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Sonntags-Blatt. Nr. 9. Berlin, 1. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz] mit dem Kopf. Sie blickte dabei wie nach Befreiung im Garten
umher, und gewahrte jetzt plötzlich die Kinder am Ende des Ganges.

"Posthuma!" rief sie. "Komm einmal her, Posthuma!"

"Wer ist der fremde Herr, Paula?" fragte der Knabe.

"Jch weiß nicht Paul", sagte sie. "Komm."

Er wollte nicht; doch sie bat, und er ging mit ihr.

Der Fremde hatte ein Lorgnon auf die Nase gesetzt und betrachtete
sie aufmerksam. Als sie näher kam, grüßte er zuvorkommend mit
dem Hut und machte eine leichte Verbeugung. Paul blieb verlegen
in einiger Entfernung stehen, das Mädchen ging auf die Dame zu.

"Was wünschst Du, Mama?" fragte sie.

"Du bist nicht sehr höflich, Posthuma", antwortete die Baronin;
"siehst Du nicht, daß Du begrüßt wirst?"

Der Vorwurf, der in den Worten lag, wurde fast durch den Ton,
mit dem sie gesprochen, zunichte gemacht. Das Mädchen wendete sich
kurz gegen den Fremden um und knixte.

"Komm doch, Paul!" rief sie dann, sich nach ihrem Gefährten
umblickend.

Die Baronin erstickte ein unwillkürliches Lachen, indem sie sich zu
dem Fremden hinüberneigte.

"Sie sehen, Herr von Torwisch", sagte sie leise, daß die Kinder
Jhre Worte nicht verstanden, während der Angeredete die in ihnen
liegende unverkennbare Jronie nicht bemerkte, "daß nicht alle Mit-
glieder Jhrer edlen Familie dies, wie Sie vorhin meinten, naturgemäße
Erkennungsgefühl besitzen; denn Posthuma hat entschieden das ver-
wandte Blut in Jhnen nicht gefühlt."

Der Fremde zuckte vornehm mit den Achseln.

"So lange die Natur die Möglichkeit verstattete, pflegten die
Torwisch sich untereinander zu verbinden", antwortete er, "und das
mag allerdings zur Erhaltung jenes feinen Jnstinkts des Blutes
erforderlich gewesen sein --"

"Gewiß", unterbrach ihn lächelnd die Frau, welche den Nach-
kommen dies edlen Geschlechts zuerst diesen feinen Jnstinkt geraubt
hatte. "Auf der andern Seite besitzt sie ihn dagegen im höchsten
Grade, wenn es gleich nicht von so gutem Geschmack zeugt, die Ver-
wandtschaft mütterlicher Abstammung mit dem Herzen ausfindig zu
machen --" Die Sprecherin brach hastig ab, denn ihre Lippen be-
gannen wieder bedenklich zu zucken, und sie fügte, gewaltsam eine
ernste Miene annehmend, schnell hinzu: "Aber kennst Du denn Herrn
von Torwisch, Deinen Vetter, nicht mehr, Kind? Er hat seine Uni-
versitätsstudien vollendet und kommt nun, um hier später Amtmann
zu werden, wie Dein Vater und Großvater es war."

"Bist Du der Vetter Alfred?" fragte Posthuma jetzt, den Vor-
gestellten neugierig anblickend. "Du siehst ja schon ebenso alt aus,
wie die häßlichen Gesichter droben im Saal."

Die Baronin wandte sich um und preßte krampfhaft die Hand
auf die Lippen.

"Allerliebst naiv, Frau Tante", erwiderte Herr von Torwisch,
indem er einen mühsamen Versuch machte, zu lächeln. "Ganz wie ich
die Erziehung meiner künftigen Frau wünsche. Gieb mir die Hand,
meine Kleine."

Das Mädchen riß mit einer schnellen Bewegung die Hand, die
er gefaßt, aus der seinen.

"Jch bin nicht klein", sagte sie, sich hoch aufrichtend, "und ich
gebe Dir die Hand nicht, denn Dich mag ich nicht heirathen." Da-
bei faßte sie Pauls Hand und setzte bestimmt hinzu: "Jch heirathe,
wen ich will."

