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Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz] leicht geröthete, zierliche Gesicht, eingerahmt von feingekräuseltem dunklem
Haar, die lebhaft glänzenden Augen, in deren dunklen Tiefen eine reiche
Gedankenwelt blitzte, der schön geformte, zart geschnittene Mund, in dessen
Winkeln die Götter der Schelmerei und des Witzes zu thronen schienen,
die ganze schlanke, leicht schwebende Gestalt bildeten ein so liebliches Ganze,
daß man sich lebhaft angezogen fühlte. Und sah man es ihr auch an, daß
sie das Kind nicht mehr war, das Goethe einst die ganze Mystik ihrer
überschwänglichen Liebe erschloß, schön war sie noch immer durch die
Anmuth ihrer Bewegungen und das helle Geistesfeuer, das ihre Augen
belebte.

"Sie betrachten mich, mein theurer Freund?" lächelte sie, als sie die
Blicke Jacobi's auf sich gerichtet sah. "Bin ich alt geworden? Finden Sie
mich verändert?"

"Die Jahre sind an Jhnen spurlos vorübergegangen", entgegnete
Jacobi. "Wie sollte es auch anders sein? An Jhr heiteres Gemüth, an
Jhre bewegte glückliche Laune wagt sich die Zeit nicht. Mich dagegen
dürften Sie kaum mehr erkannt haben. Nun, nun, schütteln Sie Jhr
schwarzes Lockenköpfchen nicht so kategorisch, liebe Bettina; ich weiß es,
ich bin eine Ruine. Die Philosophie selbst kann den morschen Bau nicht
mehr halten; es gebt mit Riesenschritten von der Höhe zur Ebene."

"Wohl", sagte Bettina; "aber auf der Ebene bleiben Sie noch lange
und spenden aus der reichen Welt Jhres Geistes die noch zurückbehaltenen
Schätze. O ich weiß es, Sie sind noch nicht alt; Jhr Geist ist Jduna,
deren Apfel ewige Jugend spendet, Jhnen und uns, die wir zu ihren
Füßen sitzen und Weisheit lernen wollen von den Lippen des Denkers."

Jacobi schüttelte sanft das ergraute Haupt.

"Das Alter an und für sich beunruhigt mich nicht, liebe Freundin;
dieses Ausruhen von dem langen Wege, den man gemacht, hat, sobald sich
keine körperlichen Leiden einfinden, sogar etwas Behagliches; aber in mein
Altwerden verflicht sich eine tiefe Melancholie, der ich schwer widerstehen
kann. Sie glauben gar nicht, welche schwarze Gedanken ich in meinem
Jnnern berge. Jch komme mir vor wie ein Bergmann, der Zeit seines
Lebens eine große Menge Gold, Silber und Edelsteine aus den Berg-
wänden geschlagen, und für sich selbst als Beute nichts davongetragen hat.
Mein ganzes schweres Arbeitsleben scheint mir ohne Frucht zu sein."

"Und das sagen Sie?" rief Bettina mit schmerzlichem Erstaunen.
"Sie, der Sie gerade von den reichsten Fruchtspenden sprechen dürften?"

"Meine Philosophie, erklärte Jacobi, "ist eine Unphilosophie, die im
Nichtwissen ihr Wesen hat. Die wahre Philosophie beschränkt sich auf
das Sinnliche und verleugnet das Uebersinnliche; die meine basirt auf dem
unmittelbaren Gefühl, wie Sie wissen, mag aber auch dem Verstand nicht
zumuthen, sein Recht der freien Forschung zu verleugnen. Das ist ein
Zwiespalt, liebe Bettina, den ich schon lange und schwer gefühlt habe, und
für den ich nunmehr kein Heilmittel zu finden weiß."

"Aber mein verehrter Freund", sagte diese, "muß es denn nur Philoso-
phien geben, die mit der ganzen Hartnäckigkeit des Verstandes die Probleme
unserer wissenschaftlichen und sittlichen Ueberzeugungen zu lösen versuchen?
Wie können wir Frauen, die hier und da doch auch von den Früchten dieser
sublimen Geister naschen wollen, es wagen, in diese Hesperidengärten zu
steigen, wo der Raub eines goldenen Apfels mit den schwersten Gefahren,
sich den Kopf zu zerbrechen, bezahlt wird? Daß Sie dem Herzen auch einen
Antheil an der Erkenntniß des Göttlichen zuwiesen, macht Jhnen nur Ehre
und hat Jhnen Tausende fühlender Herzen gewonnen. Die übrigen Herren
Philosophen, sehr wenige ausgenommen, sind kühl bis zum Herzensgrund
und geberden sich wie Vandalen, die verwegen all' die herrlichen Götter-
gestalten zertrümmern, welche sich die Menschen in ihren Herzen geschaffen,
oder wie Polizeisoldaten, die das göttliche Wesen von Stern zu Stern
verfolgen und auf dem letzten, äußersten, wenn es einen solchen giebt, doch
nichts weiter zu sagen wissen, als: Wir finden es nicht!"

( Schluß folgt. )



Der Glanzpunkt der Harzpartie.
Von
Robert Springer.

Auf nach den Höhen der alten Cherusker! Das Barometer ist ge-
stiegen, der Wind weht aus Nordost; die Zeit ist kostbar. Jch trenne
mich auf eine Woche von der süßen Familienqual, auf eine Woche von
Kindergeschrei und Miethskasernengetöse. Aber nach Menschenart schleppe
ich doch ein Stück von der Kette mit mir: einen zehnjährigen, braun-
äugigen Knaben, der, zurückgelassen, das Haus umkehren würde, jetzt aber
dafür sorgen wird, daß des Vaters Asyl nicht zu idyllisch werde.

