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Sonntags-Blatt. Nr. 15. Berlin, 12. April 1868.

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[Beginn Spaltensatz] sind, und das kann uns Beiden gewiß Niemand absprechen. Und
wenngleich wir verschiedenen Konfessionen angehören, so beten wir
doch zu einem Gott, und derselbe Erlöser ist für uns gestorben; was
stünde da unserer Verbindung entgegen? Aber so viel ist mir aus
Deinem Reden klar geworden, daß der Oheim gesagt, eher als mich
könne sein Ewald die Gänseliese freien, und er würde nie seine Ein-
willigung zu unserer Heirath geben, worauf Du erwidert, weder Du
noch ich würden uns aufdrängen, ich könne nur seines Sohnes Weib
werden, wenn er komme und um mich bitte. Das war recht, Vater!"
Das Mädchen warf den Kopf höher empor; etwas von dem alten
Stolz und Trotz lag wieder auf ihrem Angesicht. "Ganz recht ge-
sprochen, Vater, und das muß gehalten werden; aber", schon zitterte
die Stimme und um die Mundwinkel zuckte es mit tiefem Weh,
"es ist zum Herzbrechen traurig, daß es ist, wie es ist!"

Ein Thränenstrom, so heiß und unaufhaltsam, wie ihn nur die
Jugend weint und auch nur bei dem ersten großen Schmerz, überflutete
Gertruds Antlitz. Sie eilte aus dem Wohnzimmer nach ihrer Stube,
und der Vater hielt sie nicht zurück. Er konnte ihr keine stichhaltigen
Trostgründe sagen, und leere Worte waren seiner geraden, offenen
Natur zuwider. Der alte Gottfried wußte auch aus eigener Er-
fahrung, daß es Schmerzen giebt, die man am besten mit sich selber
durchkämpft.



Jn der schönen Geisblattlaube, welche hinter dem Hause am Ende
des großen Obstgartens sich befand, saß Gertrud am nächsten Tage.
Die Laube lag auf einer kleinen Anhöhe, so daß man über die Obst-
bäume fort nach dem Dorfe, den Feldern, dem Wald und der fernen
Hügelkette schauen konnte; wiederum aber war ihr grünes Geranke
so dicht, daß von außen Keiner, er mußte denn gerade vor der
Oeffnung stehen, hineinzublicken vermochte. Keiner? Einer doch.
Ewald wußte es fast immer, wenn die hübsche Base auf ihrem
Lieblingsplatz weilte, und mit einem kühnen, geschickten Sprunge war
er dann oft über die Hecke, welche die Obstgärten schied, gesprungen,
ohne aber deßhalb immer Einlaß zu dem Heiligthum zu erhalten.
Wenn Gertrud ungnädig war über irgend eine vermeintliche Ver-
nachlässigung, oder wenn sie den Vetter ein wenig quälen wollte,
und dazu hatte sie oft Lust, dann mußte er vor der Pforte des Pa-
radieses bleiben, und ihre kleinen Scharmützel wurden auf diese Weise
geführt. Oft aber saß er auch dort bei ihr in Frieden und Eintracht,
und fröhliches Scherzen und Lachen ward hörbar, oder Gertrud neckte
Ewald über die tiefe Schweigsamkeit und die ernste, gedankenvolle
Miene, mit der er ihr gegenüber saß, während er in diesem Sinnen
sehr glücklich war und sich die Zukunft an ihrer Seite ausmalte, denn
er war sich schon viel früher als das vier Jahr jüngere Mädchen
seiner Gefühle bewußt, bei ihm stand es schon lange fest, daß seine
hübsche Base sein Weib werden müsse.

Heut saß Gertrud allein in ihrer Laube, allein mit ihrem Jammer.
Das Gebetbuch lag aufgeschlagen vor ihr, sie war heut nicht in der
Kirche gewesen und hatte jetzt versucht, ein Lied zu lesen, aber es
wollte nicht gehen. Die Gedanken schweiften immer ab, die frommen
Worte besaßen nicht die Macht, die Unruhe ihres Herzens zu be-
schwichtigen.

Am Morgen hatte die Muhme Beate mit Gertrud, die sie hoch
und werth hielt wie ein eigen Kind, gesprochen; die Thränen der
guten Alten hatten sich mit denen der Jungfrau gemischt, denn auch
der Mutter war ein lieber, langgehegter Herzenswunsch vernichtet
durch ihres Mannes harten Ausspruch, für den es, wie sie selbst
glaubte, kein Zurücknehmen gab, und etwas von der Muthlosigkeit
der Muhme hatte sich von Neuem Gertrud mitgetheilt.

