Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sonntags-Blatt. Nr. 4. Berlin, 26. Januar 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
[Beginn Spaltensatz]

Die Kleine gedieh prächtig und war bald der allgemeine Liebling;
aber in letzter Zeit schüttelten die Nachbarn gar oft den Kopf, wenn
sie den müden Schritt der bleichen Frau beobachteten und ihr
trocknes Husten hörten.

Aehnliche Scenen wie die oben geschilderte wiederholten sich immer
häufiger. Der Tischler behauptete, keine Arbeit finden zu können, und
lebte auf Kosten der Frau, hin und wieder durch den Verkauf eines
Theils der Zimmereinrichtung einen Zuschuß in die Wirthschaft lie-
fernd. Die thränenvollen Nächte der armen Frau sah Niemand; am
Tage regten die fleißigen Hände sich unverdrossen, und die müden
Augen erquickten sich nur zuweilen durch einen Blick auf das Kind.
Mit banger Sorge aber sah sie dem bittern Feind der Armuth, dem
Winter, entgegen.



Es ist an einem trüben Wintertage. Schwere Nebel lasten auf
der Weltstadt London, die in einem ihrer düstersten Winkel die Woh-
nung der kleinen deutschen Familie birgt. Jn dem bekannten Gemach
sieht es jetzt noch ärmlicher aus, als da wir es zuerst betraten; nur
die schlechtesten Stücke der Einrichtung sind der Verkaufslust des
Tischlers entgangen. Vor dem Kamin, in dem ein spärliches Feuer
brennt, kauert die kleine Paula, ihre treue Katze im Arm. Die beiden
Spielgefährten erwärmen sich gegenseitig, denn im Zimmer ist es,
trotz des Feuers, nicht sehr behaglich. Die Mutter sitzt, wie ge-
wöhnlich, mit einer Arbeit am Fenster; aber die Nadel fliegt nicht
wie sonst, die fleißigen Hände sind starr vor Kälte, und ach! so müde.
Mutter und Tochter schweigen Beide; es ist zu kalt, um Märchen zu
erzählen und Liedchen herzusagen.

Wieder erschallen polternde Tritte auf der Treppe, denen sich
leisere, knarrende anschließen. Eine fliegende Röthe erscheint auf dem
bleichen Antlitz der Frau, und ihre Hände zucken in nervöser Hast.

Die kurze Zeit, seit wir ihn zuletzt gesehen, hatte starke Ver-
wüstungen im Aussehen des Tischlers hervorgebracht. Sein Gesicht
war fahl, nur die Nase strahlte in üppiger Röthe; die Augen waren
stier und blutunterlaufen, und Gang und Haltung weniger kräftig
und aufrecht; der Anzug zeugte von äußerster Vernachlässigung.
Hatte man diesen Mann gesehen, so verwunderte man sich unwill-
kürlich, wenn der Blick auf seinen Begleiter fiel. Wie mochte der
ängstlich saubere, katzenhaft schleichende, wohlwollend lächelnde Mensch
sich dem schmutzigen Trunkenbold anschließen?

Während der Hausherr sich ohne Gruß auf einen Stuhl am
Kamin warf, näherte sich sein Begleiter der Frau, die zögernd auf-
gestanden war, und streckte ihr mit einem freundlichen "Guten Tag,
Madame, wie geht es Jhnen?" die magere Hand entgegen. Auf
ihrem Gesicht malten sich Furcht und Widerwillen, als sie langsam die
dargebotene Hand nahm.

"Schlechtes Wetter heut", fuhr der Besucher fort, "trüb und kalt!
Ah, da ist ja auch meine kleine Freundin!" rief er, Paula gewah-
rend, die sich gleich beim Eintritt der Männer zu ihrer Mutter ge-
flüchtet hatte. "Gieb mir die Hand, mein Schatz, und einen Kuß",
fuhr er fort, sich zu ihr beugend. Diese aber legte beide Hände auf
den Rücken, trat hinter den Stuhl der Mutter und sah ihn von diesem
sichern Gewahrsam aus trotzig an. "Ei ei, noch immer so spröde,
meine kleine Schöne?" drohte er mit scherzhaft erhobenem Finger.
"Da muß ich wohl ein Plätzchen hervorholen, um Dich zu locken?" Er
fuhr in seine Tasche und holte einen kleinen Kuchen heraus, den er
dem Kinde zeigte. Es näherte sich nicht. "Komm, hole Dir den
Kuchen!" rief er schmeichelnd.

