre Mutter: ich bekäme bald eine
neue Mama!"

Das war ein großes Wort -- das richtige Wort. Zuerst ver-
ursachte es Erschrecken, Verlegenheit, Unruhe -- dann Nachdenken.
Zuletzt -- wie konnten sie besser gemeinsam ihre Lieben betrauern,
deren Gräber schmücken und gute Nachbarschaft halten, gleich ihren
Heimgegangenen, die ihnen ewig unvergeßlich waren?

Adolphine küßte das Kind, welches sich mit der Mama ganz zu-
frieden zeigte, und verließ am Arm des Vaters den Friedhof.

Fortan holte er sie ab zu dem Gang nach dem Kirchhof, und sie
führte sorglich die Kleine an der Hand. Niemals, selbst in der ersten
Zeit ihrer Bekanntschaft nicht, hatten sie mehr von seiner guten Julie
und ihrem ewig geliebten Edgar gesprochen. Bald aber drängten
sich andere Gesprächsgegenstände auf -- der Lebende hat Recht.
Adolphine ließ den Anzug des Kindes nach ihrem Geschmack ändern,
der Vater verwandte auf seinen äußern Menschen ungleich mehr
Sorgfalt denn je zuvor. Die Leute bedauerten ihn -- mit Unrecht.
Er entdeckte täglich neue Vorzüge an seiner Braut, wie einst an seiner
verstorbenen Frau -- freilich nicht Vorzüge, wie Julie sie besessen
hatte, aber doch höchst schätzenswerthe. Wie sich Eines nicht für Alle
schickt, so können auch nicht alle Frauen gleich sein. Schwandt war
einer jener Männer, die jede Frau glücklich machen kann, weil es eben
die ihrige ist. Und gälte es ein Abwägen der Tugenden der Ersten
und der Zweiten, so würde er seine Julie gewiß gebührend rühmen,
allein -- der Lebende hat Recht.

Arme Julie! -- Armer Edgar!

Die junge Frau kam erst jetzt darüber ins Klare, was sie als
Gattin eines unbemittelten, obwohl hochstrebenden Künstlers gelitten
habe, und daß ein dem Realen zugewandter Mann sichrere Chancen
einer glücklichen Ehe biete. Und wie herzensgut war Schwandt, wie
bildungsfähig, d. h. wie fügsam und allen ihren Wünschen zuvor-
kommend! Auch bei ihr -- behielt der Lebende Recht.

Die Verstorbenen bekamen deßhalb doch täglich ihre frischen Blu-
men und Kränze, je nach der Jahreszeit, Levkoyen, Dahlien, Astern;
ja, die Wittwe meinte, ihr Edgar habe ihr einen Schutz und Schirm
gesandt in dem zweiten Verlobten, und der Wittwer war wenigstens
überzeugt, seine Julie freue sich im Himmel des neuen Glücks, das
ihm über ihrem Grabe erblüht sei.

Ob mit Recht? -- Die Lebenden haben es freilich immer. Und die
Todten erheben keinen Protest dagegen; sie wissen nicht, was hier
"Ewig" heißt.

Bei den kürzer werdenden Tagen ward der Spaziergang wieder
in die Mittagsstunde verlegt. Die kleine Bertha war nicht dabei,
sie befand sich für längere Zeit bei der Großmutter. Der Aufenthalt an
den Ruhestätten wurde auch immer kürzer -- der Temperatur wegen.
Nur zum Theil wegen der äußeren Temperatur. Obgleich Beide
überzeugt waren, ihre "Seligen" lächelten herab auf ihr wachsendes
Glück, ihren zunehmenden Frohsinn, freuten sich des wirksamen Trostes,
den sie in einander gefunden, fühlten sie doch instinktiv, dieser Ort
sei nur ihrer gemeinsamen Trauer gewidmet gewesen; der Aufenthalt
hier muthete sie immer weniger an.

Der Besuch und das Schmücken der Gräber war freilich eine
heilige Pflicht, die nimmer vernachlässigt werden durfte -- Adolphine
trug stets zwei Kränze zum Gottesacker hinaus. Allein bei dem ein-
tretenden Herbstwetter konnte man sich doch nicht einer Erkältung
aussetzen, auch ließen sich die Hügel nicht mehr mit frischen Blumen
zieren; man besuchte sie also nur an schönen Tagen, und das Jmmer-
grün wurde als der zweckmäßigste Schmuck erkannt.

Dann unterbrach der Winter diese Wallfahrten ganz, und als
seine Schneedecke schmolz, betraute man mit der Pflege der theuren
Hügel -- das Todtengräberpaar.

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]
Unter Orangen und Reben.
Reiseskizze.

Ein Donnerschlag, so furchtbar wie ihn nur der Süden hervor-
zubringen vermag, durchzitterte plötzlich die glühende Luft.

"Ha!" antwortete es im Diskant von den Lippen meiner Frau.

"Nanu?" von den meinigen im Baß.