Gestern Abend, nachdem sie so heiße Thränen geweint, war nach
dem Austoben des ersten Schmerzenssturmes wieder ein Hoffnungs-
strahl in ihr emporgestiegen. Das junge Mädchen meinte, der Oheim
könne auf die Dauer gar nicht einen so unsinnigen Machtspruch auf-
recht erhalten. Sie kannte ihn als einen zwar heftigen, herrschsüchtigen,
eigensinnigen, aber doch auch gütigen Mann. Zu ihr war er
immer freundlich gewesen; manchen kleinen Wunsch, den sie dem Vater
nicht zu sagen wagte, hatte der so viel reichere Oheim ihr erfüllt,
und wenn es ihr auch meist durch Muhme Beate gereicht wurde, sie
wußte doch, daß die sanfte, stille Frau Nichts ohne des Mannes
Wissen und Willen that. Es war Gertrud oft gewesen, als wenn
ihr frisches, neckisches Wesen dem Oheim mehr zusage als der Muhme,
und wenn sie es einmal in ihrem Muthwillen zu weit getrieben nach
des stilleren Vaters Meinung, an dem Oheim fand sie stets einen
Fürsprecher und Hinterhalt. Daß er nun sollte taub und blind sein
gegen ihr Herzeleid, daß er seinen Ewald, dem er doch stets ein
ordentlicher, braver Vater gewesen, elend machen sollte, das schien
Gertrud ganz undenkbar. Es war gewiß mit dem Verbot nur eine
vorübergehende Schrulle; irgend Einer hatte dem Oheim den Unsinn
eingeredet, aber er war ja ein viel zu verständiger Mann, er mußte
bald einsehen, daß es eitel Thorheit sei. Weil es nun ein Paar Mal
[Spaltenumbruch] zugetroffen, daß [unleserliches Material - 9 Zeichen fehlen]gemischte Ehen nicht gut ausgefallen, sollte die Aus-
nahme als Regel dastehen, und so manches Glück sollte zerschellen,
so manches Herz einsam bleiben, um solches Vorurtheils willen! Und
war in diesen Ehen, welche der Oheim angeführt, denn wohl der ver-
schiedene Glaube der Grund zum Unfrieden? Lag es nicht vielmehr an
ganz anderen Ursachen, bei deren Vorhandensein kein Familienglück
gedeihen kann? Das mußte der Oheim einsehen, und es wäre zu unver-
ständig gewesen, nach Gertruds Meinung, wenn er bei seinem Verbot
beharrte.

Ein junges frisches Herz, das überdies bis jetzt noch keinen Kum-
mer erfahren, stemmt sich eifrig und muthig gegen den Schmerz und
will es schwer glauben, daß das düstere Erbtheil der Erde auch ihm
beschieden sei. Nach dem ersten betäubenden Schlage richtete Gertrud
wieder ihr Haupt empor, immer noch hoffend, es müsse sich Alles
zum Guten wenden.

Aber die Unterredung mit der Muhme drückte schon wieder die
aufgekeimten Hoffnungen nieder, und daß Ewald noch gar nicht zu
ihr gekommen, schien ihr ein sehr schlimmes Zeichen. Wenn er das
Schwere ruhig hingenommen, dann mußte es wohl kein Entrinnen
aus dem Verhängniß geben. Wieder trat der heiße Jammer an das
Herz des Mädchens heran, es zusammenschnürend mit seiner gewaltigen
Eisenhand. Thräne auf Thräne entquoll ihren Augen; doch nicht
kühl und lindernd, langsam und brennend rollten die schweren Tropfen
nieder, jeder ein Stück Jugend, Lebensfreude, Hoffnung und Glück
mit sich fortnehmend -- zur Nimmerwiederkehr.

Ewald hatte die Geliebte noch nie in Thränen, noch nie von einem
schweren Schmerz gebeugt gesehen; als Kind hatte sie zuweilen aus
Trotz und Unmuth, wohl auch aus Reue geweint, aber Kinderthränen
sind meist so nahe mit dem Lächeln zusammen, wie Regen und
Sonnenschein bei einem Gewitterschauer.