"Vortrefflich", näselte Herr von Torwisch, "amüsant, Frau Tante!
Jch hätte nicht geglaubt, daß es noch so naive Mädchen in dem Alter
gäbe. Kann auch nur hier unter den Wasservögeln vorkommen. Jn
der That, köstlich! Jn Paris, wo ich mich zuletzt aufhielt, sind in den
Jahren alle Mädchen schon depravees." Er flüsterte das letztere
Wort, dann lachte er auf. "Hätte es auch laut sagen können", fuhr
er fort, "unter den Wasservögeln lernt man sicher kein Französisch.
Haben mich doch begriffen, Frau Tante?"

Es war schwer zu unterscheiden, ob Herr von Torwisch nochmals
über die Jdee der Wasservögel oder über die neue Muthmaßung, daß
dieselben keine französischen Lehrmeister seien, lachte. Die Baronin
schwieg. Jhr vorhin so heiteres Gesicht hatte sich merklich umwölkt,
und ihre Augen ruhten mit einem fast trüben Ausdruck auf dem blü-
henden, unbefangenen Antlitz der Tochter. Dann schien sie selbst
ihren peinlichen Gedanken ein Ende machen zu wollen, denn sie strich
mit der Hand das vom Lauf verwilderte freie Lockenhaar aus der
Stirn des Mädchens und fragte:

"Was habt Jhr denn heut gelernt, Posthuma?"

"O viel, Mama", antwortete diese schnell; "Geographie, Englisch,
Geschichte -- ich weiß jetzt auch, wer die Vikinger waren, Mama."

"Und wer waren die Vikinger, Posthuma?"

"Unsere Vorältern", entgegnete das Mädchen rasch, aber Herr
von Torwisch unterbrach sie.

"Wer ist der Lehrer, der Euch gesagt, daß die Ahnen derer
[Spaltenumbruch] von Torwisch sich mit Seeraub beschäftigt haben?" fragte er inquisi-
torisch. "Jch werde ein Wort mit ihm reden!"

Posthuma sah ihn geringschätzig an.

"Torwisch?" wiederholte sie verächtlich. "Nein, das waren keine
Vikinger. Die Vikinger sind Alle stark und muthig und schön --
aber unser Vorfahr", fügte sie, Pauls Hand wieder ergreifend, stolz
hinzu, "und auch Deiner Mama, der alte Paul Steen, das war ein
Vikinger."

Herr von Torwisch wandte sich mit einer Bemerkung über kind-
liche Gespräche, die man in Paris nie mehr höre und die es sicherlich
nur noch unter den Wasservögeln gäbe, an die Baronin, deren Wan-
gen einen Augenblick kaum weniger geröthet schienen, als die des be-
geisterten Mädchens selbst.

"Wer ist denn der Knabe?" fuhr er, einen nachlässigen Blick auf
Paul werfend, in gleichgültigem Tone fort.

"Ebenfalls ein Nachkomme des von Posthuma erwähnten sagen-
haften alten Seemanns", entgegnete die Baronin. "Ein Sohn des
Besitzers von der Steens=Hallig drüben, dessen Frau meine Base
ist und Amme bei Posthuma war, so daß die Beiden Milch-
geschwister sind."

"So!" sagte Herr von Torwisch gelangweilt. "Treibt der Bursche
denn nicht das Gewerbe seines Vaters?"

"Er wird es später; er hat so sehr gewünscht, auch zu lernen,
was Posthuma lernt, mit der er von Klein auf gespielt, daß er jetzt
seit einiger Zeit an ihrem Unterricht Theil nimmt", versetzte die
Mutter. "Er hat auch wohl ein Recht darauf, da er meinem Töch-
terlein vor ungefähr einem Jahre das Leben gerettet". Sie glitt
freundlich mit der Hand über die Wangen des unter den musternden
Blicken des Herrn von Torwisch verlegen umherschauenden Knaben.

"Recht löblich", murmelte der Erstere. "Es mußte sich nicht auf
die Lernbegierde, sondern auf Pauls Qualität als Lebensretter be-
ziehen, da er hinzufügte: "Nehmen Sie sich nur in Acht, Frau Tante,
diesem Jungen Begriffe beizubringen, die über seinen Stand und seine
Herkunft hinausgehen."

Er war der Einzige unter den Anwesenden, der wahrscheinlich keine
Ahnung von der darin für alle Drei gleichmäßig enthaltenen Belei-
digung hatte. Wenigstens schien er die peinliche Stille, die nach den
Worten entstand, nicht zu begreifen, und fragte nachlässig:

"Was hat denn der Bursche?"