Da standen wir Beide wie die -- nun wie man eben dasteht,
wenn's donnert. Wir starrten in die Höhe, wir starrten zur Seite,
um den Himmel zu prüfen; aber es war ganz unmöglich, Etwas von
ihm wahrzunehmen. Blättermassen rechts, Blättermassen links, Oran-
genzweige und Reben, Reben und Orangenzweige, über uns, vor uns,
[Spaltenumbruch] den Berghang hinauf, den Berghang hinunter Orangenzweige und
Reben, Reben und Orangenzweige, ein wahres Labyrinth von Ge-
wölben und Grotten aus dunkelstem Grün. So war uns also nicht
einmal der Trost vergönnt, zu wissen, von welcher Seite sich denn
eigentlich das brüllende Ungemach heranwälze.

Dem Donner folgte in wenigen Augenblicken der Sturm. Wie
rasend schnaubte es von der See her gegen die Bergwand. Ein
wahres Schneegestöber von weißen, duftigen Blüthen wirbelte durch
die Aeste und machte es uns, die wir schon zwei Stunden vorher
hatten kennen lernen, was ein Gewitter im Süden zu bedeuten habe,
nur allzu klar, daß in wenigen Minuten auch das Wasser, und zwar
wie aus Kannen gegossen, über uns hereinbrechen werde. Das war
keine angenehme Aussicht.

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] so trieb er denn, zum Jubel der Kleinen, stets das Schönste auf,
was sich an Blumen in den Gärtnereien vorfand. Daß die an-
spruchslose Frau, welche unten ruhte, über eine solche Verschwendung
schier außer sich gerathen wäre, fiel ihm nicht mehr ein. Bewies er
durch diese Ausgabe doch nur seine Liebe und Treue!

Mit der vorschreitenden Jahreszeit waren die Wallfahrten zu den
theuren Gräbern auf eine spätere Tageszeit verlegt worden. Jetzt
glichen die Hügel Rosenbanken und wurden täglich mit frischen Blü-
then besteckt.

Heut harrte Vater und Tochter mit dem vollen Körbchen
vergebens der „Nachbarin“, und die Sonne neigte sich schon zum
Untergehen.

Das Nichterscheinen seiner Trauergefährtin ließ den Wittwer erst
empfinden, wie viel leichter ein gemeinsam getragenes Leid sei, und
wie sehr er sich schon an diese Gemeinsamkeit gewöhnt habe. Jn der
Einsamkeit gährte der Schmerz um die Geschiedene wieder heftiger
auf, ward er sich seines unersetzlichen Verlustes mit so schneidender
Schärfe bewußt, wie nur je in der ersten Zeit des Unglücks. Da-
neben machte die Befürchtung sich geltend, seiner Leidensgenossin möchte
irgend ein Unfall begegnet sein.

Um so erleichterter athmete er auf, als endlich ihr Kreppkleid durch
die Büsche sichtbar wurde. Hastig ging er ihr entgegen.

„Jch fürchtete schon ein neues Unglück, da Sie so lange aus-
blieben.“

Sie schlug den Schleier zurück — ihre Augen waren roth geweint.

„Um Gotteswillen — was ist geschehen?“

„O, nichts, als daß ich bald gar nicht mehr hierher kommen
werde! Hierher, wo mein Alles ruht, zu diesem Plätzchen, das mir
ewig das liebste —“

Die erkünstelte Fassung verließ sie. Laut weinend warf sie sich
neben Edgars Grab nieder und drückte das Gesicht in die Rosen auf
demselben.

Vergebens sein Fragen, sein Drängen, seine Angst. Endlich hob
er sie mit sanfter Gewalt empor und führte die nur schwach Wider-
strebende zur Bank. Jhre Hände zwischen den seinen haltend, redete
er ihr zu wie einem Kinde, bis sie endlich hervorschluchzte, sie müsse
zur Tante zurück, fort von hier, von dem theuren Grabe.

„Müssen! Warum müssen Sie?“

Sie wandte schmerzlich das Gesicht ab und rang nach Worten.
Er begriff, daß ihr die Mittel zu einer ferneren selbstständigen Existenz
fehlten. Durch Arbeit konnte sie sich nicht erhalten, so natürlich ihm
das bei jeder Andern erschienen wäre; Eines schickt sich eben nicht
für Alle. Er kannte Goethe nicht, das aber wußte er vollkommen.

„Ueberdies findet man — die Leute — unser häufiges Beisammen-
sein hier — o Gott, die Welt ist arg, und — ich —“ sie stockte.

„Die Welt! Geben Sie Etwas auf die Welt? Meine Julie that
es nicht.“

„Jch auch nicht, wo ich mir keines Unrechts, nur einer Pflicht-
erfüllung bewußt bin, wie hier!“ — Sie richtete sich stolz auf.

„Gottlob, dann bleiben Sie also!“

Sie schüttelte trübe den Kopf.

„Aber wer wird das Grab pflegen — oder vielmehr die Gräber?
Denn auch das meiner Julie gedeiht nicht ohne Jhre glückliche Hand.
Sie selber würden sich nach diesem Plätzchen stets zurücksehnen,
und ich —“

Er hielt schmerzerfüllt inne.