Als Ewald Gertrud so still und regungslos vor sich sitzen sah,
die frische Gestalt, matt und gebrochen, die verschlungenen Hände im
Schooß ruhend, das sonst so rosige Antlitz nach der schmerzdurch-
wachten Nacht bleicher, als er es je erschaut, mit den hellen Thränen
an den gesenkten Wimpern hängend, ein Bild tiefster Hoffnungslosig-
keit, da wollt' es ihm schier das Herz brechen.

"Gertrud!" sagte er heiß und leidenschaftlich.

Sie hob die thränenvollen Augen empor, aber es war ihr, als
müsse sie wieder den Blick senken vor der Liebesgluth, die sie aus den
Augen des Mannes traf, der nun nicht mehr ihr Verlobter war, der
nie ihr Gatte sein sollte.

"So weißt Du Alles, Gertrud?" sagte er dumpf.

"Ja, Ewald."

"Glaubst Du, der Vater könne Recht haben?"

"Nein."

"Gott sei gelobt!" rang es sich aus Ewalds Brust hervor.

"Was hilft das uns?" fragte sie trübe.

"Du meinst, wir müssen uns fügen?"

"Ja."

"Und das kannst Du so ruhig sagen?" rief er in aufbrau-
sendem Ton.

Gertrud antwortete nicht, doch ihre Thränen fielen dichter und
schneller nieder.

"Jch will mich nicht unterjochen lassen, ich will mein gutes Recht,
das heiligste Vorrecht eines Mannes, sich ein Weib zu wählen nach
seinem Sinne, nicht einer verschrobenen Grille, einem eitlen Hirn-
gespinnst opfern!" sagte Ewald, zitternd vor innerer Erregung.

"Hoffst Du, Dein Vater werde seinen Willen ändern, sein Wort
zurücknehmen?"

"Nimmer."

"Und meinst Du, ich würde Dein Weib werden ohne seine Ein-
willigung? Wenn mein Oheim nicht in meines Vaters Haus kommt
und für Dich um mich wirbt --"

"Eher rückte sich der Kirchthurm dort von seiner Stelle", sagte
Ewald dumpf."

"Dann sind wir geschieden für das Leben."

Jedes der beiden Herzen wußte, daß der trennende Machtspruch
gesprochen.

Sie saßen bei einander, lange, lange. Keiner redete. Was hätten
sie sich sagen sollen? Es gab ja keine zukünftigen Pläne zu be-
sprechen; in ihrem ersten herben Weh sahen sie keine Zukunft
vor sich.

Ueber dem Garten und dem Dorfe lag die Ruhe des Sonntags,
durch kein werkeltägiges Geräusch gestört; ganz von fern her drangen
die Klänge der Musik vom Tanz unter der Linde. Wie Gertrud und
Ewald es sich gestern so schön gedacht, heut als Brautpaar dort zu
erscheinen und doppelt gefeiert zu werden als solches, wie sie am vori-
gen Sonntag noch so heiter und glücklich sich unter der muntern
Schaar befunden hatten! Nun lag das Alles hinter ihnen; so weit
und fern schien es gerückt, als käme es vom Jenseits, aus einem
früheren Leben!

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] sind, und das kann uns Beiden gewiß Niemand absprechen. Und
wenngleich wir verschiedenen Konfessionen angehören, so beten wir
doch zu einem Gott, und derselbe Erlöser ist für uns gestorben; was
stünde da unserer Verbindung entgegen? Aber so viel ist mir aus
Deinem Reden klar geworden, daß der Oheim gesagt, eher als mich
könne sein Ewald die Gänseliese freien, und er würde nie seine Ein-
willigung zu unserer Heirath geben, worauf Du erwidert, weder Du
noch ich würden uns aufdrängen, ich könne nur seines Sohnes Weib
werden, wenn er komme und um mich bitte. Das war recht, Vater!“
Das Mädchen warf den Kopf höher empor; etwas von dem alten
Stolz und Trotz lag wieder auf ihrem Angesicht. „Ganz recht ge-
sprochen, Vater, und das muß gehalten werden; aber“, schon zitterte
die Stimme und um die Mundwinkel zuckte es mit tiefem Weh,
„es ist zum Herzbrechen traurig, daß es ist, wie es ist!“

Ein Thränenstrom, so heiß und unaufhaltsam, wie ihn nur die
Jugend weint und auch nur bei dem ersten großen Schmerz, überflutete
Gertruds Antlitz. Sie eilte aus dem Wohnzimmer nach ihrer Stube,
und der Vater hielt sie nicht zurück. Er konnte ihr keine stichhaltigen
Trostgründe sagen, und leere Worte waren seiner geraden, offenen
Natur zuwider. Der alte Gottfried wußte auch aus eigener Er-
fahrung, daß es Schmerzen giebt, die man am besten mit sich selber
durchkämpft.