Eine Harzreise gehörte in jener guten alten Zeit der Posten, Hauderer
und Fußwanderer zu den denkwürdigen Unternehmungen; ein Ausflug nach
dem Harz, wie man jetzt eine solche Eisenbahn=Klapperfahrt nennt, ist für
den Berliner eben nichts weiter, als ein Abstecher. Wir haben seit
zwanzig Jahren unendlich an Schnelligkeit gewonnen, aber auch unglaublich
viel Anderes darüber eingebüßt. Wenn die Menschheit einst von Eisen-
bahn=Courierfahrten und Fabrikkonkurrenz ganz entnervt sein wird, dann
sehnt sie sich sicherlich zurück in die patriarchalische Zeit, wo der Mensch
den Raum nur mittels seiner Füße oder mittels der Beine thierischer
Mitgeschöpfe maß. Mit den Eisenbahnen geht es uns wie mit den Fern-
röhren. Ein Teleskop vergrößert das Objekt, aber es rückt uns dasselbe
auch aus allem natürlichen Zusammenhange mit der Umgebung; schon eine
Brille verleitet den Menschen zu falschen Urtheilen. Aus diesem Grunde
sagte Goethe: "Die Fernröhre und Mikroskope verwirren den reinen
Menschensinn", und eben deßwegen mochte er die Brillen und Brillen-
träger nicht leiden; nur unser Auge giebt uns eine richtige Schätzung der
natürlichen Verhältnisse unserer Umgebung. Ebenso sind unsere Schritte
[Spaltenumbruch] das natürliche Maß für alle Entfernungen auf dieser Erdscholle, und das
Verhältniß derselben zur Zeit derjenige Begriff von menschlicher Ge-
schwindigkeit, deren Form die Natur unserem Denkvermögen verlieh. Des
Rosses Eile weicht nur unbedeutend davon ab; das sausende Dahinstürmen
der Lokomotive aber, so förderlich für den ganzen kosmopolitischen Humbug,
ist weder unserer Nervenkonstitution, noch unseren Sinnen, noch unserm
Begriffsvermögen analog. Städte, Landschaften und Leute fliegen an
unseren schwindelnden Blicken vorüber, ohne daß wir mit dem mütterlichen
Boden vertraut, bekannt würden.

Und doch danke ich der Potsdam=Magdeburger Eisenbahn=Direktion,
daß sie mich in7 3 / 4 Stunden von Berlin nach Thale befördert. Es geht
zwar an allen Städteherrlichkeiten ohne Aufenthalt vorüber, nur auf dem
düstern Kasematten=Bahnhof von Magdeburg wird eine unerquicklich lange
Rast gehalten; vorüber an Halberstadts ehrwürdigem Dom und Vater
Gleims traulicher Hütte; vorüber an Quedlinburg, Klopstocks alterthüm-
licher Geburtsstätte; vorüber, vorüber! Dafür werde ich um so früher in
Thale sein, um fürerst zu ruhen und dann frisch aufzuathmen.

Thale liegt am Fuß des Harzes, in freundlicher Ebene. Neben dem
Bahnhof erhebt sich das stattliche " Zehnpfund=Hotel ". Der Zweck, ein
stilles Asyl in schöner Natur zu suchen, verträgt sich aber so wenig mit
einer Hotel=Einrichtung, daß ich es vorzog, tief unten im Dorf das Gast-
haus "Zum Forsthaus" aufzusuchen, das mir als eine gemüthliche und an-
ständige Behausung empfohlen worden war. Der Weg führt an der Bode
entlang, die hier ihr wildes Gemüth beruhigt hat und zwischen unzähli-
gen Steinen von allen Größen, die sie einst im Jugendungestüm mit sich
in das Thal gerissen, breit und seicht dahinfließt. Eine Bretterbrücke
führt hinüber nach dem Gasthof, der noch in stolzer Erinnerung der guten
alten Zeit, wo es hier noch keine Eisenbahn und keine Hotels gab, das
alte Pfannen=Ziegeldach hoch emporhebt über die benachbarten Bauern-
häuser. Ein freundlicher Empfang wird uns von der Wirthin, der ver-
wittweten Oberamtmann Mettler, zu Theil, ein gastliches Zimmer uns
angewiesen. Nach dem Abendessen, das im anmuthigen Gärtchen unter
einem ehrwürdigen Akazienbaum aufgetragen wird, setze ich mich zu der
plaudernden Gesellschaft, die traulich auf den Bänken vor der Hausthür
weilt. Zu uns gesellt sich der gegenüber wohnende Förster Daude, mit
welchem jeder humane Gast leicht befreundet wird. Er ist ein siebzig-
jähriger Greis, der beinahe fünfzig Jahre im Dienst ist und mancherlei
Heiteres und Trübes erlebt hat; sein einziger Sohn wurde auf der Jagd
und vor seinen Augen von Freundeshand unvorsichtiger Weise erschossen.

Ein schöner Abend, ein klarer Horizont, der die funkelnde Sternendecke
weithin über die ferne Bergkette spannt. O ihr gesegneten Dichter und
Literatoren der alten Zeit, und selbst Du, mühselig beladener alter Schul-
meister und Poet Joh. Heinrich Voß im Hadeler Sumpflande! Jhr Alle
hattet doch wenigstens ein Gartenplätzchen und ein großes freies Stück
Himmel voll Sterne! Und all' euer Mühen reichte nicht an die Gefängniß-
leiden eines großstädtischen Literaten.