Paul hatte ihn einen Augenblick mit blutrothem Gesicht an-
gestarrt, dann war er leise schluchzend fortgegangen und hinter dem
Gartengebüsch verschwunden, während Posthuma den Kopf an die
Brust ihrer Mutter gepreßt hielt. Es war nur eine Sekunde, dann
sah sie mit trotzigem Blick auf, in dem sie dennoch vergeblich zwei
wieder hervorquellende glänzende Thränen zurückzudrängen suchte. Sie
wandte ihn mit einem Ruck verächtlich von ihrem Vetter, dessen
gläserne Augen sie zuerst auf sie gerichtet traf, nach der Seite, wo
Paul gestanden.

"Wo bist Du, Paul?" fragte sie hastig. Aber sie erhielt keine
Antwort. "Wo ist Paul geblieben, Mama?" fuhr sie, ihre Thränen
mit der Hand trocknend, fort.

"Er ist fortgegangen, da hinunter, mein Kind; geh' Du zu ihm",
antwortete die Baronin ernst. Sie küßte Posthuma zärtlich auf die
Stirn, und das Mädchen flog, ohne den Vetter noch eines Blickes zu
würdigen, den Weg hinab.

"Paul, wo bist Du? Paul -- mein guter, lieber Paul!" rief sie.



Sie rief es im Schlaf, daß es laut durchs Zimmer klang.
Unten vor dem offenen Fenster waren leise Tritte hörbar gewor-
den. Erst war der Schritt, der die Drossel aus dem Traum ge-
scheucht hatte, vorsichtig auf dem breiten Weg herauf gekommen, dann
bog ein Kopf mit suchenden glänzenden Augen um die Ecke des Ge-
büsches und überflog die einsame Fensterreihe des Schlosses. Er
stutzte sichtbar, als er eins derselben geöffnet sah, und schien zu zählen
und glaubte seiner Rechnung nicht, denn er wiederholte sie, mit dem
Finger auf jedes hindeutend, eifrig mehreremal von einer Seite zur
andern. Endlich war er von Etwas überzeugt, und die ganze Gestalt
trat, in weiter Seemannsjacke und den Glanzhut in der Hand, zögernd
hinter dem Gesträuch hervor. Es war, als ob er in irgend einem
Entschluß irre geworden. Der Morgen war kühl, doch seine Stirn
und seine Schläfe glühten; das mochte der Grund sein, weßhalb er
den Hut von dem langen blonden Haar herabgenommen. Langsam,
zaudernd kam er auf das Schloß zu. Ab und zu schien es, als stehe
er im Begriff, wieder umzukehren, doch er hielt nur momentan an
und ging weiter. Dabei waren seine Augen unausgesetzt auf das
offene Fenster geheftet und blieben es auch, wenn er, wie ihm jetzt
plötzlich der Gedanke kam, sich niederbückte und hier und dort Blumen
im Vorübergehen abbrach, von denen er den schweren Thau in flim-
mernden Perlen abschüttelte. Er ordnete die Blumen in der Hand
und umwickelte die Stengel mit einem breiten Halm englischen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] mit dem Kopf. Sie blickte dabei wie nach Befreiung im Garten
umher, und gewahrte jetzt plötzlich die Kinder am Ende des Ganges.

„Posthuma!“ rief sie. „Komm einmal her, Posthuma!“

„Wer ist der fremde Herr, Paula?“ fragte der Knabe.

„Jch weiß nicht Paul“, sagte sie. „Komm.“

Er wollte nicht; doch sie bat, und er ging mit ihr.

Der Fremde hatte ein Lorgnon auf die Nase gesetzt und betrachtete
sie aufmerksam. Als sie näher kam, grüßte er zuvorkommend mit
dem Hut und machte eine leichte Verbeugung. Paul blieb verlegen
in einiger Entfernung stehen, das Mädchen ging auf die Dame zu.

„Was wünschst Du, Mama?“ fragte sie.

„Du bist nicht sehr höflich, Posthuma“, antwortete die Baronin;
„siehst Du nicht, daß Du begrüßt wirst?“

Der Vorwurf, der in den Worten lag, wurde fast durch den Ton,
mit dem sie gesprochen, zunichte gemacht. Das Mädchen wendete sich
kurz gegen den Fremden um und knixte.

„Komm doch, Paul!“ rief sie dann, sich nach ihrem Gefährten
umblickend.

Die Baronin erstickte ein unwillkürliches Lachen, indem sie sich zu
dem Fremden hinüberneigte.