Jn der schönen Geisblattlaube, welche hinter dem Hause am Ende
des großen Obstgartens sich befand, saß Gertrud am nächsten Tage.
Die Laube lag auf einer kleinen Anhöhe, so daß man über die Obst-
bäume fort nach dem Dorfe, den Feldern, dem Wald und der fernen
Hügelkette schauen konnte; wiederum aber war ihr grünes Geranke
so dicht, daß von außen Keiner, er mußte denn gerade vor der
Oeffnung stehen, hineinzublicken vermochte. Keiner? Einer doch.
Ewald wußte es fast immer, wenn die hübsche Base auf ihrem
Lieblingsplatz weilte, und mit einem kühnen, geschickten Sprunge war
er dann oft über die Hecke, welche die Obstgärten schied, gesprungen,
ohne aber deßhalb immer Einlaß zu dem Heiligthum zu erhalten.
Wenn Gertrud ungnädig war über irgend eine vermeintliche Ver-
nachlässigung, oder wenn sie den Vetter ein wenig quälen wollte,
und dazu hatte sie oft Lust, dann mußte er vor der Pforte des Pa-
radieses bleiben, und ihre kleinen Scharmützel wurden auf diese Weise
geführt. Oft aber saß er auch dort bei ihr in Frieden und Eintracht,
und fröhliches Scherzen und Lachen ward hörbar, oder Gertrud neckte
Ewald über die tiefe Schweigsamkeit und die ernste, gedankenvolle
Miene, mit der er ihr gegenüber saß, während er in diesem Sinnen
sehr glücklich war und sich die Zukunft an ihrer Seite ausmalte, denn
er war sich schon viel früher als das vier Jahr jüngere Mädchen
seiner Gefühle bewußt, bei ihm stand es schon lange fest, daß seine
hübsche Base sein Weib werden müsse.

Heut saß Gertrud allein in ihrer Laube, allein mit ihrem Jammer.
Das Gebetbuch lag aufgeschlagen vor ihr, sie war heut nicht in der
Kirche gewesen und hatte jetzt versucht, ein Lied zu lesen, aber es
wollte nicht gehen. Die Gedanken schweiften immer ab, die frommen
Worte besaßen nicht die Macht, die Unruhe ihres Herzens zu be-
schwichtigen.

Am Morgen hatte die Muhme Beate mit Gertrud, die sie hoch
und werth hielt wie ein eigen Kind, gesprochen; die Thränen der
guten Alten hatten sich mit denen der Jungfrau gemischt, denn auch
der Mutter war ein lieber, langgehegter Herzenswunsch vernichtet
durch ihres Mannes harten Ausspruch, für den es, wie sie selbst
glaubte, kein Zurücknehmen gab, und etwas von der Muthlosigkeit
der Muhme hatte sich von Neuem Gertrud mitgetheilt.