„Ob ich mich zurücksehnen würde? Ewig!“ rief sie, Augen und
Hände zum Himmel erhebend. „Es ist ja die einzige Heimath, die
ich hienieden habe.“

„Nun also? Sie bleiben, bleiben — damit wir auch ferner ge-
meinsam unsere Lieben betrauern und ihre Gräber schmücken können.“

Sie wollte aufstehen, wie um dem lockenden Vorschlag zu entflie-
hen. Er legte, sie zurückhaltend, den Arm um sie. Wie schutzlos
und verlassen war sie — wie erwünscht ihr als sicherer Halt der starke
Arm eines Mannes! Sie blieb sitzen.

[Spaltenumbruch]

Die kleine Bertha hatte stumm und unbeachtet daneben gestanden.
Jetzt brach sie in die geflügelten Worte aus:

„Aha, darum sagt der Guste ihre Mutter: ich bekäme bald eine
neue Mama!“

Das war ein großes Wort — das richtige Wort. Zuerst ver-
ursachte es Erschrecken, Verlegenheit, Unruhe — dann Nachdenken.
Zuletzt — wie konnten sie besser gemeinsam ihre Lieben betrauern,
deren Gräber schmücken und gute Nachbarschaft halten, gleich ihren
Heimgegangenen, die ihnen ewig unvergeßlich waren?

Adolphine küßte das Kind, welches sich mit der Mama ganz zu-
frieden zeigte, und verließ am Arm des Vaters den Friedhof.

Fortan holte er sie ab zu dem Gang nach dem Kirchhof, und sie
führte sorglich die Kleine an der Hand. Niemals, selbst in der ersten
Zeit ihrer Bekanntschaft nicht, hatten sie mehr von seiner guten Julie
und ihrem ewig geliebten Edgar gesprochen. Bald aber drängten
sich andere Gesprächsgegenstände auf — der Lebende hat Recht.
Adolphine ließ den Anzug des Kindes nach ihrem Geschmack ändern,
der Vater verwandte auf seinen äußern Menschen ungleich mehr
Sorgfalt denn je zuvor. Die Leute bedauerten ihn — mit Unrecht.
Er entdeckte täglich neue Vorzüge an seiner Braut, wie einst an seiner
verstorbenen Frau — freilich nicht Vorzüge, wie Julie sie besessen
hatte, aber doch höchst schätzenswerthe. Wie sich Eines nicht für Alle
schickt, so können auch nicht alle Frauen gleich sein. Schwandt war
einer jener Männer, die jede Frau glücklich machen kann, weil es eben
die ihrige ist. Und gälte es ein Abwägen der Tugenden der Ersten
und der Zweiten, so würde er seine Julie gewiß gebührend rühmen,
allein — der Lebende hat Recht.

Arme Julie! — Armer Edgar!

Die junge Frau kam erst jetzt darüber ins Klare, was sie als
Gattin eines unbemittelten, obwohl hochstrebenden Künstlers gelitten
habe, und daß ein dem Realen zugewandter Mann sichrere Chancen
einer glücklichen Ehe biete. Und wie herzensgut war Schwandt, wie
bildungsfähig, d. h. wie fügsam und allen ihren Wünschen zuvor-
kommend! Auch bei ihr — behielt der Lebende Recht.

Die Verstorbenen bekamen deßhalb doch täglich ihre frischen Blu-
men und Kränze, je nach der Jahreszeit, Levkoyen, Dahlien, Astern;
ja, die Wittwe meinte, ihr Edgar habe ihr einen Schutz und Schirm
gesandt in dem zweiten Verlobten, und der Wittwer war wenigstens
überzeugt, seine Julie freue sich im Himmel des neuen Glücks, das
ihm über ihrem Grabe erblüht sei.

Ob mit Recht? — Die Lebenden haben es freilich immer. Und die
Todten erheben keinen Protest dagegen; sie wissen nicht, was hier
„Ewig“ heißt.

Bei den kürzer werdenden Tagen ward der Spaziergang wieder
in die Mittagsstunde verlegt. Die kleine Bertha war nicht dabei,
sie befand sich für längere Zeit bei der Großmutter. Der Aufenthalt an
den Ruhestätten wurde auch immer kürzer — der Temperatur wegen.
Nur zum Theil wegen der äußeren Temperatur. Obgleich Beide
überzeugt waren, ihre „Seligen“ lächelten herab auf ihr wachsendes
Glück, ihren zunehmenden Frohsinn, freuten sich des wirksamen Trostes,
den sie in einander gefunden, fühlten sie doch instinktiv, dieser Ort
sei nur ihrer gemeinsamen Trauer gewidmet gewesen; der Aufenthalt
hier muthete sie immer weniger an.

Der Besuch und das Schmücken der Gräber war freilich eine
heilige Pflicht, die nimmer vernachlässigt werden durfte — Adolphine
trug stets zwei Kränze zum Gottesacker hinaus. Allein bei dem ein-
tretenden Herbstwetter konnte man sich doch nicht einer Erkältung
aussetzen, auch ließen sich die Hügel nicht mehr mit frischen Blumen
zieren; man besuchte sie also nur an schönen Tagen, und das Jmmer-
grün wurde als der zweckmäßigste Schmuck erkannt.

Dann unterbrach der Winter diese Wallfahrten ganz, und als
seine Schneedecke schmolz, betraute man mit der Pflege der theuren
Hügel — das Todtengräberpaar.

