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Sonntags-Blatt. Nr. 6. Berlin, 9. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] mit affektirter, etwas näselnder Stimme; "ich begreife nicht, wie Sie
diese unangenehme Sonne so zulassen! Jch würde die Fenster schließen
und die Vorhänge herablassen!"

"Jeder nach seiner Neigung", entgegnete die Angeredete lächelnd.
"Sie sind in Jhrem Bureau an schwere Atmosphäre und Dunkelheit
gewöhnt, Herr von Torwisch; ich liebe die freie Luft und die Sonne
und den blauen Himmel."

"Aber diese Helligkeit, die Einem in den Augen weh thut, ist doch
äußerst plebejisch, verehrte Frau Mutter", versetzte der junge Mann
nachlässig. Er wollte noch Etwas hinzufügen, allein die Dame unter-
brach ihn, indem sie von ihrem Arbeitstischchen aufstand und ruhig
erwiderte:

"Sie sind hier auch nicht bei einer Aristokratin, Herr von Tor-
wisch. Sie sind bei der Tochter Paul Steens, des Halligbewohners;
und wenn man auf den Jnseln lebt, lernt man die Sonne lieben."

Ein stiller, schwärmerischer Ausdruck lag in den noch so schönen,
blauen Augen, die sie bei den Worten aus dem Fenster gerichtet, so daß
die Abendsonne gerade glänzend in sie hinein zitterte. Der junge
Mann biß sich auf die blutlose Lippe, dann trat er an ein anderes
Fenster und sagte gleichgültig:

"Warum nennen Sie mich nicht Alfred, wie wir es ab-
gemacht?"

Sie antwortete nicht; er wartete einige Sekunden, in denen er sie
von der Seite betrachtete.

"Wo ist denn Posthuma?" fragte er wieder.

Die Dame hob ihre feine weiße Hand und deutete durch das
offene Fenster, vor dem sie stand.

"Drüben", erwiderte sie kurz.

"Schon wieder?" Herr von Torwisch vergaß sich so weit, un-
willig mit dem Fuß zu stampfen, doch die Dame nahm auch
davon keine Notiz. Er mußte sich abermals zur Aenderung seines
Systems entschließen. "Wann kommt sie zurück?" fragte er.

Die Baronin deutete wiederum durchs Fenster.

Es sah aus, als ob ein leichter Hauch über die graue Sandfläche,
die sich drunten bis an den Horizont vor ihnen ausbreitete, hinflöge;
dann folgte ein zweiter, und es war wie hastige, langgestreckte Schat-
ten, die sich jagten. Ab und zu reckte es sich bald hier, bald dort,
weiß wie ein neckisches Koboldgesicht, herauf und verschwand wieder,
und ein fernes murrendes Geräusch, das sich allmälig verstärkte, kam
über den Deich bis ans offene Fenster empor.

Jn der Ecke des Saals über dem Kamin schlug langsam eine
alterthümliche Wanduhr. Der junge Mann blickte sich gedankenlos
nach ihr um und zog vergleichend seinen zierlichen Gold=Chronometer
hervor.

"Jn der That schon sechs Uhr", murmelte er. Er machte wieder
eine halbe Wendung zu der Dame hinüber und setzte lauter hinzu:
"Die Flut hat doch Etwas von einem guten Kanzleidiener. Sie
kommt stets präzis und verspätet sich um keine Minute."

Ein selbstgefälliges Lächeln begleitete diesen Vergleich, der trotzdem
wie das vorher Gesprochene für die Baronin verloren zu gehen schien.
Der ärgerliche Ausdruck kehrte um die Mundwinkel des vergeblich
bemühten Redners zurück.

"Kommt Posthuma denn jetzt?" fragte er heftig.

"Sie wissen, daß sie vor der Flut nicht kommen kann", versetzte
die Baronin ruhig; "aber mit dem Eintritt derselben pflegt sie von
der Jnsel abzufahren, da der Rückweg für ihre Begleiter mühsam ist
und mehr Zeit erfordert." Sie hielt einen Augenblick inne, dann
fuhr sie in demselben Tone fort: "Da kommt sie, sie stoßen jetzt von
der Hallig ab."

Herr von Torwisch beugte sich aus dem Fenster.

"Jch sehe nichts von einer Jnsel, geschweige denn von einem
Boot", erwiderte er.

Ein Lächeln glit jetzt über die Lippen der Baronin.