Es scheint kaum glaublich, daß jene beiden gegenüberliegenden Gipfel,
auf deren jedem sich ein weiß schimmerndes Gebäude zeigt, die beiden
charakteristischen Glanzpunkte des Harzgebirges seien: die Roßtrappe
und der Hexentanzplatz. Hier noch in der Ebene, und dort gegen 800
Fuß hohe Berge, Gebirgsschluchten, ein wildtosender Strom! Und doch
ist es so. Nur einiger Tausend Schritte bedarf es, um in das Bodethal zu
gelangen. Sobald man an dem Hubertusbade vorüber gekommen ist und
die Hütte des alten Jnvaliden erreicht hat, sieht man schon an der gegen-
überliegenden Felswand seltsame Formationen. Der alte Jnvalide, der zu
seinem Leidwesen den Fremden nichts mehr vorschießen darf, erläßt eine
etwas kauderwälsche Einladung, seine "Räuberhöhle" zu besuchen, die wir,
allem Räuber= und Kriegswesen abhold, ablehnen. Die Stelle, wo der
Jnvalide als Räuberhöhlenhüter seinen Sitz [unleserliches Material - 13 Zeichen fehlen]aufgeschlagen, mag früher,
vielleicht ehe das gegenüberliegende Hotel "Zum neuen Waldkater" erbaut
war, romantische Punkte dargeboten haben; denn wir finden hier zahlreiche
Moosplätzchen, durch sinnige Ueberschriften, als "Minna's=", "Eduards=",
"Rosaliens"= u. s. w. Lieblingsplätze bezeichnet; durch solche zarte Me-
mento 's würde uns schier die ganze Clauren=Romantik in die Seele zurück-
gezaubert, wenn uns nicht "Müllers und Schultze's Ruh" daran erinnerte,
daß heut doch Alles nur "Kladderadatsch" ist.

Wenige Schritte, und wir haben das Wirthshaus "Zum Waldkater"
( dem alten ) erreicht und nehmen Platz zu einem frugalen Frühstück. Ein
schottischer Plaid erweist seine vortrefflichen Dienste schon hier, wie auf
allen Ruheplätzen im Gebirge; hoffentlich wird man bald das Privile-
gium aufheben, welches bis jetzt nur die Studenten für diese Tracht zu
haben scheinen, und allen Altersstufen ein Recht auf dieses zweckmäßige
und leicht tragbare Kleidungsstück einräumen. Weiter aufwärts führt uns
ein Brückchen nach dem andern Ufer, zur sogenannten "Conditorei", einem
Kaffee= und Bierhäuschen, welches gerade an einer charakteristischen Stelle
der schmalen Thalschlucht angelegt worden. Hoch, fast senkrecht auf-
geschossen, wunderlich abgebrochen, abgerundet, zugespitzt oder gezackt, stehen
die hohen grauen Felswände aus Urgestein, in allen Rissen und Spalten
mit lebenbegierigem Strauch=, Ranken= und Schlinggewächs geziert. Zwi-
schen ihnen hindurch hat sich die Bodenixe ihr Bett aufgewühlt und mit
Steinen von allen Größen unsänftiglich gepolstert. Mit gleichmäßigem
Tosen und Sausen braust sie, weißen Schaum spritzend, dahin. Mein
brauner Knabe hat sich einen großen Stein mitten im Flußbett zu seinem
Sitz erwählt, und wie er dasitzt, in weißen Wasserstaub gehüllt, in seinem
Mäntelchen aus Ziegenhaar, mit dem jugendlich frohen Auge, so gemahnt
er mich an Uhlands Hirtenknaben und an die Strophe:

"Hier ist des Stromes Murterhaus,
Jch trink' ihn frisch vom Stein heraus;
Er braust vom Fels in wildem Lauf,
Jch fang' ihn mit den Armen auf.
Jch bin der Knab' vom Berge!"
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] leicht geröthete, zierliche Gesicht, eingerahmt von feingekräuseltem dunklem
Haar, die lebhaft glänzenden Augen, in deren dunklen Tiefen eine reiche
Gedankenwelt blitzte, der schön geformte, zart geschnittene Mund, in dessen
Winkeln die Götter der Schelmerei und des Witzes zu thronen schienen,
die ganze schlanke, leicht schwebende Gestalt bildeten ein so liebliches Ganze,
daß man sich lebhaft angezogen fühlte. Und sah man es ihr auch an, daß
sie das Kind nicht mehr war, das Goethe einst die ganze Mystik ihrer
überschwänglichen Liebe erschloß, schön war sie noch immer durch die
Anmuth ihrer Bewegungen und das helle Geistesfeuer, das ihre Augen
belebte.

„Sie betrachten mich, mein theurer Freund?“ lächelte sie, als sie die
Blicke Jacobi's auf sich gerichtet sah. „Bin ich alt geworden? Finden Sie
mich verändert?“

„Die Jahre sind an Jhnen spurlos vorübergegangen“, entgegnete
Jacobi. „Wie sollte es auch anders sein? An Jhr heiteres Gemüth, an
Jhre bewegte glückliche Laune wagt sich die Zeit nicht. Mich dagegen
dürften Sie kaum mehr erkannt haben. Nun, nun, schütteln Sie Jhr
schwarzes Lockenköpfchen nicht so kategorisch, liebe Bettina; ich weiß es,
ich bin eine Ruine. Die Philosophie selbst kann den morschen Bau nicht
mehr halten; es gebt mit Riesenschritten von der Höhe zur Ebene.“

„Wohl“, sagte Bettina; „aber auf der Ebene bleiben Sie noch lange
und spenden aus der reichen Welt Jhres Geistes die noch zurückbehaltenen
Schätze. O ich weiß es, Sie sind noch nicht alt; Jhr Geist ist Jduna,
deren Apfel ewige Jugend spendet, Jhnen und uns, die wir zu ihren
Füßen sitzen und Weisheit lernen wollen von den Lippen des Denkers.“

Jacobi schüttelte sanft das ergraute Haupt.