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]
Unter Orangen und Reben.
Reiseskizze.

Ein Donnerschlag, so furchtbar wie ihn nur der Süden hervor-
zubringen vermag, durchzitterte plötzlich die glühende Luft.

„Ha!“ antwortete es im Diskant von den Lippen meiner Frau.

„Nanu?“ von den meinigen im Baß.

Da standen wir Beide wie die — nun wie man eben dasteht,
wenn's donnert. Wir starrten in die Höhe, wir starrten zur Seite,
um den Himmel zu prüfen; aber es war ganz unmöglich, Etwas von
ihm wahrzunehmen. Blättermassen rechts, Blättermassen links, Oran-
genzweige und Reben, Reben und Orangenzweige, über uns, vor uns,
[Spaltenumbruch] den Berghang hinauf, den Berghang hinunter Orangenzweige und
Reben, Reben und Orangenzweige, ein wahres Labyrinth von Ge-
wölben und Grotten aus dunkelstem Grün. So war uns also nicht
einmal der Trost vergönnt, zu wissen, von welcher Seite sich denn
eigentlich das brüllende Ungemach heranwälze.

Dem Donner folgte in wenigen Augenblicken der Sturm. Wie
rasend schnaubte es von der See her gegen die Bergwand. Ein
wahres Schneegestöber von weißen, duftigen Blüthen wirbelte durch
die Aeste und machte es uns, die wir schon zwei Stunden vorher
hatten kennen lernen, was ein Gewitter im Süden zu bedeuten habe,
nur allzu klar, daß in wenigen Minuten auch das Wasser, und zwar
wie aus Kannen gegossen, über uns hereinbrechen werde. Das war
keine angenehme Aussicht.