"Sie werden doch für so scharfsichtig gehalten, Alfred", sagte sie
mit einem leisen spöttischen Anflug ihrer weichen Stimme, "wenigstens
habe ich oft gehört, daß Jhren Augen nichts entgehe, was sie zu
erspähen beabsichtigen."

Der Angeredete richtete sich selbstgefällig auf; man sah, daß die
Worte ihm geschmeichelt hatten, obwohl sie schwerlich in dieser Ab-
sicht gesprochen waren.

"Jch glaube, daß man darin nicht Unrecht hat, Frau Mutter",
entgegnete er, "nur muß man die nach Jnnen gerichtete Gesichts-
schärfe verstehen, nicht die gemeine, körperliche Fähigkeit, welche meistens
den Mangel der ersteren und der feineren geistigen Organisation verräth."

Man hörte es dem belehrenden Ton, in dem er [unleserliches Material - 6 Zeichen fehlen]sprach, an, daß
er selbst nichts von dem beleidigenden Jnhalt der Worte verstand und
daß sie keine Beleidigung bezweckten. Das flüchtige Lächeln um die
Lippen der Baronin hatte einem traurigen, fast bangen Ausdruck Platz
gemacht, mit dem sie einen Augenblick die feine Hand unwillkürlich an
die Brust gedrückt hielt, als wolle sie eine trübe Regung in derselben
verstummen machen. Dann entgegnete sie gleichmüthig:

[Spaltenumbruch]

"Jch denke, wir gehen hinunter und empfangen Posthuma am
Landungssteg."

Herr von Torwisch machte eine zustimmende Verbeugung und
folgte ihr. Sie hatte einen leichten einfachen Strohhut mit breitem
Rande aufgesetzt und ging gewandt und schnell, wie ein Mädchen, die
Treppe hinunter in den Park. Dort setzten sie neben einander durch
die breiten, schön gehaltenen Gänge den Weg bis an den Deich fort.
Sie sprachen wenig; die Aufmerksamkeit der Baronin war bald hier,
bald dort an den Seiten beschäftigt. Sie richtete niedergedrückte
Blumen an den Beetwänden auf; manchmal blieb sie stehen und brach
zwischen den mit dicken Knospen überdeckten Spalierbäumchen ein ver-
dorrtes Zweiglein fort, während ihr Auge musternd und vergnügt auf
dem duftenden Blüthenmeer ruhte. Desto mißvergnügter stand ihr
Begleiter daneben und wartete. Er trug ein dünnes Stöckchen in
der Hand, mit dem er ungeduldig nach einzelnen hervorragenden
Blättern, die sich bereits voll entwickelt hatten, zielte und sie zerschlug.
Er führte jetzt gerade einen pfeifenden Hieb nach einem breiten, über
den Weg hängenden Zierpflanzenblatt; doch er schlug zu kurz und traf
eine unter demselben befindliche schöne rothe Frühjahrsrose, die eben
aufzublühen begonnen. Die Baronin hatte sich bei dem Geräusch des
durch die Luft pfeifenden Stöckchens umgewandt und warnend gesagt:

"Sie werden mir noch Unheil mit Jhrer üblen Spielerei an-
richten, Alfred." Doch sie unterbrach sich mit einem schmerzlichen
Ausruf und hob die dicht unter dem Kelch abgeknickte Rose vom Boden.
"Mein armer Liebling", sagte sie mit stockender, fast schluchzender
Stimme, "hab' ich Dich darum Tag für Tag sorgsam gepflegt, daß
Du in Deiner ersten Blüthe von solchen Händen zerstückelt werden
solltest?"

Herr von Torwisch wollte sich nachlässig entschuldigen und sprach
von absichtsloser Ungeschicklichkeit und anderen Rosen; aber sie hörte
nicht auf ihn, sondern befestigte die Blume an ihrer Brust und ging
schweigend vorauf. Es schien anfänglich, als hätte sie ihm antworten
wollen, denn ein bitterer Zug flog um ihren halb geöffneten Mund.
Doch sie schloß ihn wieder, und wie sie schnell vorwärts ging, ver-
schwand jener, und ein düsterer, kummervoller Ausdruck lagerte sich
über das sonst so freundliche edle Gesicht. Der konnte der gebrochenen
Blume nicht gelten; es lag ein Zukunftsbangen darin, und es war,
als blickten die trüben Augen weit hinüber auf andere blühende Rosen,
denen sie den Zerstörer nahen sah.