„Das Alter an und für sich beunruhigt mich nicht, liebe Freundin;
dieses Ausruhen von dem langen Wege, den man gemacht, hat, sobald sich
keine körperlichen Leiden einfinden, sogar etwas Behagliches; aber in mein
Altwerden verflicht sich eine tiefe Melancholie, der ich schwer widerstehen
kann. Sie glauben gar nicht, welche schwarze Gedanken ich in meinem
Jnnern berge. Jch komme mir vor wie ein Bergmann, der Zeit seines
Lebens eine große Menge Gold, Silber und Edelsteine aus den Berg-
wänden geschlagen, und für sich selbst als Beute nichts davongetragen hat.
Mein ganzes schweres Arbeitsleben scheint mir ohne Frucht zu sein.“

„Und das sagen Sie?“ rief Bettina mit schmerzlichem Erstaunen.
„Sie, der Sie gerade von den reichsten Fruchtspenden sprechen dürften?“

„Meine Philosophie, erklärte Jacobi, „ist eine Unphilosophie, die im
Nichtwissen ihr Wesen hat. Die wahre Philosophie beschränkt sich auf
das Sinnliche und verleugnet das Uebersinnliche; die meine basirt auf dem
unmittelbaren Gefühl, wie Sie wissen, mag aber auch dem Verstand nicht
zumuthen, sein Recht der freien Forschung zu verleugnen. Das ist ein
Zwiespalt, liebe Bettina, den ich schon lange und schwer gefühlt habe, und
für den ich nunmehr kein Heilmittel zu finden weiß.“

„Aber mein verehrter Freund“, sagte diese, „muß es denn nur Philoso-
phien geben, die mit der ganzen Hartnäckigkeit des Verstandes die Probleme
unserer wissenschaftlichen und sittlichen Ueberzeugungen zu lösen versuchen?
Wie können wir Frauen, die hier und da doch auch von den Früchten dieser
sublimen Geister naschen wollen, es wagen, in diese Hesperidengärten zu
steigen, wo der Raub eines goldenen Apfels mit den schwersten Gefahren,
sich den Kopf zu zerbrechen, bezahlt wird? Daß Sie dem Herzen auch einen
Antheil an der Erkenntniß des Göttlichen zuwiesen, macht Jhnen nur Ehre
und hat Jhnen Tausende fühlender Herzen gewonnen. Die übrigen Herren
Philosophen, sehr wenige ausgenommen, sind kühl bis zum Herzensgrund
und geberden sich wie Vandalen, die verwegen all' die herrlichen Götter-
gestalten zertrümmern, welche sich die Menschen in ihren Herzen geschaffen,
oder wie Polizeisoldaten, die das göttliche Wesen von Stern zu Stern
verfolgen und auf dem letzten, äußersten, wenn es einen solchen giebt, doch
nichts weiter zu sagen wissen, als: Wir finden es nicht!“

( Schluß folgt. )



Der Glanzpunkt der Harzpartie.
Von
Robert Springer.

Auf nach den Höhen der alten Cherusker! Das Barometer ist ge-
stiegen, der Wind weht aus Nordost; die Zeit ist kostbar. Jch trenne
mich auf eine Woche von der süßen Familienqual, auf eine Woche von
Kindergeschrei und Miethskasernengetöse. Aber nach Menschenart schleppe
ich doch ein Stück von der Kette mit mir: einen zehnjährigen, braun-
äugigen Knaben, der, zurückgelassen, das Haus umkehren würde, jetzt aber
dafür sorgen wird, daß des Vaters Asyl nicht zu idyllisch werde.

Eine Harzreise gehörte in jener guten alten Zeit der Posten, Hauderer
und Fußwanderer zu den denkwürdigen Unternehmungen; ein Ausflug nach
dem Harz, wie man jetzt eine solche Eisenbahn=Klapperfahrt nennt, ist für
den Berliner eben nichts weiter, als ein Abstecher. Wir haben seit
zwanzig Jahren unendlich an Schnelligkeit gewonnen, aber auch unglaublich
viel Anderes darüber eingebüßt. Wenn die Menschheit einst von Eisen-
bahn=Courierfahrten und Fabrikkonkurrenz ganz entnervt sein wird, dann
sehnt sie sich sicherlich zurück in die patriarchalische Zeit, wo der Mensch
den Raum nur mittels seiner Füße oder mittels der Beine thierischer
Mitgeschöpfe maß. Mit den Eisenbahnen geht es uns wie mit den Fern-
röhren. Ein Teleskop vergrößert das Objekt, aber es rückt uns dasselbe
auch aus allem natürlichen Zusammenhange mit der Umgebung; schon eine
Brille verleitet den Menschen zu falschen Urtheilen. Aus diesem Grunde
sagte Goethe: „Die Fernröhre und Mikroskope verwirren den reinen
Menschensinn“, und eben deßwegen mochte er die Brillen und Brillen-
träger nicht leiden; nur unser Auge giebt uns eine richtige Schätzung der
natürlichen Verhältnisse unserer Umgebung. Ebenso sind unsere Schritte
[Spaltenumbruch] das natürliche Maß für alle Entfernungen auf dieser Erdscholle, und das
Verhältniß derselben zur Zeit derjenige Begriff von menschlicher Ge-
schwindigkeit, deren Form die Natur unserem Denkvermögen verlieh. Des
Rosses Eile weicht nur unbedeutend davon ab; das sausende Dahinstürmen
der Lokomotive aber, so förderlich für den ganzen kosmopolitischen Humbug,
ist weder unserer Nervenkonstitution, noch unseren Sinnen, noch unserm
Begriffsvermögen analog. Städte, Landschaften und Leute fliegen an
unseren schwindelnden Blicken vorüber, ohne daß wir mit dem mütterlichen
Boden vertraut, bekannt würden.