„Sie sehen, Herr von Torwisch“, sagte sie leise, daß die Kinder
Jhre Worte nicht verstanden, während der Angeredete die in ihnen
liegende unverkennbare Jronie nicht bemerkte, „daß nicht alle Mit-
glieder Jhrer edlen Familie dies, wie Sie vorhin meinten, naturgemäße
Erkennungsgefühl besitzen; denn Posthuma hat entschieden das ver-
wandte Blut in Jhnen nicht gefühlt.“

Der Fremde zuckte vornehm mit den Achseln.

„So lange die Natur die Möglichkeit verstattete, pflegten die
Torwisch sich untereinander zu verbinden“, antwortete er, „und das
mag allerdings zur Erhaltung jenes feinen Jnstinkts des Blutes
erforderlich gewesen sein —“

„Gewiß“, unterbrach ihn lächelnd die Frau, welche den Nach-
kommen dies edlen Geschlechts zuerst diesen feinen Jnstinkt geraubt
hatte. „Auf der andern Seite besitzt sie ihn dagegen im höchsten
Grade, wenn es gleich nicht von so gutem Geschmack zeugt, die Ver-
wandtschaft mütterlicher Abstammung mit dem Herzen ausfindig zu
machen —“ Die Sprecherin brach hastig ab, denn ihre Lippen be-
gannen wieder bedenklich zu zucken, und sie fügte, gewaltsam eine
ernste Miene annehmend, schnell hinzu: „Aber kennst Du denn Herrn
von Torwisch, Deinen Vetter, nicht mehr, Kind? Er hat seine Uni-
versitätsstudien vollendet und kommt nun, um hier später Amtmann
zu werden, wie Dein Vater und Großvater es war.“

„Bist Du der Vetter Alfred?“ fragte Posthuma jetzt, den Vor-
gestellten neugierig anblickend. „Du siehst ja schon ebenso alt aus,
wie die häßlichen Gesichter droben im Saal.“

Die Baronin wandte sich um und preßte krampfhaft die Hand
auf die Lippen.

„Allerliebst naiv, Frau Tante“, erwiderte Herr von Torwisch,
indem er einen mühsamen Versuch machte, zu lächeln. „Ganz wie ich
die Erziehung meiner künftigen Frau wünsche. Gieb mir die Hand,
meine Kleine.“

Das Mädchen riß mit einer schnellen Bewegung die Hand, die
er gefaßt, aus der seinen.

„Jch bin nicht klein“, sagte sie, sich hoch aufrichtend, „und ich
gebe Dir die Hand nicht, denn Dich mag ich nicht heirathen.“ Da-
bei faßte sie Pauls Hand und setzte bestimmt hinzu: „Jch heirathe,
wen ich will.“

„Vortrefflich“, näselte Herr von Torwisch, „amüsant, Frau Tante!
Jch hätte nicht geglaubt, daß es noch so naive Mädchen in dem Alter
gäbe. Kann auch nur hier unter den Wasservögeln vorkommen. Jn
der That, köstlich! Jn Paris, wo ich mich zuletzt aufhielt, sind in den
Jahren alle Mädchen schon depravées.“ Er flüsterte das letztere
Wort, dann lachte er auf. „Hätte es auch laut sagen können“, fuhr
er fort, „unter den Wasservögeln lernt man sicher kein Französisch.
Haben mich doch begriffen, Frau Tante?“

Es war schwer zu unterscheiden, ob Herr von Torwisch nochmals
über die Jdee der Wasservögel oder über die neue Muthmaßung, daß
dieselben keine französischen Lehrmeister seien, lachte. Die Baronin
schwieg. Jhr vorhin so heiteres Gesicht hatte sich merklich umwölkt,
und ihre Augen ruhten mit einem fast trüben Ausdruck auf dem blü-
henden, unbefangenen Antlitz der Tochter. Dann schien sie selbst
ihren peinlichen Gedanken ein Ende machen zu wollen, denn sie strich
mit der Hand das vom Lauf verwilderte freie Lockenhaar aus der
Stirn des Mädchens und fragte:

„Was habt Jhr denn heut gelernt, Posthuma?“

„O viel, Mama“, antwortete diese schnell; „Geographie, Englisch,
Geschichte — ich weiß jetzt auch, wer die Vikinger waren, Mama.“

„Und wer waren die Vikinger, Posthuma?“

„Unsere Vorältern“, entgegnete das Mädchen rasch, aber Herr
von Torwisch unterbrach sie.