Konnten sie ihn nicht mehr abwenden? --

Die Baronin griff krampfhaft nach der rothen Blume an ihrer
Brust und preßte sie ungestüm zärtlich an die Lippen. Ein aufmerk-
samer Beobachter hätte in dieser geringfügigen Bewegung an dem
stillen, schmächtigen Weibe eine gewaltige unvermuthete Energie ent-
deckt. Sie kam hier und da, wie die Flut kommt. Da stieg das
Erbtheil ihrer Väter aus dem Herzen herauf, stark, muthvoll und
entschlossen; doch dann war seine Kraft erschöpft, und es bebte zurück,
und heiße Thränen fielen angstvoll zitternd in den Rosenkelch hinab.

Hinter ihr tönten Schritte; es war Herr von Torwisch, der ihr
folgte, und sie eilte hastig die grüne Rasenböschung des Deiches hin-
auf. Auf der Höhe hielt sie unwillkürlich an. Drunten war es still
und warm, trotzdem der an den Deich grenzende Theil des Parks
schon im Schatten desselben lag; aber droben versetzte ihr der Wind,
den die Flut auf ihrem Rücken mitzutragen schien, den Athem. Zu-
gleich traf die roth verglühende Sonne, die sich bereits in den Meeres-
dunst hinab zu senken begann, blendend ihre Augen. So stand sie
still, und Herr von Torwisch erreichte sie.

"Ein abscheulicher Wind hier oben! Sie werden sich erkälten, Frau
Mutter", sagte er mit affektirter Sorglichkeit, als ob er nichts von
dem Vorhergegangenen bemerkt. "Diese entsetzliche Beleuchtung kommt
noch hinzu. Sehen Sie Etwas?"

Die Frau streckte schweigend die Hand in die Richtung der
Sonnenkugel. Torwisch zog mit der Linken ein Lorgnon aus der
Tasche, das er auf seine Nase befestigte, während seine Rechte den
schwarzen Cylinderhut auf dem Kopf hielt. Dann folgte er der Rich-
tung des deutenden Armes.

"Jch sehe nichts", sagte er umhersuchend. "Teufel, es bläs't
tüchtig! Gefahr ist wohl nicht dabei?"

Es klang für das Ohr der Baronin unendlich deutlich hindurch,
daß, wenn Gefahr dabei wäre, er sich freue, nicht mit in dem Boot
befindlich zu sein. Ein blitzartiger unsäglich verächtlicher Ausdruck flog
über ihr Gesicht. Seitdem das Meer ihr vor den Füßen aufbrandete
und ab und zu seinen feinen Gischt wie die Wasserfäden eines Nixen-
schleiers bis über ihre Stirn wegsprühte, war eine seltsame Ver-
änderung mit ihr vorgegaugen. Sie stand mit geöffnetem Munde;
es war, als ob ihre Lippen gierig Wind und Wellenschaum ein-
saugten, als sei es ein kostbares, wundersames Elixir. Und wie sie
es hastig athmend trank, ward sie zusehends jünger und jünger. Hoch
aufgerichtet stand sie, als ob sie unsichtbaren Geistern Befehle gäbe;
die Runzeln schwanden aus ihrer Stirn, und die Augenbrauen zuckten
nicht, sondern boten fest und herrisch dem Sturme Trotz. Er hatte
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] mit affektirter, etwas näselnder Stimme; „ich begreife nicht, wie Sie
diese unangenehme Sonne so zulassen! Jch würde die Fenster schließen
und die Vorhänge herablassen!“

„Jeder nach seiner Neigung“, entgegnete die Angeredete lächelnd.
„Sie sind in Jhrem Bureau an schwere Atmosphäre und Dunkelheit
gewöhnt, Herr von Torwisch; ich liebe die freie Luft und die Sonne
und den blauen Himmel.“

„Aber diese Helligkeit, die Einem in den Augen weh thut, ist doch
äußerst plebejisch, verehrte Frau Mutter“, versetzte der junge Mann
nachlässig. Er wollte noch Etwas hinzufügen, allein die Dame unter-
brach ihn, indem sie von ihrem Arbeitstischchen aufstand und ruhig
erwiderte:

„Sie sind hier auch nicht bei einer Aristokratin, Herr von Tor-
wisch. Sie sind bei der Tochter Paul Steens, des Halligbewohners;
und wenn man auf den Jnseln lebt, lernt man die Sonne lieben.“

Ein stiller, schwärmerischer Ausdruck lag in den noch so schönen,
blauen Augen, die sie bei den Worten aus dem Fenster gerichtet, so daß
die Abendsonne gerade glänzend in sie hinein zitterte. Der junge
Mann biß sich auf die blutlose Lippe, dann trat er an ein anderes
Fenster und sagte gleichgültig:

„Warum nennen Sie mich nicht Alfred, wie wir es ab-
gemacht?“

Sie antwortete nicht; er wartete einige Sekunden, in denen er sie
von der Seite betrachtete.