Und doch danke ich der Potsdam=Magdeburger Eisenbahn=Direktion,
daß sie mich in7 3 / 4 Stunden von Berlin nach Thale befördert. Es geht
zwar an allen Städteherrlichkeiten ohne Aufenthalt vorüber, nur auf dem
düstern Kasematten=Bahnhof von Magdeburg wird eine unerquicklich lange
Rast gehalten; vorüber an Halberstadts ehrwürdigem Dom und Vater
Gleims traulicher Hütte; vorüber an Quedlinburg, Klopstocks alterthüm-
licher Geburtsstätte; vorüber, vorüber! Dafür werde ich um so früher in
Thale sein, um fürerst zu ruhen und dann frisch aufzuathmen.

Thale liegt am Fuß des Harzes, in freundlicher Ebene. Neben dem
Bahnhof erhebt sich das stattliche „ Zehnpfund=Hôtel “. Der Zweck, ein
stilles Asyl in schöner Natur zu suchen, verträgt sich aber so wenig mit
einer Hôtel=Einrichtung, daß ich es vorzog, tief unten im Dorf das Gast-
haus „Zum Forsthaus“ aufzusuchen, das mir als eine gemüthliche und an-
ständige Behausung empfohlen worden war. Der Weg führt an der Bode
entlang, die hier ihr wildes Gemüth beruhigt hat und zwischen unzähli-
gen Steinen von allen Größen, die sie einst im Jugendungestüm mit sich
in das Thal gerissen, breit und seicht dahinfließt. Eine Bretterbrücke
führt hinüber nach dem Gasthof, der noch in stolzer Erinnerung der guten
alten Zeit, wo es hier noch keine Eisenbahn und keine Hôtels gab, das
alte Pfannen=Ziegeldach hoch emporhebt über die benachbarten Bauern-
häuser. Ein freundlicher Empfang wird uns von der Wirthin, der ver-
wittweten Oberamtmann Mettler, zu Theil, ein gastliches Zimmer uns
angewiesen. Nach dem Abendessen, das im anmuthigen Gärtchen unter
einem ehrwürdigen Akazienbaum aufgetragen wird, setze ich mich zu der
plaudernden Gesellschaft, die traulich auf den Bänken vor der Hausthür
weilt. Zu uns gesellt sich der gegenüber wohnende Förster Daude, mit
welchem jeder humane Gast leicht befreundet wird. Er ist ein siebzig-
jähriger Greis, der beinahe fünfzig Jahre im Dienst ist und mancherlei
Heiteres und Trübes erlebt hat; sein einziger Sohn wurde auf der Jagd
und vor seinen Augen von Freundeshand unvorsichtiger Weise erschossen.

Ein schöner Abend, ein klarer Horizont, der die funkelnde Sternendecke
weithin über die ferne Bergkette spannt. O ihr gesegneten Dichter und
Literatoren der alten Zeit, und selbst Du, mühselig beladener alter Schul-
meister und Poet Joh. Heinrich Voß im Hadeler Sumpflande! Jhr Alle
hattet doch wenigstens ein Gartenplätzchen und ein großes freies Stück
Himmel voll Sterne! Und all' euer Mühen reichte nicht an die Gefängniß-
leiden eines großstädtischen Literaten.

Es scheint kaum glaublich, daß jene beiden gegenüberliegenden Gipfel,
auf deren jedem sich ein weiß schimmerndes Gebäude zeigt, die beiden
charakteristischen Glanzpunkte des Harzgebirges seien: die Roßtrappe
und der Hexentanzplatz. Hier noch in der Ebene, und dort gegen 800
Fuß hohe Berge, Gebirgsschluchten, ein wildtosender Strom! Und doch
ist es so. Nur einiger Tausend Schritte bedarf es, um in das Bodethal zu
gelangen. Sobald man an dem Hubertusbade vorüber gekommen ist und
die Hütte des alten Jnvaliden erreicht hat, sieht man schon an der gegen-
überliegenden Felswand seltsame Formationen. Der alte Jnvalide, der zu
seinem Leidwesen den Fremden nichts mehr vorschießen darf, erläßt eine
etwas kauderwälsche Einladung, seine „Räuberhöhle“ zu besuchen, die wir,
allem Räuber= und Kriegswesen abhold, ablehnen. Die Stelle, wo der
Jnvalide als Räuberhöhlenhüter seinen Sitz [unleserliches Material – 13 Zeichen fehlen]aufgeschlagen, mag früher,
vielleicht ehe das gegenüberliegende Hôtel „Zum neuen Waldkater“ erbaut
war, romantische Punkte dargeboten haben; denn wir finden hier zahlreiche
Moosplätzchen, durch sinnige Ueberschriften, als „Minna's=“, „Eduards=“,
„Rosaliens“= u. s. w. Lieblingsplätze bezeichnet; durch solche zarte Me-
mento 's würde uns schier die ganze Clauren=Romantik in die Seele zurück-
gezaubert, wenn uns nicht „Müllers und Schultze's Ruh“ daran erinnerte,
daß heut doch Alles nur „Kladderadatsch“ ist.