„Wer ist der Lehrer, der Euch gesagt, daß die Ahnen derer
[Spaltenumbruch] von Torwisch sich mit Seeraub beschäftigt haben?“ fragte er inquisi-
torisch. „Jch werde ein Wort mit ihm reden!“

Posthuma sah ihn geringschätzig an.

„Torwisch?“ wiederholte sie verächtlich. „Nein, das waren keine
Vikinger. Die Vikinger sind Alle stark und muthig und schön —
aber unser Vorfahr“, fügte sie, Pauls Hand wieder ergreifend, stolz
hinzu, „und auch Deiner Mama, der alte Paul Steen, das war ein
Vikinger.“

Herr von Torwisch wandte sich mit einer Bemerkung über kind-
liche Gespräche, die man in Paris nie mehr höre und die es sicherlich
nur noch unter den Wasservögeln gäbe, an die Baronin, deren Wan-
gen einen Augenblick kaum weniger geröthet schienen, als die des be-
geisterten Mädchens selbst.

„Wer ist denn der Knabe?“ fuhr er, einen nachlässigen Blick auf
Paul werfend, in gleichgültigem Tone fort.

„Ebenfalls ein Nachkomme des von Posthuma erwähnten sagen-
haften alten Seemanns“, entgegnete die Baronin. „Ein Sohn des
Besitzers von der Steens=Hallig drüben, dessen Frau meine Base
ist und Amme bei Posthuma war, so daß die Beiden Milch-
geschwister sind.“

„So!“ sagte Herr von Torwisch gelangweilt. „Treibt der Bursche
denn nicht das Gewerbe seines Vaters?“

„Er wird es später; er hat so sehr gewünscht, auch zu lernen,
was Posthuma lernt, mit der er von Klein auf gespielt, daß er jetzt
seit einiger Zeit an ihrem Unterricht Theil nimmt“, versetzte die
Mutter. „Er hat auch wohl ein Recht darauf, da er meinem Töch-
terlein vor ungefähr einem Jahre das Leben gerettet“. Sie glitt
freundlich mit der Hand über die Wangen des unter den musternden
Blicken des Herrn von Torwisch verlegen umherschauenden Knaben.

„Recht löblich“, murmelte der Erstere. „Es mußte sich nicht auf
die Lernbegierde, sondern auf Pauls Qualität als Lebensretter be-
ziehen, da er hinzufügte: „Nehmen Sie sich nur in Acht, Frau Tante,
diesem Jungen Begriffe beizubringen, die über seinen Stand und seine
Herkunft hinausgehen.“

Er war der Einzige unter den Anwesenden, der wahrscheinlich keine
Ahnung von der darin für alle Drei gleichmäßig enthaltenen Belei-
digung hatte. Wenigstens schien er die peinliche Stille, die nach den
Worten entstand, nicht zu begreifen, und fragte nachlässig:

„Was hat denn der Bursche?“

Paul hatte ihn einen Augenblick mit blutrothem Gesicht an-
gestarrt, dann war er leise schluchzend fortgegangen und hinter dem
Gartengebüsch verschwunden, während Posthuma den Kopf an die
Brust ihrer Mutter gepreßt hielt. Es war nur eine Sekunde, dann
sah sie mit trotzigem Blick auf, in dem sie dennoch vergeblich zwei
wieder hervorquellende glänzende Thränen zurückzudrängen suchte. Sie
wandte ihn mit einem Ruck verächtlich von ihrem Vetter, dessen
gläserne Augen sie zuerst auf sie gerichtet traf, nach der Seite, wo
Paul gestanden.

„Wo bist Du, Paul?“ fragte sie hastig. Aber sie erhielt keine
Antwort. „Wo ist Paul geblieben, Mama?“ fuhr sie, ihre Thränen
mit der Hand trocknend, fort.

„Er ist fortgegangen, da hinunter, mein Kind; geh' Du zu ihm“,
antwortete die Baronin ernst. Sie küßte Posthuma zärtlich auf die
Stirn, und das Mädchen flog, ohne den Vetter noch eines Blickes zu
würdigen, den Weg hinab.

„Paul, wo bist Du? Paul — mein guter, lieber Paul!“ rief sie.