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div xml:id="ewig2" type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0002" n="218"/><fw type="pageNum" place="top">218</fw><cb type="start"/>
so trieb er denn, zum Jubel der Kleinen, stets das Schönste auf,<lb/>
was sich an Blumen in den Gärtnereien vorfand. Daß die an-<lb/>
spruchslose Frau, welche unten ruhte, über eine solche Verschwendung<lb/>
schier außer sich gerathen wäre, fiel ihm nicht mehr ein. Bewies er<lb/>
durch diese Ausgabe doch nur seine Liebe und Treue!</p><lb/>
        <p>Mit der vorschreitenden Jahreszeit waren die Wallfahrten zu den<lb/>
theuren Gräbern auf eine spätere Tageszeit verlegt worden. Jetzt<lb/>
glichen die Hügel Rosenbanken und wurden täglich mit frischen Blü-<lb/>
then besteckt.</p><lb/>
        <p>Heut harrte Vater und Tochter mit dem vollen Körbchen<lb/>
vergebens der &#x201E;Nachbarin&#x201C;, und die Sonne neigte sich schon zum<lb/>
Untergehen.</p><lb/>
        <p>Das Nichterscheinen seiner Trauergefährtin ließ den Wittwer erst<lb/>
empfinden, wie viel leichter ein gemeinsam getragenes Leid sei, und<lb/>
wie sehr er sich schon an diese Gemeinsamkeit gewöhnt habe. Jn der<lb/>
Einsamkeit gährte der Schmerz um die Geschiedene wieder heftiger<lb/>
auf, ward er sich seines unersetzlichen Verlustes mit so schneidender<lb/>
Schärfe bewußt, wie nur je in der ersten Zeit des Unglücks. Da-<lb/>
neben machte die Befürchtung sich geltend, seiner Leidensgenossin möchte<lb/>
irgend ein Unfall begegnet sein.</p><lb/>
        <p>Um so erleichterter athmete er auf, als endlich ihr Kreppkleid durch<lb/>
die Büsche sichtbar wurde. Hastig ging er ihr entgegen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jch fürchtete schon ein neues Unglück, da Sie so lange aus-<lb/>
blieben.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie schlug den Schleier zurück &#x2014; ihre Augen waren roth geweint.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Um Gotteswillen &#x2014; was ist geschehen?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;O, nichts, als daß ich bald gar nicht mehr hierher kommen<lb/>
werde! Hierher, wo mein Alles ruht, zu diesem Plätzchen, das mir<lb/>
ewig das liebste &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die erkünstelte Fassung verließ sie. Laut weinend warf sie sich<lb/>
neben Edgars Grab nieder und drückte das Gesicht in die Rosen auf<lb/>
demselben.</p><lb/>
        <p>Vergebens sein Fragen, sein Drängen, seine Angst. Endlich hob<lb/>
er sie mit sanfter Gewalt empor und führte die nur schwach Wider-<lb/>
strebende zur Bank. Jhre Hände zwischen den seinen haltend, redete<lb/>
er ihr zu wie einem Kinde, bis sie endlich hervorschluchzte, sie müsse<lb/>
zur Tante zurück, fort von hier, von dem theuren Grabe.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Müssen! Warum <hi rendition="#g">müssen</hi> Sie?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie wandte schmerzlich das Gesicht ab und rang nach Worten.<lb/>
Er begriff, daß ihr die Mittel zu einer ferneren selbstständigen Existenz<lb/>
fehlten. Durch Arbeit konnte sie sich nicht erhalten, so natürlich ihm<lb/>
das bei jeder Andern erschienen wäre; Eines schickt sich eben nicht<lb/>
für Alle. Er kannte Goethe nicht, das aber wußte er vollkommen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ueberdies findet man &#x2014; die Leute &#x2014; unser häufiges Beisammen-<lb/>
sein hier &#x2014; o Gott, die Welt ist arg, und &#x2014; ich &#x2014;&#x201C; sie stockte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Welt! Geben Sie Etwas auf die Welt? Meine Julie that<lb/>
es nicht.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jch auch nicht, wo ich mir keines Unrechts, nur einer Pflicht-<lb/>
erfüllung bewußt bin, wie hier!&#x201C; &#x2014; Sie richtete sich stolz auf.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Gottlob, dann bleiben Sie also!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie schüttelte trübe den Kopf.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber wer wird das Grab pflegen &#x2014; oder vielmehr die Gräber?<lb/>
Denn auch das meiner Julie gedeiht nicht ohne Jhre glückliche Hand.<lb/>
Sie selber würden sich nach diesem Plätzchen stets zurücksehnen,<lb/>
und ich &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er hielt schmerzerfüllt inne.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ob ich mich zurücksehnen würde? Ewig!&#x201C; rief sie, Augen und<lb/>
Hände zum Himmel erhebend. &#x201E;Es ist ja die einzige Heimath, die<lb/>
ich hienieden habe.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nun also? Sie bleiben, bleiben &#x2014; damit wir auch ferner ge-<lb/>
meinsam unsere Lieben betrauern und ihre Gräber schmücken können.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie wollte aufstehen, wie um dem lockenden Vorschlag zu entflie-<lb/>
hen. Er legte, sie zurückhaltend, den Arm um sie. Wie schutzlos<lb/>
und verlassen war sie &#x2014; wie erwünscht ihr als sicherer Halt der starke<lb/>
Arm eines Mannes! Sie blieb sitzen.</p><lb/>
        <cb n="2"/>