„Wo ist denn Posthuma?“ fragte er wieder.

Die Dame hob ihre feine weiße Hand und deutete durch das
offene Fenster, vor dem sie stand.

„Drüben“, erwiderte sie kurz.

„Schon wieder?“ Herr von Torwisch vergaß sich so weit, un-
willig mit dem Fuß zu stampfen, doch die Dame nahm auch
davon keine Notiz. Er mußte sich abermals zur Aenderung seines
Systems entschließen. „Wann kommt sie zurück?“ fragte er.

Die Baronin deutete wiederum durchs Fenster.

Es sah aus, als ob ein leichter Hauch über die graue Sandfläche,
die sich drunten bis an den Horizont vor ihnen ausbreitete, hinflöge;
dann folgte ein zweiter, und es war wie hastige, langgestreckte Schat-
ten, die sich jagten. Ab und zu reckte es sich bald hier, bald dort,
weiß wie ein neckisches Koboldgesicht, herauf und verschwand wieder,
und ein fernes murrendes Geräusch, das sich allmälig verstärkte, kam
über den Deich bis ans offene Fenster empor.

Jn der Ecke des Saals über dem Kamin schlug langsam eine
alterthümliche Wanduhr. Der junge Mann blickte sich gedankenlos
nach ihr um und zog vergleichend seinen zierlichen Gold=Chronometer
hervor.

„Jn der That schon sechs Uhr“, murmelte er. Er machte wieder
eine halbe Wendung zu der Dame hinüber und setzte lauter hinzu:
„Die Flut hat doch Etwas von einem guten Kanzleidiener. Sie
kommt stets präzis und verspätet sich um keine Minute.“

Ein selbstgefälliges Lächeln begleitete diesen Vergleich, der trotzdem
wie das vorher Gesprochene für die Baronin verloren zu gehen schien.
Der ärgerliche Ausdruck kehrte um die Mundwinkel des vergeblich
bemühten Redners zurück.

„Kommt Posthuma denn jetzt?“ fragte er heftig.

„Sie wissen, daß sie vor der Flut nicht kommen kann“, versetzte
die Baronin ruhig; „aber mit dem Eintritt derselben pflegt sie von
der Jnsel abzufahren, da der Rückweg für ihre Begleiter mühsam ist
und mehr Zeit erfordert.“ Sie hielt einen Augenblick inne, dann
fuhr sie in demselben Tone fort: „Da kommt sie, sie stoßen jetzt von
der Hallig ab.“

Herr von Torwisch beugte sich aus dem Fenster.

„Jch sehe nichts von einer Jnsel, geschweige denn von einem
Boot“, erwiderte er.

Ein Lächeln glit jetzt über die Lippen der Baronin.

„Sie werden doch für so scharfsichtig gehalten, Alfred“, sagte sie
mit einem leisen spöttischen Anflug ihrer weichen Stimme, „wenigstens
habe ich oft gehört, daß Jhren Augen nichts entgehe, was sie zu
erspähen beabsichtigen.“

Der Angeredete richtete sich selbstgefällig auf; man sah, daß die
Worte ihm geschmeichelt hatten, obwohl sie schwerlich in dieser Ab-
sicht gesprochen waren.

„Jch glaube, daß man darin nicht Unrecht hat, Frau Mutter“,
entgegnete er, „nur muß man die nach Jnnen gerichtete Gesichts-
schärfe verstehen, nicht die gemeine, körperliche Fähigkeit, welche meistens
den Mangel der ersteren und der feineren geistigen Organisation verräth.“

Man hörte es dem belehrenden Ton, in dem er [unleserliches Material – 6 Zeichen fehlen]sprach, an, daß
er selbst nichts von dem beleidigenden Jnhalt der Worte verstand und
daß sie keine Beleidigung bezweckten. Das flüchtige Lächeln um die
Lippen der Baronin hatte einem traurigen, fast bangen Ausdruck Platz
gemacht, mit dem sie einen Augenblick die feine Hand unwillkürlich an
die Brust gedrückt hielt, als wolle sie eine trübe Regung in derselben
verstummen machen. Dann entgegnete sie gleichmüthig:

[Spaltenumbruch]