Wenige Schritte, und wir haben das Wirthshaus „Zum Waldkater“
( dem alten ) erreicht und nehmen Platz zu einem frugalen Frühstück. Ein
schottischer Plaid erweist seine vortrefflichen Dienste schon hier, wie auf
allen Ruheplätzen im Gebirge; hoffentlich wird man bald das Privile-
gium aufheben, welches bis jetzt nur die Studenten für diese Tracht zu
haben scheinen, und allen Altersstufen ein Recht auf dieses zweckmäßige
und leicht tragbare Kleidungsstück einräumen. Weiter aufwärts führt uns
ein Brückchen nach dem andern Ufer, zur sogenannten „Conditorei“, einem
Kaffee= und Bierhäuschen, welches gerade an einer charakteristischen Stelle
der schmalen Thalschlucht angelegt worden. Hoch, fast senkrecht auf-
geschossen, wunderlich abgebrochen, abgerundet, zugespitzt oder gezackt, stehen
die hohen grauen Felswände aus Urgestein, in allen Rissen und Spalten
mit lebenbegierigem Strauch=, Ranken= und Schlinggewächs geziert. Zwi-
schen ihnen hindurch hat sich die Bodenixe ihr Bett aufgewühlt und mit
Steinen von allen Größen unsänftiglich gepolstert. Mit gleichmäßigem
Tosen und Sausen braust sie, weißen Schaum spritzend, dahin. Mein
brauner Knabe hat sich einen großen Stein mitten im Flußbett zu seinem
Sitz erwählt, und wie er dasitzt, in weißen Wasserstaub gehüllt, in seinem
Mäntelchen aus Ziegenhaar, mit dem jugendlich frohen Auge, so gemahnt
er mich an Uhlands Hirtenknaben und an die Strophe:

„Hier ist des Stromes Murterhaus,
Jch trink' ihn frisch vom Stein heraus;
Er braust vom Fels in wildem Lauf,
Jch fang' ihn mit den Armen auf.
Jch bin der Knab' vom Berge!“
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[173/0005] 173 leicht geröthete, zierliche Gesicht, eingerahmt von feingekräuseltem dunklem Haar, die lebhaft glänzenden Augen, in deren dunklen Tiefen eine reiche Gedankenwelt blitzte, der schön geformte, zart geschnittene Mund, in dessen Winkeln die Götter der Schelmerei und des Witzes zu thronen schienen, die ganze schlanke, leicht schwebende Gestalt bildeten ein so liebliches Ganze, daß man sich lebhaft angezogen fühlte. Und sah man es ihr auch an, daß sie das Kind nicht mehr war, das Goethe einst die ganze Mystik ihrer überschwänglichen Liebe erschloß, schön war sie noch immer durch die Anmuth ihrer Bewegungen und das helle Geistesfeuer, das ihre Augen belebte. „Sie betrachten mich, mein theurer Freund?“ lächelte sie, als sie die Blicke Jacobi's auf sich gerichtet sah. „Bin ich alt geworden? Finden Sie mich verändert?“ „Die Jahre sind an Jhnen spurlos vorübergegangen“, entgegnete Jacobi. „Wie sollte es auch anders sein? An Jhr heiteres Gemüth, an Jhre bewegte glückliche Laune wagt sich die Zeit nicht. Mich dagegen dürften Sie kaum mehr erkannt haben. Nun, nun, schütteln Sie Jhr schwarzes Lockenköpfchen nicht so kategorisch, liebe Bettina; ich weiß es, ich bin eine Ruine. Die Philosophie selbst kann den morschen Bau nicht mehr halten; es gebt mit Riesenschritten von der Höhe zur Ebene.“ „Wohl“, sagte Bettina; „aber auf der Ebene bleiben Sie noch lange und spenden aus der reichen Welt Jhres Geistes die noch zurückbehaltenen Schätze. O ich weiß es, Sie sind noch nicht alt; Jhr Geist ist Jduna, deren Apfel ewige Jugend spendet, Jhnen und uns, die wir zu ihren Füßen sitzen und Weisheit lernen wollen von den Lippen des Denkers.“ Jacobi schüttelte sanft das ergraute Haupt. „Das Alter an und für sich beunruhigt mich nicht, liebe Freundin; dieses Ausruhen von dem langen Wege, den man gemacht, hat, sobald sich keine körperlichen Leiden einfinden, sogar etwas Behagliches; aber in mein Altwerden verflicht sich eine tiefe Melancholie, der ich schwer widerstehen kann. Sie glauben gar nicht, welche schwarze Gedanken ich in meinem Jnnern berge. Jch komme mir vor wie ein Bergmann, der Zeit seines Lebens eine große Menge Gold, Silber und Edelsteine aus den Berg- wänden geschlagen, und für sich selbst als Beute nichts davongetragen hat. Mein ganzes schweres Arbeitsleben scheint mir ohne Frucht zu sein.“ „Und das sagen Sie?“ rief Bettina mit schmerzlichem Erstaunen. „Sie, der Sie gerade von den reichsten Fruchtspenden sprechen dürften?“ „Meine Philosophie, erklärte Jacobi, „ist eine Unphilosophie, die im Nichtwissen ihr Wesen hat. Die wahre Philosophie beschränkt sich auf das Sinnliche und verleugnet das Uebersinnliche; die meine basirt auf dem unmittelbaren Gefühl, wie Sie wissen, mag aber auch dem Verstand nicht zumuthen, sein Recht der freien Forschung zu verleugnen. Das ist ein Zwiespalt, liebe Bettina, den ich schon lange und schwer gefühlt habe, und für den ich nunmehr kein Heilmittel zu finden weiß.“ „Aber mein verehrter Freund“, sagte diese, „muß es denn nur Philoso- phien geben, die mit der ganzen Hartnäckigkeit des Verstandes die Probleme unserer wissenschaftlichen und sittlichen Ueberzeugungen zu lösen versuchen? Wie können wir Frauen, die hier und da doch auch von den Früchten dieser sublimen Geister naschen wollen, es wagen, in diese Hesperidengärten zu steigen, wo der Raub eines goldenen Apfels mit den schwersten Gefahren, sich den Kopf zu zerbrechen, bezahlt wird? Daß Sie dem Herzen auch einen Antheil an der Erkenntniß des Göttlichen zuwiesen, macht Jhnen nur Ehre und hat Jhnen Tausende fühlender Herzen gewonnen. Die übrigen Herren Philosophen, sehr wenige ausgenommen, sind kühl bis zum Herzensgrund und geberden sich wie Vandalen, die verwegen all' die herrlichen Götter- gestalten zertrümmern, welche sich die Menschen in ihren Herzen geschaffen, oder wie Polizeisoldaten, die das göttliche Wesen von Stern zu Stern verfolgen und auf dem letzten, äußersten, wenn es einen solchen giebt, doch nichts weiter zu sagen wissen, als: Wir finden es nicht!“ ( Schluß folgt. ) Der Glanzpunkt der Harzpartie. Von Robert Springer. Auf nach den Höhen der alten Cherusker! Das Barometer ist ge- stiegen, der Wind weht aus Nordost; die Zeit ist kostbar. Jch trenne mich auf eine Woche von der süßen Familienqual, auf eine Woche von Kindergeschrei und Miethskasernengetöse. Aber nach Menschenart schleppe ich doch ein Stück von der Kette mit mir: einen zehnjährigen, braun- äugigen Knaben, der, zurückgelassen, das Haus umkehren würde, jetzt aber dafür sorgen wird, daß des Vaters Asyl nicht zu idyllisch werde. Eine Harzreise gehörte in jener guten alten Zeit der Posten, Hauderer und Fußwanderer zu den denkwürdigen Unternehmungen; ein Ausflug nach dem Harz, wie man jetzt eine solche Eisenbahn=Klapperfahrt nennt, ist für den Berliner eben nichts weiter, als ein Abstecher. Wir haben seit zwanzig Jahren unendlich an Schnelligkeit gewonnen, aber auch unglaublich viel Anderes darüber eingebüßt. Wenn die Menschheit einst von Eisen- bahn=Courierfahrten und Fabrikkonkurrenz ganz entnervt sein wird, dann sehnt sie sich sicherlich zurück in die patriarchalische Zeit, wo der Mensch den Raum nur mittels seiner Füße oder mittels der Beine thierischer Mitgeschöpfe maß. Mit den Eisenbahnen geht es uns wie mit den Fern- röhren. Ein Teleskop vergrößert das Objekt, aber es rückt uns dasselbe auch aus allem natürlichen Zusammenhange mit der Umgebung; schon eine Brille verleitet den Menschen zu falschen Urtheilen. Aus diesem Grunde sagte Goethe: „Die Fernröhre und Mikroskope verwirren den reinen Menschensinn“, und eben deßwegen mochte er die Brillen und Brillen- träger nicht leiden; nur unser Auge giebt uns eine richtige Schätzung der natürlichen Verhältnisse unserer Umgebung. Ebenso sind unsere Schritte das natürliche Maß für alle Entfernungen auf dieser Erdscholle, und das Verhältniß derselben zur Zeit derjenige Begriff