Sie rief es im Schlaf, daß es laut durchs Zimmer klang.
Unten vor dem offenen Fenster waren leise Tritte hörbar gewor-
den. Erst war der Schritt, der die Drossel aus dem Traum ge-
scheucht hatte, vorsichtig auf dem breiten Weg herauf gekommen, dann
bog ein Kopf mit suchenden glänzenden Augen um die Ecke des Ge-
büsches und überflog die einsame Fensterreihe des Schlosses. Er
stutzte sichtbar, als er eins derselben geöffnet sah, und schien zu zählen
und glaubte seiner Rechnung nicht, denn er wiederholte sie, mit dem
Finger auf jedes hindeutend, eifrig mehreremal von einer Seite zur
andern. Endlich war er von Etwas überzeugt, und die ganze Gestalt
trat, in weiter Seemannsjacke und den Glanzhut in der Hand, zögernd
hinter dem Gesträuch hervor. Es war, als ob er in irgend einem
Entschluß irre geworden. Der Morgen war kühl, doch seine Stirn
und seine Schläfe glühten; das mochte der Grund sein, weßhalb er
den Hut von dem langen blonden Haar herabgenommen. Langsam,
zaudernd kam er auf das Schloß zu. Ab und zu schien es, als stehe
er im Begriff, wieder umzukehren, doch er hielt nur momentan an
und ging weiter. Dabei waren seine Augen unausgesetzt auf das
offene Fenster geheftet und blieben es auch, wenn er, wie ihm jetzt
plötzlich der Gedanke kam, sich niederbückte und hier und dort Blumen
im Vorübergehen abbrach, von denen er den schweren Thau in flim-
mernden Perlen abschüttelte. Er ordnete die Blumen in der Hand
und umwickelte die Stengel mit einem breiten Halm englischen
[Ende Spaltensatz]