"Jch mag keinen Kuchen", sagte Paula.

"Sei artig, Paula! Sei ein gutes Kind!" bat die Mutter.

Aber das kleine Mädchen, sonst dem leisesten Wink der Mutter
gehorsam, schüttelte den Lockenkopf und beharrte bei der Weigerung,
sich den Kuchen dadurch zu verdienen, daß sie eine Liebkosung des
freundlichen Mannes duldete. Er mußte sich endlich für besiegt
erklären und schob den Kuchen lächelnd in seine Tasche zurück, wäh-
rend ein böser Blick unter seinen gesenkten Wimpern hervorbrach.

"Die liebe Kleine ist ein wenig eigensinnig, Madame", sprach
er sanft.

Sie antwortete nicht auf diese Bemerkung, sondern fragte:

"Was verschafft mir die Ehre Jhres Besuches, Herr Grey?"

"Ei, ei, meine liebe Madame Werner", erwiderte er scherzend,
"muß ich denn für meinen Besuch noch einen andern Zweck haben,
als den, mich nach Jhrem Befinden zu erkundigen?"

"Jch bin nicht an solche Aufmerksamkeiten gewöhnt", sprach sie
gepreßt.

"Eine so schöne Frau darf sich über die Aufmerksamkeit der
Herren nicht wundern", sagte er galant.

Der Tischler ließ ein spöttisches Grunzen hören. Sie preßte
ängstlich die Hände zusammen; sie verabscheute in dem freundlich
blickenden Manne den Verführer ihres Gatten und ahnte, daß dieser
Besuch nichts Gutes bedeute.

[Spaltenumbruch]

Er hatte sich indessen einen Stuhl dicht neben den ihren gesetzt
und ließ sich langsam darauf nieder, als habe er es auf ein gemüth-
liches Plauderstündchen abgesehen.

"Aber es ist ein wenig kühl hier, Madame", begann er, sich frö-
stelnd die Hände reibend.

"Es thut mir leid, aber die Feuerung ist sehr theuer."

"Natürlich, und Du hast kein Geld, welche zu kaufen!" rief jetzt
ihr Mann zornig. "Aber wenn man kein Geld hat, so schafft man
sich welches, und wenn man kein schlechtes Geschöpf ist, so versteckt
man keinen goldenen Firlefanz, für den man Brot und Feuerung für
seinen Mann kaufen könnte!"

Sie stieß einen leisen Schreckensschrei aus und griff mit der Hand
nach dem Halse. Er bemerkte diese Bewegung, sprang auf und rief
wüthend:

"Ja, da hast Du es, und ich sage Dir jetzt, gieb das Ding
her, oder --"

"Nun, nun", fiel der Andere ein, "Deine Frau wird ja vernünftig
sein, ohne daß Du sie so behandelst."

"Es ist das letzte Andenken an meine Heimat und von ganz ge-
ringem Werth", sprach sie.

"Andenken an Deine Heimat? Du Närrin, als ob Du nicht alle
Ursach hättest, Deine Heimat zu vergessen!"

"Deine Frau wird uns den Gegenstand zeigen, und wir können
dann sehen, ob er von Werth ist", beschwichtigte der Andere.

"Für ein Paar Tage wird's immerhin reichen! Zeig' das Ding
her!" befahl er.

Sie zog eine goldene Kapsel hervor, die an einer Schnur um
ihren Hals hing.