„Jch denke, wir gehen hinunter und empfangen Posthuma am
Landungssteg.“

Herr von Torwisch machte eine zustimmende Verbeugung und
folgte ihr. Sie hatte einen leichten einfachen Strohhut mit breitem
Rande aufgesetzt und ging gewandt und schnell, wie ein Mädchen, die
Treppe hinunter in den Park. Dort setzten sie neben einander durch
die breiten, schön gehaltenen Gänge den Weg bis an den Deich fort.
Sie sprachen wenig; die Aufmerksamkeit der Baronin war bald hier,
bald dort an den Seiten beschäftigt. Sie richtete niedergedrückte
Blumen an den Beetwänden auf; manchmal blieb sie stehen und brach
zwischen den mit dicken Knospen überdeckten Spalierbäumchen ein ver-
dorrtes Zweiglein fort, während ihr Auge musternd und vergnügt auf
dem duftenden Blüthenmeer ruhte. Desto mißvergnügter stand ihr
Begleiter daneben und wartete. Er trug ein dünnes Stöckchen in
der Hand, mit dem er ungeduldig nach einzelnen hervorragenden
Blättern, die sich bereits voll entwickelt hatten, zielte und sie zerschlug.
Er führte jetzt gerade einen pfeifenden Hieb nach einem breiten, über
den Weg hängenden Zierpflanzenblatt; doch er schlug zu kurz und traf
eine unter demselben befindliche schöne rothe Frühjahrsrose, die eben
aufzublühen begonnen. Die Baronin hatte sich bei dem Geräusch des
durch die Luft pfeifenden Stöckchens umgewandt und warnend gesagt:

„Sie werden mir noch Unheil mit Jhrer üblen Spielerei an-
richten, Alfred.“ Doch sie unterbrach sich mit einem schmerzlichen
Ausruf und hob die dicht unter dem Kelch abgeknickte Rose vom Boden.
„Mein armer Liebling“, sagte sie mit stockender, fast schluchzender
Stimme, „hab' ich Dich darum Tag für Tag sorgsam gepflegt, daß
Du in Deiner ersten Blüthe von solchen Händen zerstückelt werden
solltest?“

Herr von Torwisch wollte sich nachlässig entschuldigen und sprach
von absichtsloser Ungeschicklichkeit und anderen Rosen; aber sie hörte
nicht auf ihn, sondern befestigte die Blume an ihrer Brust und ging
schweigend vorauf. Es schien anfänglich, als hätte sie ihm antworten
wollen, denn ein bitterer Zug flog um ihren halb geöffneten Mund.
Doch sie schloß ihn wieder, und wie sie schnell vorwärts ging, ver-
schwand jener, und ein düsterer, kummervoller Ausdruck lagerte sich
über das sonst so freundliche edle Gesicht. Der konnte der gebrochenen
Blume nicht gelten; es lag ein Zukunftsbangen darin, und es war,
als blickten die trüben Augen weit hinüber auf andere blühende Rosen,
denen sie den Zerstörer nahen sah.

Konnten sie ihn nicht mehr abwenden? —

Die Baronin griff krampfhaft nach der rothen Blume an ihrer
Brust und preßte sie ungestüm zärtlich an die Lippen. Ein aufmerk-
samer Beobachter hätte in dieser geringfügigen Bewegung an dem
stillen, schmächtigen Weibe eine gewaltige unvermuthete Energie ent-
deckt. Sie kam hier und da, wie die Flut kommt. Da stieg das
Erbtheil ihrer Väter aus dem Herzen herauf, stark, muthvoll und
entschlossen; doch dann war seine Kraft erschöpft, und es bebte zurück,
und heiße Thränen fielen angstvoll zitternd in den Rosenkelch hinab.

Hinter ihr tönten Schritte; es war Herr von Torwisch, der ihr
folgte, und sie eilte hastig die grüne Rasenböschung des Deiches hin-
auf. Auf der Höhe hielt sie unwillkürlich an. Drunten war es still
und warm, trotzdem der an den Deich grenzende Theil des Parks
schon im Schatten desselben lag; aber droben versetzte ihr der Wind,
den die Flut auf ihrem Rücken mitzutragen schien, den Athem. Zu-
gleich traf die roth verglühende Sonne, die sich bereits in den Meeres-
dunst hinab zu senken begann, blendend ihre Augen. So stand sie
still, und Herr von Torwisch erreichte sie.