Gestern Abend, nachdem sie so heiße Thränen geweint, war nach
dem Austoben des ersten Schmerzenssturmes wieder ein Hoffnungs-
strahl in ihr emporgestiegen. Das junge Mädchen meinte, der Oheim
könne auf die Dauer gar nicht einen so unsinnigen Machtspruch auf-
recht erhalten. Sie kannte ihn als einen zwar heftigen, herrschsüchtigen,
eigensinnigen, aber doch auch gütigen Mann. Zu ihr war er
immer freundlich gewesen; manchen kleinen Wunsch, den sie dem Vater
nicht zu sagen wagte, hatte der so viel reichere Oheim ihr erfüllt,
und wenn es ihr auch meist durch Muhme Beate gereicht wurde, sie
wußte doch, daß die sanfte, stille Frau Nichts ohne des Mannes
Wissen und Willen that. Es war Gertrud oft gewesen, als wenn
ihr frisches, neckisches Wesen dem Oheim mehr zusage als der Muhme,
und wenn sie es einmal in ihrem Muthwillen zu weit getrieben nach
des stilleren Vaters Meinung, an dem Oheim fand sie stets einen
Fürsprecher und Hinterhalt. Daß er nun sollte taub und blind sein
gegen ihr Herzeleid, daß er seinen Ewald, dem er doch stets ein
ordentlicher, braver Vater gewesen, elend machen sollte, das schien
Gertrud ganz undenkbar. Es war gewiß mit dem Verbot nur eine
vorübergehende Schrulle; irgend Einer hatte dem Oheim den Unsinn
eingeredet, aber er war ja ein viel zu verständiger Mann, er mußte
bald einsehen, daß es eitel Thorheit sei. Weil es nun ein Paar Mal
[Spaltenumbruch] zugetroffen, daß [unleserliches Material – 9 Zeichen fehlen]gemischte Ehen nicht gut ausgefallen, sollte die Aus-
nahme als Regel dastehen, und so manches Glück sollte zerschellen,
so manches Herz einsam bleiben, um solches Vorurtheils willen! Und
war in diesen Ehen, welche der Oheim angeführt, denn wohl der ver-
schiedene Glaube der Grund zum Unfrieden? Lag es nicht vielmehr an
ganz anderen Ursachen, bei deren Vorhandensein kein Familienglück
gedeihen kann? Das mußte der Oheim einsehen, und es wäre zu unver-
ständig gewesen, nach Gertruds Meinung, wenn er bei seinem Verbot
beharrte.

Ein junges frisches Herz, das überdies bis jetzt noch keinen Kum-
mer erfahren, stemmt sich eifrig und muthig gegen den Schmerz und
will es schwer glauben, daß das düstere Erbtheil der Erde auch ihm
beschieden sei. Nach dem ersten betäubenden Schlage richtete Gertrud
wieder ihr Haupt empor, immer noch hoffend, es müsse sich Alles
zum Guten wenden.

Aber die Unterredung mit der Muhme drückte schon wieder die
aufgekeimten Hoffnungen nieder, und daß Ewald noch gar nicht zu
ihr gekommen, schien ihr ein sehr schlimmes Zeichen. Wenn er das
Schwere ruhig hingenommen, dann mußte es wohl kein Entrinnen
aus dem Verhängniß geben. Wieder trat der heiße Jammer an das
Herz des Mädchens heran, es zusammenschnürend mit seiner gewaltigen
Eisenhand. Thräne auf Thräne entquoll ihren Augen; doch nicht
kühl und lindernd, langsam und brennend rollten die schweren Tropfen
nieder, jeder ein Stück Jugend, Lebensfreude, Hoffnung und Glück
mit sich fortnehmend — zur Nimmerwiederkehr.

Ewald hatte die Geliebte noch nie in Thränen, noch nie von einem
schweren Schmerz gebeugt gesehen; als Kind hatte sie zuweilen aus
Trotz und Unmuth, wohl auch aus Reue geweint, aber Kinderthränen
sind meist so nahe mit dem Lächeln zusammen, wie Regen und
Sonnenschein bei einem Gewitterschauer.

Als Ewald Gertrud so still und regungslos vor sich sitzen sah,
die frische Gestalt, matt und gebrochen, die verschlungenen Hände im
Schooß ruhend, das sonst so rosige Antlitz nach der schmerzdurch-
wachten Nacht bleicher, als er es je erschaut, mit den hellen Thränen
an den gesenkten Wimpern hängend, ein Bild tiefster Hoffnungslosig-
keit, da wollt' es ihm schier das Herz brechen.

„Gertrud!“ sagte er heiß und leidenschaftlich.

Sie hob die thränenvollen Augen empor, aber es war ihr, als
müsse sie wieder den Blick senken vor der Liebesgluth, die sie aus den
Augen des Mannes traf, der nun nicht mehr ihr Verlobter war, der
nie ihr Gatte sein sollte.

„So weißt Du Alles, Gertrud?“ sagte er dumpf.

„Ja, Ewald.“

„Glaubst Du, der Vater könne Recht haben?“

„Nein.“

„Gott sei gelobt!“ rang es sich aus Ewalds Brust hervor.

„Was hilft das uns?“ fragte sie trübe.

„Du meinst, wir müssen uns fügen?“

„Ja.“

„Und das kannst Du so ruhig sagen?“ rief er in aufbrau-
sendem Ton.

Gertrud antwortete nicht, doch ihre Thränen fielen dichter und
schneller nieder.