"Es scheint nicht viel werth zu sein", sprach Herr Grey, die
Kapsel mit prüfendem Blick betrachtend. "Erlauben Sie, Madame?"
Und ehe sie es hindern konnte, hatte er an einer Feder gedrückt, und
es zeigte sich das Portrait eines jugendlichen Männerkopfes. Ein spötti-
sches Lächeln flog über sein Gesicht, während der Tischler in ein rohes
Lachen ausbrach und rief:

"Das ist also der Schatz? Das Bild von irgend einem Liebhaber!"

"Es ist mein Vetter, der Sohn meiner Wohlthäter."

"So, Dein Vetter?" höhnte er. "Aber gieb das Ding jetzt her",
fügte er drohend hinzu. Er griff danach, aber sie hielt es fest; die
Schnur riß, und das Bild blieb in ihrer Hand. Mit einem Fluch
erhob er die geballte Faust, aber Herr Grey fiel ihm in den Arm.

"Schäme Dich, Werner", sprach er; "um eine solche Lumperei
Deine Frau schlagen zu wollen!"

Der Tischler ließ den Arm sinken; sein Gefährte schien ihn ganz
zu beherrschen.

"Das Ding ist keine fünf Shilling werth", fuhr dieser verächtlich
fort. "Laß es ihr, wenn sie ihr Herz daran gehängt hat. Es giebt
ein besseres Mittel, Geld zu verdienen, wenn Du vernünftig bist!"
fügte er leiser hinzu.

Der Tischler stutzte; dann zog ein häßliches Lachen über sein Ge-
sicht und er sagte:

"Meinetwegen, versuch's! Mir ist Alles recht, wenn ich Geld
bekomme." Damit drehte er sich kurz um und verließ das Zimmer.

Seine Frau blickte ängstlich auf Herrn Grey, der sich ihr näherte
und schmeichelnd sprach:

"Er ist ein roher Mensch, Madame; Sie müssen sich zu entschä-
digen suchen."

"Wie meinen Sie das?" stieß sie hervor.

"Jch meine, daß ich ein Mittel weiß, Jhrem Manne Geld und
Jhnen Ruhe zu verschaffen."

Sie blickte ihn stumm an. Er neigte sein widerliches Gesicht dicht
an das ihre und sagte leise:

"Sie sind eine schöne Frau". Damit versuchte er, seinen Arm
um ihren Leib zu legen.

Ein lauter, herzzerreißender Schrei ertönte durch das Zimmer.
Er fuhr erschrocken zurück. Paula, die eben die goldene Kapsel spie-
lend aus ihrer Mutter Hand gezogen hatte, brach in lautes Weinen
aus, als sie die Mutter starr und leblos in dem Stuhl liegen sah.

"Mama, Mama, stirb nicht!" schluchzte sie und klammerte sich an
die unbewegliche Gestalt. Zum ersten Mal hatte die Mutter keinen
liebevollen Blick für ihre Tochter. Eine furchtbare Angst ergriff das
kleine Herz. Da fühlte sie sich unsanft an der Schulter gefaßt und
Herr Grey sprach barsch:

"Schreie nicht, Kind! Geh' und hole den Arzt."

Den Arzt? Ja, Paula erinnerte sich das dicken, freundlichen Herrn,
der ihrer Mutter vor Kurzem bittere Medizin gegeben hatte, damit sie
wieder gesund würde.

"Ja, ich hole ihn!" rief sie und stürzte zur Thür hinaus, die
Treppe hinunter auf die Straße. Wo sie den Arzt suchen sollte, das
wußte sie freilich nicht; sie stürzte vorwärts, getrieben von dem Ge-
danken: der Arzt muß kommen, sonst stirbt Mama.

( Schluß folgt. )

[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz]

Die Kleine gedieh prächtig und war bald der allgemeine Liebling;
aber in letzter Zeit schüttelten die Nachbarn gar oft den Kopf, wenn
sie den müden Schritt der bleichen Frau beobachteten und ihr
trocknes Husten hörten.