„Ein abscheulicher Wind hier oben! Sie werden sich erkälten, Frau
Mutter“, sagte er mit affektirter Sorglichkeit, als ob er nichts von
dem Vorhergegangenen bemerkt. „Diese entsetzliche Beleuchtung kommt
noch hinzu. Sehen Sie Etwas?“

Die Frau streckte schweigend die Hand in die Richtung der
Sonnenkugel. Torwisch zog mit der Linken ein Lorgnon aus der
Tasche, das er auf seine Nase befestigte, während seine Rechte den
schwarzen Cylinderhut auf dem Kopf hielt. Dann folgte er der Rich-
tung des deutenden Armes.

„Jch sehe nichts“, sagte er umhersuchend. „Teufel, es bläs't
tüchtig! Gefahr ist wohl nicht dabei?“

Es klang für das Ohr der Baronin unendlich deutlich hindurch,
daß, wenn Gefahr dabei wäre, er sich freue, nicht mit in dem Boot
befindlich zu sein. Ein blitzartiger unsäglich verächtlicher Ausdruck flog
über ihr Gesicht. Seitdem das Meer ihr vor den Füßen aufbrandete
und ab und zu seinen feinen Gischt wie die Wasserfäden eines Nixen-
schleiers bis über ihre Stirn wegsprühte, war eine seltsame Ver-
änderung mit ihr vorgegaugen. Sie stand mit geöffnetem Munde;
es war, als ob ihre Lippen gierig Wind und Wellenschaum ein-
saugten, als sei es ein kostbares, wundersames Elixir. Und wie sie
es hastig athmend trank, ward sie zusehends jünger und jünger. Hoch
aufgerichtet stand sie, als ob sie unsichtbaren Geistern Befehle gäbe;
die Runzeln schwanden aus ihrer Stirn, und die Augenbrauen zuckten
nicht, sondern boten fest und herrisch dem Sturme Trotz. Er hatte
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[42/0002] 42 mit affektirter, etwas näselnder Stimme; „ich begreife nicht, wie Sie diese unangenehme Sonne so zulassen! Jch würde die Fenster schließen und die Vorhänge herablassen!“ „Jeder nach seiner Neigung“, entgegnete die Angeredete lächelnd. „Sie sind in Jhrem Bureau an schwere Atmosphäre und Dunkelheit gewöhnt, Herr von Torwisch; ich liebe die freie Luft und die Sonne und den blauen Himmel.“ „Aber diese Helligkeit, die Einem in den Augen weh thut, ist doch äußerst plebejisch, verehrte Frau Mutter“, versetzte der junge Mann nachlässig. Er wollte noch Etwas hinzufügen, allein die Dame unter- brach ihn, indem sie von ihrem Arbeitstischchen aufstand und ruhig erwiderte: „Sie sind hier auch nicht bei einer Aristokratin, Herr von Tor- wisch. Sie sind bei der Tochter Paul Steens, des Halligbewohners; und wenn man auf den Jnseln lebt, lernt man die Sonne lieben.“ Ein stiller, schwärmerischer Ausdruck lag in den noch so schönen, blauen Augen, die sie bei den Worten aus dem Fenster gerichtet, so daß die Abendsonne gerade glänzend in sie hinein zitterte. Der junge Mann biß sich auf die blutlose Lippe, dann trat er an ein anderes Fenster und sagte gleichgültig: „Warum nennen Sie mich nicht Alfred, wie wir es ab- gemacht?“ Sie antwortete nicht; er wartete einige Sekunden, in denen er sie von der Seite betrachtete. „Wo ist denn Posthuma?“ fragte er wieder. Die Dame hob ihre feine weiße Hand und deutete durch das offene Fenster, vor dem sie stand. „Drüben“, erwiderte sie kurz. „Schon wieder?“ Herr von Torwisch vergaß sich so weit, un- willig mit dem Fuß zu stampfen, doch die Dame nahm auch davon keine Notiz. Er mußte sich abermals zur Aenderung seines Systems entschließen. „Wann kommt sie zurück?“ fragte er. Die Baronin deutete wiederum durchs Fenster. Es sah aus, als ob ein leichter Hauch über die graue Sandfläche, die sich drunten bis an den Horizont vor ihnen ausbreitete, hinflöge; dann folgte ein zweiter, und es war wie hastige, langgestreckte Schat- ten, die sich jagten. Ab und zu reckte es sich bald hier, bald dort, weiß wie ein neckisches Koboldgesicht, herauf und verschwand wieder, und ein fernes murrendes Geräusch, das sich allmälig verstärkte, kam über den Deich bis ans offene Fenster empor. Jn der Ecke des Saals über dem Kamin schlug langsam eine alterthümliche Wanduhr. Der junge Mann blickte sich gedankenlos nach ihr um und zog vergleichend seinen zierlichen Gold=Chronometer hervor. „Jn der That schon sechs Uhr“, murmelte er. Er machte wieder eine halbe Wendung zu der Dame hinüber und setzte lauter hinzu: „Die Flut hat doch Etwas von einem guten Kanzleidiener. Sie kommt stets präzis und verspätet sich um keine Minute.