        <p>Die kleine Bertha hatte stumm und unbeachtet daneben gestanden.<lb/>
Jetzt brach sie in die geflügelten Worte aus:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aha, darum sagt der Guste ihre Mutter: ich bekäme bald eine<lb/>
neue Mama!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Das war ein großes Wort &#x2014; das richtige Wort. Zuerst ver-<lb/>
ursachte es Erschrecken, Verlegenheit, Unruhe &#x2014; dann Nachdenken.<lb/>
Zuletzt &#x2014; wie konnten sie besser gemeinsam ihre Lieben betrauern,<lb/>
deren Gräber schmücken und gute Nachbarschaft halten, gleich ihren<lb/>
Heimgegangenen, die ihnen ewig unvergeßlich waren?</p><lb/>
        <p>Adolphine küßte das Kind, welches sich mit der Mama ganz zu-<lb/>
frieden zeigte, und verließ am Arm des Vaters den Friedhof.</p><lb/>
        <p>Fortan holte er sie ab zu dem Gang nach dem Kirchhof, und sie<lb/>
führte sorglich die Kleine an der Hand. Niemals, selbst in der ersten<lb/>
Zeit ihrer Bekanntschaft nicht, hatten sie mehr von seiner guten Julie<lb/>
und ihrem ewig geliebten Edgar gesprochen. Bald aber drängten<lb/>
sich andere Gesprächsgegenstände auf &#x2014; der Lebende hat Recht.<lb/>
Adolphine ließ den Anzug des Kindes nach ihrem Geschmack ändern,<lb/>
der Vater verwandte auf seinen äußern Menschen ungleich mehr<lb/>
Sorgfalt denn je zuvor. Die Leute bedauerten ihn &#x2014; mit Unrecht.<lb/>
Er entdeckte täglich neue Vorzüge an seiner Braut, wie einst an seiner<lb/>
verstorbenen Frau &#x2014; freilich nicht Vorzüge, wie Julie sie besessen<lb/>
hatte, aber doch höchst schätzenswerthe. Wie sich Eines nicht für Alle<lb/>
schickt, so können auch nicht alle Frauen gleich sein. Schwandt war<lb/>
einer jener Männer, die jede Frau glücklich machen kann, weil es eben<lb/>
die ihrige ist. Und gälte es ein Abwägen der Tugenden der Ersten<lb/>
und der Zweiten, so würde er seine Julie gewiß gebührend rühmen,<lb/>
allein &#x2014; der Lebende hat Recht.</p><lb/>
        <p>Arme Julie! &#x2014; Armer Edgar!</p><lb/>
        <p>Die junge Frau kam erst jetzt darüber ins Klare, was sie als<lb/>
Gattin eines unbemittelten, obwohl hochstrebenden Künstlers gelitten<lb/>
habe, und daß ein dem Realen zugewandter Mann sichrere Chancen<lb/>
einer glücklichen Ehe biete. Und wie herzensgut war Schwandt, wie<lb/>
bildungsfähig, d. h. wie fügsam und allen ihren Wünschen zuvor-<lb/>
kommend! Auch bei ihr &#x2014; behielt der Lebende Recht.</p><lb/>
        <p>Die Verstorbenen bekamen deßhalb doch täglich ihre frischen Blu-<lb/>
men und Kränze, je nach der Jahreszeit, Levkoyen, Dahlien, Astern;<lb/>
ja, die Wittwe meinte, ihr Edgar habe ihr einen Schutz und Schirm<lb/>
gesandt in dem zweiten Verlobten, und der Wittwer war wenigstens<lb/>
überzeugt, seine Julie freue sich im Himmel des neuen Glücks, das<lb/>
ihm über ihrem Grabe erblüht sei.</p><lb/>
        <p>Ob mit Recht? &#x2014; Die Lebenden haben es freilich immer. Und die<lb/>
Todten erheben keinen Protest dagegen; sie wissen nicht, was <hi rendition="#g">hier</hi><lb/>
&#x201E;Ewig&#x201C; heißt.</p><lb/>
        <p>Bei den kürzer werdenden Tagen ward der Spaziergang wieder<lb/>
in die Mittagsstunde verlegt. Die kleine Bertha war nicht dabei,<lb/>
sie befand sich für längere Zeit bei der Großmutter. Der Aufenthalt an<lb/>
den Ruhestätten wurde auch immer kürzer &#x2014; der Temperatur wegen.<lb/>
Nur zum Theil wegen der äußeren Temperatur. Obgleich Beide<lb/>
überzeugt waren, ihre &#x201E;Seligen&#x201C; lächelten herab auf ihr wachsendes<lb/>
Glück, ihren zunehmenden Frohsinn, freuten sich des wirksamen Trostes,<lb/>
den sie in einander gefunden, fühlten sie doch instinktiv, dieser Ort<lb/>
sei nur ihrer gemeinsamen Trauer gewidmet gewesen; der Aufenthalt<lb/>
hier muthete sie immer weniger an.</p><lb/>
        <p>Der Besuch und das Schmücken der Gräber war freilich eine<lb/>
heilige Pflicht, die nimmer vernachlässigt werden durfte &#x2014; Adolphine<lb/>
trug stets zwei Kränze zum Gottesacker hinaus. Allein bei dem ein-<lb/>
tretenden Herbstwetter konnte man sich doch nicht einer Erkältung<lb/>
aussetzen, auch ließen sich die Hügel nicht mehr mit frischen Blumen<lb/>
zieren; man besuchte sie also nur an schönen Tagen, und das Jmmer-<lb/>
grün wurde als der zweckmäßigste Schmuck erkannt.</p><lb/>
        <p>Dann unterbrach der Winter diese Wallfahrten ganz, und als<lb/>
seine Schneedecke schmolz, betraute man mit der Pflege der theuren<lb/>
Hügel &#x2014; das Todtengräberpaar.</p>
      </div><lb/>
      <cb type="end"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <cb type="start"/>
      <div xml:id="Skizze1" type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#fr">Unter Orangen und Reben.</hi><lb/> <hi rendition="#g">Reiseskizze.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>in Donnerschlag, so furchtbar wie ihn nur der Süden hervor-<lb/>
zubringen vermag, durchzitterte plötzlich die glühende Luft.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ha!&#x201C; antwortete es im Diskant von den Lippen meiner Frau.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nanu?&#x201C; von den meinigen im Baß.</p><lb/>