Aehnliche Scenen wie die oben geschilderte wiederholten sich immer
häufiger. Der Tischler behauptete, keine Arbeit finden zu können, und
lebte auf Kosten der Frau, hin und wieder durch den Verkauf eines
Theils der Zimmereinrichtung einen Zuschuß in die Wirthschaft lie-
fernd. Die thränenvollen Nächte der armen Frau sah Niemand; am
Tage regten die fleißigen Hände sich unverdrossen, und die müden
Augen erquickten sich nur zuweilen durch einen Blick auf das Kind.
Mit banger Sorge aber sah sie dem bittern Feind der Armuth, dem
Winter, entgegen.



Es ist an einem trüben Wintertage. Schwere Nebel lasten auf
der Weltstadt London, die in einem ihrer düstersten Winkel die Woh-
nung der kleinen deutschen Familie birgt. Jn dem bekannten Gemach
sieht es jetzt noch ärmlicher aus, als da wir es zuerst betraten; nur
die schlechtesten Stücke der Einrichtung sind der Verkaufslust des
Tischlers entgangen. Vor dem Kamin, in dem ein spärliches Feuer
brennt, kauert die kleine Paula, ihre treue Katze im Arm. Die beiden
Spielgefährten erwärmen sich gegenseitig, denn im Zimmer ist es,
trotz des Feuers, nicht sehr behaglich. Die Mutter sitzt, wie ge-
wöhnlich, mit einer Arbeit am Fenster; aber die Nadel fliegt nicht
wie sonst, die fleißigen Hände sind starr vor Kälte, und ach! so müde.
Mutter und Tochter schweigen Beide; es ist zu kalt, um Märchen zu
erzählen und Liedchen herzusagen.

Wieder erschallen polternde Tritte auf der Treppe, denen sich
leisere, knarrende anschließen. Eine fliegende Röthe erscheint auf dem
bleichen Antlitz der Frau, und ihre Hände zucken in nervöser Hast.

Die kurze Zeit, seit wir ihn zuletzt gesehen, hatte starke Ver-
wüstungen im Aussehen des Tischlers hervorgebracht. Sein Gesicht
war fahl, nur die Nase strahlte in üppiger Röthe; die Augen waren
stier und blutunterlaufen, und Gang und Haltung weniger kräftig
und aufrecht; der Anzug zeugte von äußerster Vernachlässigung.
Hatte man diesen Mann gesehen, so verwunderte man sich unwill-
kürlich, wenn der Blick auf seinen Begleiter fiel. Wie mochte der
ängstlich saubere, katzenhaft schleichende, wohlwollend lächelnde Mensch
sich dem schmutzigen Trunkenbold anschließen?

Während der Hausherr sich ohne Gruß auf einen Stuhl am
Kamin warf, näherte sich sein Begleiter der Frau, die zögernd auf-
gestanden war, und streckte ihr mit einem freundlichen „Guten Tag,
Madame, wie geht es Jhnen?“ die magere Hand entgegen. Auf
ihrem Gesicht malten sich Furcht und Widerwillen, als sie langsam die
dargebotene Hand nahm.

„Schlechtes Wetter heut“, fuhr der Besucher fort, „trüb und kalt!
Ah, da ist ja auch meine kleine Freundin!“ rief er, Paula gewah-
rend, die sich gleich beim Eintritt der Männer zu ihrer Mutter ge-
flüchtet hatte. „Gieb mir die Hand, mein Schatz, und einen Kuß“,
fuhr er fort, sich zu ihr beugend. Diese aber legte beide Hände auf
den Rücken, trat hinter den Stuhl der Mutter und sah ihn von diesem
sichern Gewahrsam aus trotzig an. „Ei ei, noch immer so spröde,
meine kleine Schöne?“ drohte er mit scherzhaft erhobenem Finger.
„Da muß ich wohl ein Plätzchen hervorholen, um Dich zu locken?“ Er
fuhr in seine Tasche und holte einen kleinen Kuchen heraus, den er
dem Kinde zeigte. Es näherte sich nicht. „Komm, hole Dir den
Kuchen!“ rief er schmeichelnd.