“ Ein selbstgefälliges Lächeln begleitete diesen Vergleich, der trotzdem wie das vorher Gesprochene für die Baronin verloren zu gehen schien. Der ärgerliche Ausdruck kehrte um die Mundwinkel des vergeblich bemühten Redners zurück. „Kommt Posthuma denn jetzt?“ fragte er heftig. „Sie wissen, daß sie vor der Flut nicht kommen kann“, versetzte die Baronin ruhig; „aber mit dem Eintritt derselben pflegt sie von der Jnsel abzufahren, da der Rückweg für ihre Begleiter mühsam ist und mehr Zeit erfordert.“ Sie hielt einen Augenblick inne, dann fuhr sie in demselben Tone fort: „Da kommt sie, sie stoßen jetzt von der Hallig ab.“ Herr von Torwisch beugte sich aus dem Fenster. „Jch sehe nichts von einer Jnsel, geschweige denn von einem Boot“, erwiderte er. Ein Lächeln glit jetzt über die Lippen der Baronin. „Sie werden doch für so scharfsichtig gehalten, Alfred“, sagte sie mit einem leisen spöttischen Anflug ihrer weichen Stimme, „wenigstens habe ich oft gehört, daß Jhren Augen nichts entgehe, was sie zu erspähen beabsichtigen.“ Der Angeredete richtete sich selbstgefällig auf; man sah, daß die Worte ihm geschmeichelt hatten, obwohl sie schwerlich in dieser Ab- sicht gesprochen waren. „Jch glaube, daß man darin nicht Unrecht hat, Frau Mutter“, entgegnete er, „nur muß man die nach Jnnen gerichtete Gesichts- schärfe verstehen, nicht die gemeine, körperliche Fähigkeit, welche meistens den Mangel der ersteren und der feineren geistigen Organisation verräth.“ Man hörte es dem belehrenden Ton, in dem er ______sprach, an, daß er selbst nichts von dem beleidigenden Jnhalt der Worte verstand und daß sie keine Beleidigung bezweckten. Das flüchtige Lächeln um die Lippen der Baronin hatte einem traurigen, fast bangen Ausdruck Platz gemacht, mit dem sie einen Augenblick die feine Hand unwillkürlich an die Brust gedrückt hielt, als wolle sie eine trübe Regung in derselben verstummen machen. Dann entgegnete sie gleichmüthig: „Jch denke, wir gehen hinunter und empfangen Posthuma am Landungssteg.“ Herr von Torwisch machte eine zustimmende Verbeugung und folgte ihr. Sie hatte einen leichten einfachen Strohhut mit breitem Rande aufgesetzt und ging gewandt und schnell, wie ein Mädchen, die Treppe hinunter in den Park. Dort setzten sie neben einander durch die breiten, schön gehaltenen Gänge den Weg bis an den Deich fort. Sie sprachen wenig; die Aufmerksamkeit der Baronin war bald hier, bald dort an den Seiten beschäftigt. Sie richtete niedergedrückte Blumen an den Beetwänden auf; manchmal blieb sie stehen und brach zwischen den mit dicken Knospen überdeckten Spalierbäumchen ein ver- dorrtes Zweiglein fort, während ihr Auge musternd und vergnügt auf dem duftenden Blüthenmeer ruhte. Desto mißvergnügter stand ihr Begleiter daneben und wartete. Er trug ein dünnes Stöckchen in der Hand, mit dem er ungeduldig nach einzelnen hervorragenden Blättern, die sich bereits voll entwickelt hatten, zielte und sie zerschlug. Er führte jetzt gerade einen pfeifenden Hieb nach einem breiten, über den Weg hängenden Zierpflanzenblatt; doch er schlug zu kurz und traf eine unter demselben befindliche schöne rothe Frühjahrsrose, die eben aufzublühen begonnen. Die Baronin hatte sich bei dem Geräusch des durch die Luft pfeifenden Stöckchens umgewandt und warnend gesagt: „Sie werden mir noch Unheil mit Jhrer üblen Spielerei an- richten, Alfred.