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[66/0002] 66 mit dem Kopf. Sie blickte dabei wie nach Befreiung im Garten umher, und gewahrte jetzt plötzlich die Kinder am Ende des Ganges. „Posthuma!“ rief sie. „Komm einmal her, Posthuma!“ „Wer ist der fremde Herr, Paula?“ fragte der Knabe. „Jch weiß nicht Paul“, sagte sie. „Komm.“ Er wollte nicht; doch sie bat, und er ging mit ihr. Der Fremde hatte ein Lorgnon auf die Nase gesetzt und betrachtete sie aufmerksam. Als sie näher kam, grüßte er zuvorkommend mit dem Hut und machte eine leichte Verbeugung. Paul blieb verlegen in einiger Entfernung stehen, das Mädchen ging auf die Dame zu. „Was wünschst Du, Mama?“ fragte sie. „Du bist nicht sehr höflich, Posthuma“, antwortete die Baronin; „siehst Du nicht, daß Du begrüßt wirst?“ Der Vorwurf, der in den Worten lag, wurde fast durch den Ton, mit dem sie gesprochen, zunichte gemacht. Das Mädchen wendete sich kurz gegen den Fremden um und knixte. „Komm doch, Paul!“ rief sie dann, sich nach ihrem Gefährten umblickend. Die Baronin erstickte ein unwillkürliches Lachen, indem sie sich zu dem Fremden hinüberneigte. „Sie sehen, Herr von Torwisch“, sagte sie leise, daß die Kinder Jhre Worte nicht verstanden, während der Angeredete die in ihnen liegende unverkennbare Jronie nicht bemerkte, „daß nicht alle Mit- glieder Jhrer edlen Familie dies, wie Sie vorhin meinten, naturgemäße Erkennungsgefühl besitzen; denn Posthuma hat entschieden das ver- wandte Blut in Jhnen nicht gefühlt.“ Der Fremde zuckte vornehm mit den Achseln. „So lange die Natur die Möglichkeit verstattete, pflegten die Torwisch sich untereinander zu verbinden“, antwortete er, „und das mag allerdings zur Erhaltung jenes feinen Jnstinkts des Blutes erforderlich gewesen sein —“ „Gewiß“, unterbrach ihn lächelnd die Frau, welche den Nach- kommen dies edlen Geschlechts zuerst diesen feinen Jnstinkt geraubt hatte. „Auf der andern Seite besitzt sie ihn dagegen im höchsten Grade, wenn es gleich nicht von so gutem Geschmack zeugt, die Ver- wandtschaft mütterlicher Abstammung mit dem Herzen ausfindig zu machen —“ Die Sprecherin brach hastig ab, denn ihre Lippen be- gannen wieder bedenklich zu zucken, und sie fügte, gewaltsam eine ernste Miene annehmend, schnell hinzu: „Aber kennst Du denn Herrn von Torwisch, Deinen Vetter, nicht mehr, Kind? Er hat seine Uni- versitätsstudien vollendet und kommt nun, um hier später Amtmann zu werden, wie Dein Vater und Großvater es war.“ „Bist Du der Vetter Alfred?“ fragte Posthuma jetzt, den Vor- gestellten neugierig anblickend. „Du siehst ja schon ebenso alt aus, wie die häßlichen Gesichter droben im Saal.“ Die Baronin wandte sich um und preßte krampfhaft die Hand auf die Lippen. „Allerliebst naiv, Frau Tante“, erwiderte Herr von Torwisch, indem er einen mühsamen Versuch machte, zu lächeln. „Ganz wie ich die Erziehung meiner künftigen Frau wünsche. Gieb mir die Hand, meine Kleine.“ Das Mädchen riß mit einer schnellen Bewegung die Hand, die er gefaßt, aus der seinen. „Jch bin nicht klein“, sagte sie, sich hoch aufrichtend, „und ich gebe Dir die Hand nicht, denn Dich mag ich nicht heirathen.“ Da- bei faßte sie Pauls Hand und setzte bestimmt hinzu: „Jch heirathe, wen ich will.“ „Vortrefflich“, näselte Herr von Torwisch, „amüsant, Frau Tante! Jch hätte nicht geglaubt, daß es noch so naive Mädchen in dem Alter gäbe. Kann auch nur hier unter den Wasservögeln vorkommen. Jn der That, köstlich! Jn Paris, wo ich mich zuletzt aufhielt, sind in den Jahren alle Mädchen schon depravées.“ Er flüsterte das letztere Wort, dann lachte er auf. „Hätte es auch laut sagen können“, fuhr er fort, „unter den Wasservögeln lernt man sicher kein Französisch. Haben mich doch begriffen, Frau Tante?“ Es war schwer zu unterscheiden, ob Herr von Torwisch nochmals über die Jdee der Wasservögel oder über die neue Muthmaßung, daß dieselben keine französischen Lehrmeister seien, lachte. Die Baronin schwieg. Jhr vorhin so heiteres Gesicht hatte sich merklich umwölkt, und ihre Augen ruhten mit einem fast trüben Ausdruck auf dem blü- henden, unbefangenen Antlitz der Tochter. Dann schien sie selbst ihren peinlichen Gedanken ein Ende machen zu wollen, denn sie strich mit der Hand das vom Lauf verwilderte freie Lockenhaar aus der Stirn des Mädchens und fragte: „Was habt Jhr denn heut gelernt, Posthuma?“ „O viel, Mama“, antwortete diese schnell; „Geographie, Englisch, Geschichte — ich weiß jetzt auch, wer die Vikinger waren, Mama.“ „Und wer waren die Vikinger, Posthuma?“ „Unsere Vorältern“, entgegnete das Mädchen rasch, aber Herr von Torwisch unterbrach sie. „Wer ist der Lehrer, der Euch gesagt, daß die Ahnen derer von Torwisch sich mit Seeraub beschäftigt haben?“ fragte er inquisi- torisch. „Jch werde ein Wort mit ihm reden!