„Jch mag keinen Kuchen“, sagte Paula.

„Sei artig, Paula! Sei ein gutes Kind!“ bat die Mutter.

Aber das kleine Mädchen, sonst dem leisesten Wink der Mutter
gehorsam, schüttelte den Lockenkopf und beharrte bei der Weigerung,
sich den Kuchen dadurch zu verdienen, daß sie eine Liebkosung des
freundlichen Mannes duldete. Er mußte sich endlich für besiegt
erklären und schob den Kuchen lächelnd in seine Tasche zurück, wäh-
rend ein böser Blick unter seinen gesenkten Wimpern hervorbrach.

„Die liebe Kleine ist ein wenig eigensinnig, Madame“, sprach
er sanft.

Sie antwortete nicht auf diese Bemerkung, sondern fragte:

„Was verschafft mir die Ehre Jhres Besuches, Herr Grey?“

„Ei, ei, meine liebe Madame Werner“, erwiderte er scherzend,
„muß ich denn für meinen Besuch noch einen andern Zweck haben,
als den, mich nach Jhrem Befinden zu erkundigen?“

„Jch bin nicht an solche Aufmerksamkeiten gewöhnt“, sprach sie
gepreßt.

„Eine so schöne Frau darf sich über die Aufmerksamkeit der
Herren nicht wundern“, sagte er galant.

Der Tischler ließ ein spöttisches Grunzen hören. Sie preßte
ängstlich die Hände zusammen; sie verabscheute in dem freundlich
blickenden Manne den Verführer ihres Gatten und ahnte, daß dieser
Besuch nichts Gutes bedeute.

[Spaltenumbruch]

Er hatte sich indessen einen Stuhl dicht neben den ihren gesetzt
und ließ sich langsam darauf nieder, als habe er es auf ein gemüth-
liches Plauderstündchen abgesehen.

„Aber es ist ein wenig kühl hier, Madame“, begann er, sich frö-
stelnd die Hände reibend.

„Es thut mir leid, aber die Feuerung ist sehr theuer.“

„Natürlich, und Du hast kein Geld, welche zu kaufen!“ rief jetzt
ihr Mann zornig. „Aber wenn man kein Geld hat, so schafft man
sich welches, und wenn man kein schlechtes Geschöpf ist, so versteckt
man keinen goldenen Firlefanz, für den man Brot und Feuerung für
seinen Mann kaufen könnte!“

Sie stieß einen leisen Schreckensschrei aus und griff mit der Hand
nach dem Halse. Er bemerkte diese Bewegung, sprang auf und rief
wüthend:

„Ja, da hast Du es, und ich sage Dir jetzt, gieb das Ding
her, oder —“

„Nun, nun“, fiel der Andere ein, „Deine Frau wird ja vernünftig
sein, ohne daß Du sie so behandelst.“

„Es ist das letzte Andenken an meine Heimat und von ganz ge-
ringem Werth“, sprach sie.

„Andenken an Deine Heimat? Du Närrin, als ob Du nicht alle
Ursach hättest, Deine Heimat zu vergessen!“

„Deine Frau wird uns den Gegenstand zeigen, und wir können
dann sehen, ob er von Werth ist“, beschwichtigte der Andere.

„Für ein Paar Tage wird's immerhin reichen! Zeig' das Ding
her!“ befahl er.

Sie zog eine goldene Kapsel hervor, die an einer Schnur um
ihren Hals hing.

„Es scheint nicht viel werth zu sein“, sprach Herr Grey, die
Kapsel mit prüfendem Blick betrachtend. „Erlauben Sie, Madame?“
Und ehe sie es hindern konnte, hatte er an einer Feder gedrückt, und
es zeigte sich das Portrait eines jugendlichen Männerkopfes. Ein spötti-
sches Lächeln flog über sein Gesicht, während der Tischler in ein rohes
Lachen ausbrach und rief:

„Das ist also der Schatz? Das Bild von irgend einem Liebhaber!“

„Es ist mein Vetter, der Sohn meiner Wohlthäter.“

„So, Dein Vetter?“ höhnte er. „Aber gieb das Ding jetzt her“,
fügte er drohend hinzu. Er griff danach, aber sie hielt es fest; die
Schnur riß, und das Bild blieb in ihrer Hand. Mit einem Fluch
erhob er die geballte Faust, aber Herr Grey fiel ihm in den Arm.