“ Doch sie unterbrach sich mit einem schmerzlichen Ausruf und hob die dicht unter dem Kelch abgeknickte Rose vom Boden. „Mein armer Liebling“, sagte sie mit stockender, fast schluchzender Stimme, „hab' ich Dich darum Tag für Tag sorgsam gepflegt, daß Du in Deiner ersten Blüthe von solchen Händen zerstückelt werden solltest?“ Herr von Torwisch wollte sich nachlässig entschuldigen und sprach von absichtsloser Ungeschicklichkeit und anderen Rosen; aber sie hörte nicht auf ihn, sondern befestigte die Blume an ihrer Brust und ging schweigend vorauf. Es schien anfänglich, als hätte sie ihm antworten wollen, denn ein bitterer Zug flog um ihren halb geöffneten Mund. Doch sie schloß ihn wieder, und wie sie schnell vorwärts ging, ver- schwand jener, und ein düsterer, kummervoller Ausdruck lagerte sich über das sonst so freundliche edle Gesicht. Der konnte der gebrochenen Blume nicht gelten; es lag ein Zukunftsbangen darin, und es war, als blickten die trüben Augen weit hinüber auf andere blühende Rosen, denen sie den Zerstörer nahen sah. Konnten sie ihn nicht mehr abwenden? — Die Baronin griff krampfhaft nach der rothen Blume an ihrer Brust und preßte sie ungestüm zärtlich an die Lippen. Ein aufmerk- samer Beobachter hätte in dieser geringfügigen Bewegung an dem stillen, schmächtigen Weibe eine gewaltige unvermuthete Energie ent- deckt. Sie kam hier und da, wie die Flut kommt. Da stieg das Erbtheil ihrer Väter aus dem Herzen herauf, stark, muthvoll und entschlossen; doch dann war seine Kraft erschöpft, und es bebte zurück, und heiße Thränen fielen angstvoll zitternd in den Rosenkelch hinab. Hinter ihr tönten Schritte; es war Herr von Torwisch, der ihr folgte, und sie eilte hastig die grüne Rasenböschung des Deiches hin- auf. Auf der Höhe hielt sie unwillkürlich an. Drunten war es still und warm, trotzdem der an den Deich grenzende Theil des Parks schon im Schatten desselben lag; aber droben versetzte ihr der Wind, den die Flut auf ihrem Rücken mitzutragen schien, den Athem. Zu- gleich traf die roth verglühende Sonne, die sich bereits in den Meeres- dunst hinab zu senken begann, blendend ihre Augen. So stand sie still, und Herr von Torwisch erreichte sie. „Ein abscheulicher Wind hier oben! Sie werden sich erkälten, Frau Mutter“, sagte er mit affektirter Sorglichkeit, als ob er nichts von dem Vorhergegangenen bemerkt. „Diese entsetzliche Beleuchtung kommt noch hinzu. Sehen Sie Etwas?“ Die Frau streckte schweigend die Hand in die Richtung der Sonnenkugel. Torwisch zog mit der Linken ein Lorgnon aus der Tasche, das er auf seine Nase befestigte, während seine Rechte den schwarzen Cylinderhut auf dem Kopf hielt. Dann folgte er der Rich- tung des deutenden Armes. „Jch sehe nichts“, sagte er umhersuchend. „Teufel, es bläs't tüchtig! Gefahr ist wohl nicht dabei?“ Es klang für das Ohr der Baronin unendlich deutlich hindurch, daß, wenn Gefahr dabei wäre, er sich freue, nicht mit in dem Boot befindlich zu sein. Ein blitzartiger unsäglich verächtlicher Ausdruck flog über ihr Gesicht. Seitdem das Meer ihr vor den Füßen aufbrandete und ab und zu seinen feinen Gischt wie die Wasserfäden eines Nixen- schleiers bis über ihre Stirn wegsprühte, war eine seltsame Ver- änderung mit ihr vorgegaugen. Sie stand mit geöffnetem Munde; es war, als ob ihre Lippen gierig Wind und Wellenschaum ein- saugten, als sei es ein kostbares, wundersames Elixir. Und wie sie es hastig athmend trank, ward sie zusehends jünger und jünger. Hoch aufgerichtet stand sie, als ob sie unsichtbaren Geistern Befehle gäbe; die Runzeln schwanden aus ihrer Stirn, und die Augenbrauen zuckten nicht, sondern boten fest und herrisch dem Sturme Trotz. Er hatte

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 6. Berlin, 9. Februar 1868, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt06_1868/2>, abgerufen am 06.06.2024.