„Jch will mich nicht unterjochen lassen, ich will mein gutes Recht,
das heiligste Vorrecht eines Mannes, sich ein Weib zu wählen nach
seinem Sinne, nicht einer verschrobenen Grille, einem eitlen Hirn-
gespinnst opfern!“ sagte Ewald, zitternd vor innerer Erregung.

„Hoffst Du, Dein Vater werde seinen Willen ändern, sein Wort
zurücknehmen?“

„Nimmer.“

„Und meinst Du, ich würde Dein Weib werden ohne seine Ein-
willigung? Wenn mein Oheim nicht in meines Vaters Haus kommt
und für Dich um mich wirbt —“

„Eher rückte sich der Kirchthurm dort von seiner Stelle“, sagte
Ewald dumpf.“

„Dann sind wir geschieden für das Leben.“

Jedes der beiden Herzen wußte, daß der trennende Machtspruch
gesprochen.

Sie saßen bei einander, lange, lange. Keiner redete. Was hätten
sie sich sagen sollen? Es gab ja keine zukünftigen Pläne zu be-
sprechen; in ihrem ersten herben Weh sahen sie keine Zukunft
vor sich.

Ueber dem Garten und dem Dorfe lag die Ruhe des Sonntags,
durch kein werkeltägiges Geräusch gestört; ganz von fern her drangen
die Klänge der Musik vom Tanz unter der Linde. Wie Gertrud und
Ewald es sich gestern so schön gedacht, heut als Brautpaar dort zu
erscheinen und doppelt gefeiert zu werden als solches, wie sie am vori-
gen Sonntag noch so heiter und glücklich sich unter der muntern
Schaar befunden hatten! Nun lag das Alles hinter ihnen; so weit
und fern schien es gerückt, als käme es vom Jenseits, aus einem
früheren Leben!