„Schäme Dich, Werner“, sprach er; „um eine solche Lumperei
Deine Frau schlagen zu wollen!“

Der Tischler ließ den Arm sinken; sein Gefährte schien ihn ganz
zu beherrschen.

„Das Ding ist keine fünf Shilling werth“, fuhr dieser verächtlich
fort. „Laß es ihr, wenn sie ihr Herz daran gehängt hat. Es giebt
ein besseres Mittel, Geld zu verdienen, wenn Du vernünftig bist!“
fügte er leiser hinzu.

Der Tischler stutzte; dann zog ein häßliches Lachen über sein Ge-
sicht und er sagte:

„Meinetwegen, versuch's! Mir ist Alles recht, wenn ich Geld
bekomme.“ Damit drehte er sich kurz um und verließ das Zimmer.

Seine Frau blickte ängstlich auf Herrn Grey, der sich ihr näherte
und schmeichelnd sprach:

„Er ist ein roher Mensch, Madame; Sie müssen sich zu entschä-
digen suchen.“

„Wie meinen Sie das?“ stieß sie hervor.

„Jch meine, daß ich ein Mittel weiß, Jhrem Manne Geld und
Jhnen Ruhe zu verschaffen.“

Sie blickte ihn stumm an. Er neigte sein widerliches Gesicht dicht
an das ihre und sagte leise:

„Sie sind eine schöne Frau“. Damit versuchte er, seinen Arm
um ihren Leib zu legen.

Ein lauter, herzzerreißender Schrei ertönte durch das Zimmer.
Er fuhr erschrocken zurück. Paula, die eben die goldene Kapsel spie-
lend aus ihrer Mutter Hand gezogen hatte, brach in lautes Weinen
aus, als sie die Mutter starr und leblos in dem Stuhl liegen sah.

„Mama, Mama, stirb nicht!“ schluchzte sie und klammerte sich an
die unbewegliche Gestalt. Zum ersten Mal hatte die Mutter keinen
liebevollen Blick für ihre Tochter. Eine furchtbare Angst ergriff das
kleine Herz. Da fühlte sie sich unsanft an der Schulter gefaßt und
Herr Grey sprach barsch:

„Schreie nicht, Kind! Geh' und hole den Arzt.“

Den Arzt? Ja, Paula erinnerte sich das dicken, freundlichen Herrn,
der ihrer Mutter vor Kurzem bittere Medizin gegeben hatte, damit sie
wieder gesund würde.

„Ja, ich hole ihn!“ rief sie und stürzte zur Thür hinaus, die
Treppe hinunter auf die Straße. Wo sie den Arzt suchen sollte, das
wußte sie freilich nicht; sie stürzte vorwärts, getrieben von dem Ge-
danken: der Arzt muß kommen, sonst stirbt Mama.

( Schluß folgt. )