        <p>Da standen wir Beide wie die &#x2014; nun wie man eben dasteht,<lb/>
wenn's donnert. Wir starrten in die Höhe, wir starrten zur Seite,<lb/>
um den Himmel zu prüfen; aber es war ganz unmöglich, Etwas von<lb/>
ihm wahrzunehmen. Blättermassen rechts, Blättermassen links, Oran-<lb/>
genzweige und Reben, Reben und Orangenzweige, über uns, vor uns,<lb/><cb n="2"/>
den Berghang hinauf, den Berghang hinunter Orangenzweige und<lb/>
Reben, Reben und Orangenzweige, ein wahres Labyrinth von Ge-<lb/>
wölben und Grotten aus dunkelstem Grün. So war uns also nicht<lb/>
einmal der Trost vergönnt, zu wissen, von welcher Seite sich denn<lb/>
eigentlich das brüllende Ungemach heranwälze.</p><lb/>
        <p>Dem Donner folgte in wenigen Augenblicken der Sturm. Wie<lb/>
rasend schnaubte es von der See her gegen die Bergwand. Ein<lb/>
wahres Schneegestöber von weißen, duftigen Blüthen wirbelte durch<lb/>
die Aeste und machte es uns, die wir schon zwei Stunden vorher<lb/>
hatten kennen lernen, was ein Gewitter im Süden zu bedeuten habe,<lb/>
nur allzu klar, daß in wenigen Minuten auch das Wasser, und zwar<lb/>
wie aus Kannen gegossen, über uns hereinbrechen werde. Das war<lb/>
keine angenehme Aussicht.</p><lb/>
        <cb type="end"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0002] 218 so trieb er denn, zum Jubel der Kleinen, stets das Schönste auf, was sich an Blumen in den Gärtnereien vorfand. Daß die an- spruchslose Frau, welche unten ruhte, über eine solche Verschwendung schier außer sich gerathen wäre, fiel ihm nicht mehr ein. Bewies er durch diese Ausgabe doch nur seine Liebe und Treue! Mit der vorschreitenden Jahreszeit waren die Wallfahrten zu den theuren Gräbern auf eine spätere Tageszeit verlegt worden. Jetzt glichen die Hügel Rosenbanken und wurden täglich mit frischen Blü- then besteckt. Heut harrte Vater und Tochter mit dem vollen Körbchen vergebens der „Nachbarin“, und die Sonne neigte sich schon zum Untergehen. Das Nichterscheinen seiner Trauergefährtin ließ den Wittwer erst empfinden, wie viel leichter ein gemeinsam getragenes Leid sei, und wie sehr er sich schon an diese Gemeinsamkeit gewöhnt habe. Jn der Einsamkeit gährte der Schmerz um die Geschiedene wieder heftiger auf, ward er sich seines unersetzlichen Verlustes mit so schneidender Schärfe bewußt, wie nur je in der ersten Zeit des Unglücks. Da- neben machte die Befürchtung sich geltend, seiner Leidensgenossin möchte irgend ein Unfall begegnet sein. Um so erleichterter athmete er auf, als endlich ihr Kreppkleid durch die Büsche sichtbar wurde. Hastig ging er ihr entgegen. „Jch fürchtete schon ein neues Unglück, da Sie so lange aus- blieben.“ Sie schlug den Schleier zurück — ihre Augen waren roth geweint. „Um Gotteswillen — was ist geschehen?“ „O, nichts, als daß ich bald gar nicht mehr hierher kommen werde! Hierher, wo mein Alles ruht, zu diesem Plätzchen, das mir ewig das liebste —“ Die erkünstelte Fassung verließ sie. Laut weinend warf sie sich neben Edgars Grab nieder und drückte das Gesicht in die Rosen auf demselben. Vergebens sein Fragen, sein Drängen, seine Angst. Endlich hob er sie mit sanfter Gewalt empor und führte die nur schwach Wider- strebende zur Bank. Jhre Hände zwischen den seinen haltend, redete er ihr zu wie einem Kinde, bis sie endlich hervorschluchzte, sie müsse zur Tante zurück, fort von hier, von dem theuren Grabe. „Müssen! Warum müssen Sie?“ Sie wandte schmerzlich das Gesicht ab und rang nach Worten. Er begriff, daß ihr die Mittel zu einer ferneren selbstständigen Existenz fehlten. Durch Arbeit konnte sie sich nicht erhalten, so natürlich ihm das bei jeder Andern erschienen wäre; Eines schickt sich eben nicht für Alle. Er kannte Goethe nicht, das aber wußte er vollkommen. „Ueberdies findet man — die Leute — unser häufiges Beisammen- sein hier — o Gott, die Welt ist arg, und — ich —“ sie stockte. „Die Welt! Geben Sie Etwas auf die Welt? Meine Julie that es nicht.“ „Jch auch nicht, wo ich mir keines Unrechts, nur einer Pflicht- erfüllung bewußt bin, wie hier!“ — Sie richtete sich stolz auf. „Gottlob, dann bleiben Sie also!“ Sie schüttelte trübe den Kopf. „Aber wer wird das Grab pflegen — oder vielmehr die Gräber? Denn auch das meiner Julie gedeiht nicht ohne Jhre glückliche Hand. Sie selber würden sich nach diesem Plätzchen stets zurücksehnen, und ich —“ Er hielt schmerzerfüllt inne. „Ob ich mich zurücksehnen würde? Ewig!“ rief sie, Augen und Hände zum Himmel erhebend. „Es ist ja die einzige Heimath, die ich hienieden habe.“ „Nun also? Sie bleiben, bleiben — damit wir auch ferner ge- meinsam unsere Lieben betrauern und ihre Gräber schmücken können.“ Sie wollte aufstehen, wie um dem lockenden Vorschlag zu entflie- hen. Er legte, sie zurückhaltend, den Arm um sie. Wie schutzlos und verlassen war sie — wie erwünscht ihr als sicherer Halt der starke Arm eines Mannes! Sie blieb sitzen. Die kleine Bertha hatte stumm und unbeachtet daneben gestanden. Jetzt brach sie in die geflügelten Worte aus: „Aha, darum sagt der Guste ihre Mutter: ich bekäme bald eine neue Mama!