[Ende Spaltensatz]
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[114/0002] 114 sind, und das kann uns Beiden gewiß Niemand absprechen. Und wenngleich wir verschiedenen Konfessionen angehören, so beten wir doch zu einem Gott, und derselbe Erlöser ist für uns gestorben; was stünde da unserer Verbindung entgegen? Aber so viel ist mir aus Deinem Reden klar geworden, daß der Oheim gesagt, eher als mich könne sein Ewald die Gänseliese freien, und er würde nie seine Ein- willigung zu unserer Heirath geben, worauf Du erwidert, weder Du noch ich würden uns aufdrängen, ich könne nur seines Sohnes Weib werden, wenn er komme und um mich bitte. Das war recht, Vater!“ Das Mädchen warf den Kopf höher empor; etwas von dem alten Stolz und Trotz lag wieder auf ihrem Angesicht. „Ganz recht ge- sprochen, Vater, und das muß gehalten werden; aber“, schon zitterte die Stimme und um die Mundwinkel zuckte es mit tiefem Weh, „es ist zum Herzbrechen traurig, daß es ist, wie es ist!“ Ein Thränenstrom, so heiß und unaufhaltsam, wie ihn nur die Jugend weint und auch nur bei dem ersten großen Schmerz, überflutete Gertruds Antlitz. Sie eilte aus dem Wohnzimmer nach ihrer Stube, und der Vater hielt sie nicht zurück. Er konnte ihr keine stichhaltigen Trostgründe sagen, und leere Worte waren seiner geraden, offenen Natur zuwider. Der alte Gottfried wußte auch aus eigener Er- fahrung, daß es Schmerzen giebt, die man am besten mit sich selber durchkämpft. Jn der schönen Geisblattlaube, welche hinter dem Hause am Ende des großen Obstgartens sich befand, saß Gertrud am nächsten Tage. Die Laube lag auf einer kleinen Anhöhe, so daß man über die Obst- bäume fort nach dem Dorfe, den Feldern, dem Wald und der fernen Hügelkette schauen konnte; wiederum aber war ihr grünes Geranke so dicht, daß von außen Keiner, er mußte denn gerade vor der Oeffnung stehen, hineinzublicken vermochte. Keiner? Einer doch. Ewald wußte es fast immer, wenn die hübsche Base auf ihrem Lieblingsplatz weilte, und mit einem kühnen, geschickten Sprunge war er dann oft über die Hecke, welche die Obstgärten schied, gesprungen, ohne aber deßhalb immer Einlaß zu dem Heiligthum zu erhalten. Wenn Gertrud ungnädig war über irgend eine vermeintliche Ver- nachlässigung, oder wenn sie den Vetter ein wenig quälen wollte, und dazu hatte sie oft Lust, dann mußte er vor der Pforte des Pa- radieses bleiben, und ihre kleinen Scharmützel wurden auf diese Weise geführt. Oft aber saß er auch dort bei ihr in Frieden und Eintracht, und fröhliches Scherzen und Lachen ward hörbar, oder Gertrud neckte Ewald über die tiefe Schweigsamkeit und die ernste, gedankenvolle Miene, mit der er ihr gegenüber saß, während er in diesem Sinnen sehr glücklich war und sich die Zukunft an ihrer Seite ausmalte, denn er war sich schon viel früher als das vier Jahr jüngere Mädchen seiner Gefühle bewußt, bei ihm stand es schon lange fest, daß seine hübsche Base sein Weib werden müsse. Heut saß Gertrud allein in ihrer Laube, allein mit ihrem Jammer. Das Gebetbuch lag aufgeschlagen vor ihr, sie war heut nicht in der Kirche gewesen und hatte jetzt versucht, ein Lied zu lesen, aber es wollte nicht gehen. Die Gedanken schweiften immer ab, die frommen Worte besaßen nicht die Macht, die Unruhe ihres Herzens zu be- schwichtigen. Am Morgen hatte die Muhme Beate mit Gertrud, die sie hoch und werth hielt wie ein eigen Kind, gesprochen; die Thränen der guten Alten hatten sich mit denen der Jungfrau gemischt, denn auch der Mutter war ein lieber, langgehegter Herzenswunsch vernichtet durch ihres Mannes harten Ausspruch, für den es, wie sie selbst glaubte, kein Zurücknehmen gab, und etwas von der Muthlosigkeit der Muhme hatte sich von Neuem Gertrud mitgetheilt. Gestern Abend, nachdem sie so heiße Thränen geweint, war nach dem Austoben des ersten Schmerzenssturmes wieder ein Hoffnungs- strahl in ihr emporgestiegen. Das junge Mädchen meinte, der Oheim könne auf die Dauer gar nicht einen so unsinnigen Machtspruch auf- recht erhalten. Sie kannte ihn als einen zwar heftigen, herrschsüchtigen, eigensinnigen, aber doch auch gütigen Mann. Zu ihr war er immer freundlich gewesen; manchen kleinen Wunsch, den sie dem Vater nicht zu sagen wagte, hatte der so viel reichere Oheim ihr erfüllt, und wenn es ihr auch meist durch Muhme Beate gereicht wurde, sie wußte doch, daß die sanfte, stille Frau Nichts ohne des Mannes Wissen und Willen that. Es war Gertrud oft gewesen, als wenn ihr frisches, neckisches Wesen dem Oheim mehr zusage als der Muhme, und wenn sie es einmal in ihrem Muthwillen zu weit getrieben nach des stilleren Vaters Meinung, an dem Oheim fand sie stets einen Fürsprecher und Hinterhalt. Daß er nun sollte taub und blind sein gegen ihr Herzeleid, daß er seinen Ewald, dem er doch stets ein ordentlicher, braver Vater