“ Posthuma sah ihn geringschätzig an. „Torwisch?“ wiederholte sie verächtlich. „Nein, das waren keine Vikinger. Die Vikinger sind Alle stark und muthig und schön — aber unser Vorfahr“, fügte sie, Pauls Hand wieder ergreifend, stolz hinzu, „und auch Deiner Mama, der alte Paul Steen, das war ein Vikinger.“ Herr von Torwisch wandte sich mit einer Bemerkung über kind- liche Gespräche, die man in Paris nie mehr höre und die es sicherlich nur noch unter den Wasservögeln gäbe, an die Baronin, deren Wan- gen einen Augenblick kaum weniger geröthet schienen, als die des be- geisterten Mädchens selbst. „Wer ist denn der Knabe?“ fuhr er, einen nachlässigen Blick auf Paul werfend, in gleichgültigem Tone fort. „Ebenfalls ein Nachkomme des von Posthuma erwähnten sagen- haften alten Seemanns“, entgegnete die Baronin. „Ein Sohn des Besitzers von der Steens=Hallig drüben, dessen Frau meine Base ist und Amme bei Posthuma war, so daß die Beiden Milch- geschwister sind.“ „So!“ sagte Herr von Torwisch gelangweilt. „Treibt der Bursche denn nicht das Gewerbe seines Vaters?“ „Er wird es später; er hat so sehr gewünscht, auch zu lernen, was Posthuma lernt, mit der er von Klein auf gespielt, daß er jetzt seit einiger Zeit an ihrem Unterricht Theil nimmt“, versetzte die Mutter. „Er hat auch wohl ein Recht darauf, da er meinem Töch- terlein vor ungefähr einem Jahre das Leben gerettet“. Sie glitt freundlich mit der Hand über die Wangen des unter den musternden Blicken des Herrn von Torwisch verlegen umherschauenden Knaben. „Recht löblich“, murmelte der Erstere. „Es mußte sich nicht auf die Lernbegierde, sondern auf Pauls Qualität als Lebensretter be- ziehen, da er hinzufügte: „Nehmen Sie sich nur in Acht, Frau Tante, diesem Jungen Begriffe beizubringen, die über seinen Stand und seine Herkunft hinausgehen.“ Er war der Einzige unter den Anwesenden, der wahrscheinlich keine Ahnung von der darin für alle Drei gleichmäßig enthaltenen Belei- digung hatte. Wenigstens schien er die peinliche Stille, die nach den Worten entstand, nicht zu begreifen, und fragte nachlässig: „Was hat denn der Bursche?“ Paul hatte ihn einen Augenblick mit blutrothem Gesicht an- gestarrt, dann war er leise schluchzend fortgegangen und hinter dem Gartengebüsch verschwunden, während Posthuma den Kopf an die Brust ihrer Mutter gepreßt hielt. Es war nur eine Sekunde, dann sah sie mit trotzigem Blick auf, in dem sie dennoch vergeblich zwei wieder hervorquellende glänzende Thränen zurückzudrängen suchte. Sie wandte ihn mit einem Ruck verächtlich von ihrem Vetter, dessen gläserne Augen sie zuerst auf sie gerichtet traf, nach der Seite, wo Paul gestanden. „Wo bist Du, Paul?“ fragte sie hastig. Aber sie erhielt keine Antwort. „Wo ist Paul geblieben, Mama?“ fuhr sie, ihre Thränen mit der Hand trocknend, fort. „Er ist fortgegangen, da hinunter, mein Kind; geh' Du zu ihm“, antwortete die Baronin ernst. Sie küßte Posthuma zärtlich auf die Stirn, und das Mädchen flog, ohne den Vetter noch eines Blickes zu würdigen, den Weg hinab. „Paul, wo bist Du? Paul — mein guter, lieber Paul!“ rief sie. Sie rief es im Schlaf, daß es laut durchs Zimmer klang. Unten vor dem offenen Fenster waren leise Tritte hörbar gewor- den. Erst war der Schritt, der die Drossel aus dem Traum ge- scheucht hatte, vorsichtig auf dem breiten Weg herauf gekommen, dann bog ein Kopf mit suchenden glänzenden Augen um die Ecke des Ge- büsches und überflog die einsame Fensterreihe des Schlosses. Er stutzte sichtbar, als er eins derselben geöffnet sah, und schien zu zählen und glaubte seiner Rechnung nicht, denn er wiederholte sie, mit dem Finger auf jedes hindeutend, eifrig mehreremal von einer Seite zur andern. Endlich war er von Etwas überzeugt, und die ganze Gestalt trat, in weiter Seemannsjacke und den Glanzhut in der Hand, zögernd hinter dem Gesträuch hervor. Es war, als ob er in irgend einem Entschluß irre geworden. Der Morgen war kühl, doch seine Stirn und seine Schläfe glühten; das mochte der Grund sein, weßhalb er den Hut von dem langen blonden Haar herabgenommen. Langsam, zaudernd kam er auf das Schloß zu. Ab und zu schien es, als stehe er im Begriff, wieder umzukehren, doch er hielt nur momentan an und ging weiter. Dabei waren seine Augen unausgesetzt auf das offene Fenster geheftet und blieben es auch, wenn er, wie ihm jetzt plötzlich der Gedanke kam, sich niederbückte und hier und dort Blumen im Vorübergehen abbrach, von denen er den schweren Thau in flim- mernden Perlen abschüttelte. Er ordnete die Blumen in der Hand und umwickelte die Stengel mit einem breiten Halm englischen

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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 9. Berlin, 1. März 1868, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt09_1868/2>, abgerufen am 04.06.2024.