“ Das war ein großes Wort — das richtige Wort. Zuerst ver- ursachte es Erschrecken, Verlegenheit, Unruhe — dann Nachdenken. Zuletzt — wie konnten sie besser gemeinsam ihre Lieben betrauern, deren Gräber schmücken und gute Nachbarschaft halten, gleich ihren Heimgegangenen, die ihnen ewig unvergeßlich waren? Adolphine küßte das Kind, welches sich mit der Mama ganz zu- frieden zeigte, und verließ am Arm des Vaters den Friedhof. Fortan holte er sie ab zu dem Gang nach dem Kirchhof, und sie führte sorglich die Kleine an der Hand. Niemals, selbst in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft nicht, hatten sie mehr von seiner guten Julie und ihrem ewig geliebten Edgar gesprochen. Bald aber drängten sich andere Gesprächsgegenstände auf — der Lebende hat Recht. Adolphine ließ den Anzug des Kindes nach ihrem Geschmack ändern, der Vater verwandte auf seinen äußern Menschen ungleich mehr Sorgfalt denn je zuvor. Die Leute bedauerten ihn — mit Unrecht. Er entdeckte täglich neue Vorzüge an seiner Braut, wie einst an seiner verstorbenen Frau — freilich nicht Vorzüge, wie Julie sie besessen hatte, aber doch höchst schätzenswerthe. Wie sich Eines nicht für Alle schickt, so können auch nicht alle Frauen gleich sein. Schwandt war einer jener Männer, die jede Frau glücklich machen kann, weil es eben die ihrige ist. Und gälte es ein Abwägen der Tugenden der Ersten und der Zweiten, so würde er seine Julie gewiß gebührend rühmen, allein — der Lebende hat Recht. Arme Julie! — Armer Edgar! Die junge Frau kam erst jetzt darüber ins Klare, was sie als Gattin eines unbemittelten, obwohl hochstrebenden Künstlers gelitten habe, und daß ein dem Realen zugewandter Mann sichrere Chancen einer glücklichen Ehe biete. Und wie herzensgut war Schwandt, wie bildungsfähig, d. h. wie fügsam und allen ihren Wünschen zuvor- kommend! Auch bei ihr — behielt der Lebende Recht. Die Verstorbenen bekamen deßhalb doch täglich ihre frischen Blu- men und Kränze, je nach der Jahreszeit, Levkoyen, Dahlien, Astern; ja, die Wittwe meinte, ihr Edgar habe ihr einen Schutz und Schirm gesandt in dem zweiten Verlobten, und der Wittwer war wenigstens überzeugt, seine Julie freue sich im Himmel des neuen Glücks, das ihm über ihrem Grabe erblüht sei. Ob mit Recht? — Die Lebenden haben es freilich immer. Und die Todten erheben keinen Protest dagegen; sie wissen nicht, was hier „Ewig“ heißt. Bei den kürzer werdenden Tagen ward der Spaziergang wieder in die Mittagsstunde verlegt. Die kleine Bertha war nicht dabei, sie befand sich für längere Zeit bei der Großmutter. Der Aufenthalt an den Ruhestätten wurde auch immer kürzer — der Temperatur wegen. Nur zum Theil wegen der äußeren Temperatur. Obgleich Beide überzeugt waren, ihre „Seligen“ lächelten herab auf ihr wachsendes Glück, ihren zunehmenden Frohsinn, freuten sich des wirksamen Trostes, den sie in einander gefunden, fühlten sie doch instinktiv, dieser Ort sei nur ihrer gemeinsamen Trauer gewidmet gewesen; der Aufenthalt hier muthete sie immer weniger an. Der Besuch und das Schmücken der Gräber war freilich eine heilige Pflicht, die nimmer vernachlässigt werden durfte — Adolphine trug stets zwei Kränze zum Gottesacker hinaus. Allein bei dem ein- tretenden Herbstwetter konnte man sich doch nicht einer Erkältung aussetzen, auch ließen sich die Hügel nicht mehr mit frischen Blumen zieren; man besuchte sie also nur an schönen Tagen, und das Jmmer- grün wurde als der zweckmäßigste Schmuck erkannt. Dann unterbrach der Winter diese Wallfahrten ganz, und als seine Schneedecke schmolz, betraute man mit der Pflege der theuren Hügel — das Todtengräberpaar. Unter Orangen und Reben. Reiseskizze. Ein Donnerschlag, so furchtbar wie ihn nur der Süden hervor- zubringen vermag, durchzitterte plötzlich die glühende Luft. „Ha!“ antwortete es im Diskant von den Lippen meiner Frau. „Nanu?“ von den meinigen im Baß. Da standen wir Beide wie die — nun wie man eben dasteht, wenn's donnert. Wir starrten in die Höhe, wir starrten zur Seite, um den Himmel zu prüfen; aber es war ganz unmöglich, Etwas von ihm wahrzunehmen. Blättermassen rechts, Blättermassen links, Oran- genzweige und Reben, Reben und Orangenzweige, über uns, vor uns, den Berghang hinauf, den Berghang hinunter Orangenzweige und Reben, Reben und Orangenzweige, ein wahres Labyrinth von Ge- wölben und Grotten aus dunkelstem Grün. So war uns also nicht einmal der Trost vergönnt, zu wissen, von welcher Seite sich denn eigentlich das brüllende Ungemach heranwälze. Dem Donner folgte in wenigen Augenblicken der Sturm. Wie rasend schnaubte es von der See her gegen die Bergwand. Ein wahres Schneegestöber von weißen, duftigen Blüthen wirbelte durch die Aeste und machte es uns, die wir schon zwei Stunden vorher hatten kennen lernen, was ein Gewitter im Süden zu bedeuten habe, nur allzu klar, daß in wenigen Minuten auch das Wasser, und zwar wie aus Kannen gegossen, über uns hereinbrechen werde. Das war keine angenehme Aussicht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt28_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt28_1868/2
Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 28. Berlin, 12. Juli 1868, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt28_1868/2>, abgerufen am 06.06.2024.