gewesen, elend machen sollte, das schien Gertrud ganz undenkbar. Es war gewiß mit dem Verbot nur eine vorübergehende Schrulle; irgend Einer hatte dem Oheim den Unsinn eingeredet, aber er war ja ein viel zu verständiger Mann, er mußte bald einsehen, daß es eitel Thorheit sei. Weil es nun ein Paar Mal zugetroffen, daß _________gemischte Ehen nicht gut ausgefallen, sollte die Aus- nahme als Regel dastehen, und so manches Glück sollte zerschellen, so manches Herz einsam bleiben, um solches Vorurtheils willen! Und war in diesen Ehen, welche der Oheim angeführt, denn wohl der ver- schiedene Glaube der Grund zum Unfrieden? Lag es nicht vielmehr an ganz anderen Ursachen, bei deren Vorhandensein kein Familienglück gedeihen kann? Das mußte der Oheim einsehen, und es wäre zu unver- ständig gewesen, nach Gertruds Meinung, wenn er bei seinem Verbot beharrte. Ein junges frisches Herz, das überdies bis jetzt noch keinen Kum- mer erfahren, stemmt sich eifrig und muthig gegen den Schmerz und will es schwer glauben, daß das düstere Erbtheil der Erde auch ihm beschieden sei. Nach dem ersten betäubenden Schlage richtete Gertrud wieder ihr Haupt empor, immer noch hoffend, es müsse sich Alles zum Guten wenden. Aber die Unterredung mit der Muhme drückte schon wieder die aufgekeimten Hoffnungen nieder, und daß Ewald noch gar nicht zu ihr gekommen, schien ihr ein sehr schlimmes Zeichen. Wenn er das Schwere ruhig hingenommen, dann mußte es wohl kein Entrinnen aus dem Verhängniß geben. Wieder trat der heiße Jammer an das Herz des Mädchens heran, es zusammenschnürend mit seiner gewaltigen Eisenhand. Thräne auf Thräne entquoll ihren Augen; doch nicht kühl und lindernd, langsam und brennend rollten die schweren Tropfen nieder, jeder ein Stück Jugend, Lebensfreude, Hoffnung und Glück mit sich fortnehmend — zur Nimmerwiederkehr. Ewald hatte die Geliebte noch nie in Thränen, noch nie von einem schweren Schmerz gebeugt gesehen; als Kind hatte sie zuweilen aus Trotz und Unmuth, wohl auch aus Reue geweint, aber Kinderthränen sind meist so nahe mit dem Lächeln zusammen, wie Regen und Sonnenschein bei einem Gewitterschauer. Als Ewald Gertrud so still und regungslos vor sich sitzen sah, die frische Gestalt, matt und gebrochen, die verschlungenen Hände im Schooß ruhend, das sonst so rosige Antlitz nach der schmerzdurch- wachten Nacht bleicher, als er es je erschaut, mit den hellen Thränen an den gesenkten Wimpern hängend, ein Bild tiefster Hoffnungslosig- keit, da wollt' es ihm schier das Herz brechen. „Gertrud!“ sagte er heiß und leidenschaftlich. Sie hob die thränenvollen Augen empor, aber es war ihr, als müsse sie wieder den Blick senken vor der Liebesgluth, die sie aus den Augen des Mannes traf, der nun nicht mehr ihr Verlobter war, der nie ihr Gatte sein sollte. „So weißt Du Alles, Gertrud?“ sagte er dumpf. „Ja, Ewald.“ „Glaubst Du, der Vater könne Recht haben?“ „Nein.“ „Gott sei gelobt!“ rang es sich aus Ewalds Brust hervor. „Was hilft das uns?“ fragte sie trübe. „Du meinst, wir müssen uns fügen?“ „Ja.“ „Und das kannst Du so ruhig sagen?“ rief er in aufbrau- sendem Ton. Gertrud antwortete nicht, doch ihre Thränen fielen dichter und schneller nieder. „Jch will mich nicht unterjochen lassen, ich will mein gutes Recht, das heiligste Vorrecht eines Mannes, sich ein Weib zu wählen nach seinem Sinne, nicht einer verschrobenen Grille, einem eitlen Hirn- gespinnst opfern!“ sagte Ewald, zitternd vor innerer Erregung. „Hoffst Du, Dein Vater werde seinen Willen ändern, sein Wort zurücknehmen?“ „Nimmer.“ „Und meinst Du, ich würde Dein Weib werden ohne seine Ein- willigung? Wenn mein Oheim nicht in meines Vaters Haus kommt und für Dich um mich wirbt —“ „Eher rückte sich der Kirchthurm dort von seiner Stelle“, sagte Ewald dumpf.“ „Dann sind wir geschieden für das Leben.“ Jedes der beiden Herzen wußte, daß der trennende Machtspruch gesprochen. Sie saßen bei einander, lange, lange. Keiner redete. Was hätten sie sich sagen sollen? Es gab ja keine zukünftigen Pläne zu be- sprechen; in ihrem ersten herben Weh sahen sie keine Zukunft vor sich. Ueber dem Garten und dem Dorfe lag die Ruhe des Sonntags, durch kein werkeltägiges Geräusch gestört; ganz von fern her drangen die Klänge der Musik vom Tanz unter der Linde. Wie Gertrud und Ewald es sich gestern so schön gedacht, heut als Brautpaar dort zu erscheinen und doppelt gefeiert zu werden als solches, wie sie am vori- gen Sonntag noch so heiter und glücklich sich unter der muntern Schaar befunden hatten! Nun lag das Alles hinter ihnen; so weit und fern schien es gerückt, als käme es vom Jenseits, aus einem früheren Leben!

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 15. Berlin, 12. April 1868, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt15_1868/2>, abgerufen am 07.06.2024.