von menschlicher Ge- schwindigkeit, deren Form die Natur unserem Denkvermögen verlieh. Des Rosses Eile weicht nur unbedeutend davon ab; das sausende Dahinstürmen der Lokomotive aber, so förderlich für den ganzen kosmopolitischen Humbug, ist weder unserer Nervenkonstitution, noch unseren Sinnen, noch unserm Begriffsvermögen analog. Städte, Landschaften und Leute fliegen an unseren schwindelnden Blicken vorüber, ohne daß wir mit dem mütterlichen Boden vertraut, bekannt würden. Und doch danke ich der Potsdam=Magdeburger Eisenbahn=Direktion, daß sie mich in7 3 / 4 Stunden von Berlin nach Thale befördert. Es geht zwar an allen Städteherrlichkeiten ohne Aufenthalt vorüber, nur auf dem düstern Kasematten=Bahnhof von Magdeburg wird eine unerquicklich lange Rast gehalten; vorüber an Halberstadts ehrwürdigem Dom und Vater Gleims traulicher Hütte; vorüber an Quedlinburg, Klopstocks alterthüm- licher Geburtsstätte; vorüber, vorüber! Dafür werde ich um so früher in Thale sein, um fürerst zu ruhen und dann frisch aufzuathmen. Thale liegt am Fuß des Harzes, in freundlicher Ebene. Neben dem Bahnhof erhebt sich das stattliche „ Zehnpfund=Hôtel “. Der Zweck, ein stilles Asyl in schöner Natur zu suchen, verträgt sich aber so wenig mit einer Hôtel=Einrichtung, daß ich es vorzog, tief unten im Dorf das Gast- haus „Zum Forsthaus“ aufzusuchen, das mir als eine gemüthliche und an- ständige Behausung empfohlen worden war. Der Weg führt an der Bode entlang, die hier ihr wildes Gemüth beruhigt hat und zwischen unzähli- gen Steinen von allen Größen, die sie einst im Jugendungestüm mit sich in das Thal gerissen, breit und seicht dahinfließt. Eine Bretterbrücke führt hinüber nach dem Gasthof, der noch in stolzer Erinnerung der guten alten Zeit, wo es hier noch keine Eisenbahn und keine Hôtels gab, das alte Pfannen=Ziegeldach hoch emporhebt über die benachbarten Bauern- häuser. Ein freundlicher Empfang wird uns von der Wirthin, der ver- wittweten Oberamtmann Mettler, zu Theil, ein gastliches Zimmer uns angewiesen. Nach dem Abendessen, das im anmuthigen Gärtchen unter einem ehrwürdigen Akazienbaum aufgetragen wird, setze ich mich zu der plaudernden Gesellschaft, die traulich auf den Bänken vor der Hausthür weilt. Zu uns gesellt sich der gegenüber wohnende Förster Daude, mit welchem jeder humane Gast leicht befreundet wird. Er ist ein siebzig- jähriger Greis, der beinahe fünfzig Jahre im Dienst ist und mancherlei Heiteres und Trübes erlebt hat; sein einziger Sohn wurde auf der Jagd und vor seinen Augen von Freundeshand unvorsichtiger Weise erschossen. Ein schöner Abend, ein klarer Horizont, der die funkelnde Sternendecke weithin über die ferne Bergkette spannt. O ihr gesegneten Dichter und Literatoren der alten Zeit, und selbst Du, mühselig beladener alter Schul- meister und Poet Joh. Heinrich Voß im Hadeler Sumpflande! Jhr Alle hattet doch wenigstens ein Gartenplätzchen und ein großes freies Stück Himmel voll Sterne! Und all' euer Mühen reichte nicht an die Gefängniß- leiden eines großstädtischen Literaten. Es scheint kaum glaublich, daß jene beiden gegenüberliegenden Gipfel, auf deren jedem sich ein weiß schimmerndes Gebäude zeigt, die beiden charakteristischen Glanzpunkte des Harzgebirges seien: die Roßtrappe und der Hexentanzplatz. Hier noch in der Ebene, und dort gegen 800 Fuß hohe Berge, Gebirgsschluchten, ein wildtosender Strom! Und doch ist es so. Nur einiger Tausend Schritte bedarf es, um in das Bodethal zu gelangen. Sobald man an dem Hubertusbade vorüber gekommen ist und die Hütte des alten Jnvaliden erreicht hat, sieht man schon an der gegen- überliegenden Felswand seltsame Formationen. Der alte Jnvalide, der zu seinem Leidwesen den Fremden nichts mehr vorschießen darf, erläßt eine etwas kauderwälsche Einladung, seine „Räuberhöhle“ zu besuchen, die wir, allem Räuber= und Kriegswesen abhold, ablehnen. Die Stelle, wo der Jnvalide als Räuberhöhlenhüter seinen Sitz _____________aufgeschlagen, mag früher, vielleicht ehe das gegenüberliegende Hôtel „Zum neuen Waldkater“ erbaut war, romantische Punkte dargeboten haben; denn wir finden hier zahlreiche Moosplätzchen, durch sinnige Ueberschriften, als „Minna's=“, „Eduards=“, „Rosaliens“= u. s. w. Lieblingsplätze bezeichnet; durch solche zarte Me- mento 's würde uns schier die ganze Clauren=Romantik in die Seele zurück- gezaubert, wenn uns nicht „Müllers und Schultze's Ruh“ daran erinnerte, daß heut doch Alles nur „Kladderadatsch“ ist. Wenige Schritte, und wir haben das Wirthshaus „Zum Waldkater“ ( dem alten ) erreicht und nehmen Platz zu einem frugalen Frühstück. Ein schottischer Plaid erweist seine vortrefflichen Dienste schon hier, wie auf allen Ruheplätzen im Gebirge; hoffentlich wird man bald das Privile- gium aufheben, welches bis jetzt nur die Studenten für diese Tracht zu haben scheinen, und allen Altersstufen ein Recht auf dieses zweckmäßige und leicht tragbare Kleidungsstück einräumen. Weiter aufwärts führt uns ein Brückchen nach dem andern Ufer, zur sogenannten „Conditorei“, einem Kaffee= und Bierhäuschen, welches gerade an einer charakteristischen Stelle der schmalen Thalschlucht angelegt worden. Hoch, fast senkrecht auf- geschossen, wunderlich abgebrochen, abgerundet, zugespitzt oder gezackt, stehen die hohen grauen Felswände aus Urgestein, in allen Rissen und Spalten mit lebenbegierigem Strauch=, Ranken= und Schlinggewächs geziert. Zwi- schen ihnen hindurch hat sich die Bodenixe ihr Bett aufgewühlt und mit Steinen von allen Größen unsänftiglich gepolstert. Mit gleichmäßigem Tosen und Sausen braust sie, weißen Schaum spritzend, dahin. Mein brauner Knabe hat sich einen großen Stein mitten im Flußbett zu seinem Sitz erwählt, und wie er dasitzt, in weißen Wasserstaub gehüllt, in seinem Mäntelchen aus Ziegenhaar, mit dem jugendlich frohen Auge, so gemahnt er mich an Uhlands Hirtenknaben und an die Strophe: „Hier ist des Stromes Murterhaus, Jch trink' ihn frisch vom Stein heraus; Er braust vom Fels in wildem Lauf, Jch fang' ihn mit den Armen auf. Jch bin der Knab' vom Berge!“

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt22_1868/5>, abgerufen am 05.06.2024.