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div xml:id="bewegt1" type="jArticle" n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0003" n="27"/>
          <fw type="pageNum" place="top">27</fw>
          <cb type="start"/>
          <p>Die Kleine gedieh prächtig und war bald der allgemeine Liebling;<lb/>
aber in letzter Zeit schüttelten die Nachbarn gar oft den Kopf, wenn<lb/>
sie den müden Schritt der bleichen Frau beobachteten und ihr<lb/>
trocknes Husten hörten.</p><lb/>
          <p>Aehnliche Scenen wie die oben geschilderte wiederholten sich immer<lb/>
häufiger. Der Tischler behauptete, keine Arbeit finden zu können, und<lb/>
lebte auf Kosten der Frau, hin und wieder durch den Verkauf eines<lb/>
Theils der Zimmereinrichtung einen Zuschuß in die Wirthschaft lie-<lb/>
fernd. Die thränenvollen Nächte der armen Frau sah Niemand; am<lb/>
Tage regten die fleißigen Hände sich unverdrossen, und die müden<lb/>
Augen erquickten sich nur zuweilen durch einen Blick auf das Kind.<lb/>
Mit banger Sorge aber sah sie dem bittern Feind der Armuth, dem<lb/>
Winter, entgegen.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <p>Es ist an einem trüben Wintertage. Schwere Nebel lasten auf<lb/>
der Weltstadt London, die in einem ihrer düstersten Winkel die Woh-<lb/>
nung der kleinen deutschen Familie birgt. Jn dem bekannten Gemach<lb/>
sieht es jetzt noch ärmlicher aus, als da wir es zuerst betraten; nur<lb/>
die schlechtesten Stücke der Einrichtung sind der Verkaufslust des<lb/>
Tischlers entgangen. Vor dem Kamin, in dem ein spärliches Feuer<lb/>
brennt, kauert die kleine Paula, ihre treue Katze im Arm. Die beiden<lb/>
Spielgefährten erwärmen sich gegenseitig, denn im Zimmer ist es,<lb/>
trotz des Feuers, nicht sehr behaglich. Die Mutter sitzt, wie ge-<lb/>
wöhnlich, mit einer Arbeit am Fenster; aber die Nadel fliegt nicht<lb/>
wie sonst, die fleißigen Hände sind starr vor Kälte, und ach! so müde.<lb/>
Mutter und Tochter schweigen Beide; es ist zu kalt, um Märchen zu<lb/>
erzählen und Liedchen herzusagen.</p><lb/>
          <p>Wieder erschallen polternde Tritte auf der Treppe, denen sich<lb/>
leisere, knarrende anschließen. Eine fliegende Röthe erscheint auf dem<lb/>
bleichen Antlitz der Frau, und ihre Hände zucken in nervöser Hast.</p><lb/>
          <p>Die kurze Zeit, seit wir ihn zuletzt gesehen, hatte starke Ver-<lb/>
wüstungen im Aussehen des Tischlers hervorgebracht. Sein Gesicht<lb/>
war fahl, nur die Nase strahlte in üppiger Röthe; die Augen waren<lb/>
stier und blutunterlaufen, und Gang und Haltung weniger kräftig<lb/>
und aufrecht; der Anzug zeugte von äußerster Vernachlässigung.<lb/>
Hatte man diesen Mann gesehen, so verwunderte man sich unwill-<lb/>
kürlich, wenn der Blick auf seinen Begleiter fiel. Wie mochte der<lb/>
ängstlich saubere, katzenhaft schleichende, wohlwollend lächelnde Mensch<lb/>
sich dem schmutzigen Trunkenbold anschließen?</p><lb/>
          <p>Während der Hausherr sich ohne Gruß auf einen Stuhl am<lb/>
Kamin warf, näherte sich sein Begleiter der Frau, die zögernd auf-<lb/>
gestanden war, und streckte ihr mit einem freundlichen &#x201E;Guten Tag,<lb/>
Madame, wie geht es Jhnen?&#x201C; die magere Hand entgegen. Auf<lb/>
ihrem Gesicht malten sich Furcht und Widerwillen, als sie langsam die<lb/>
dargebotene Hand nahm.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Schlechtes Wetter heut&#x201C;, fuhr der Besucher fort, &#x201E;trüb und kalt!<lb/>
Ah, da ist ja auch meine kleine Freundin!&#x201C; rief er, Paula gewah-<lb/>
rend, die sich gleich beim Eintritt der Männer zu ihrer Mutter ge-<lb/>
flüchtet hatte. &#x201E;Gieb mir die Hand, mein Schatz, und einen Kuß&#x201C;,<lb/>
fuhr er fort, sich zu ihr beugend. Diese aber legte beide Hände auf<lb/>
den Rücken, trat hinter den Stuhl der Mutter und sah ihn von diesem<lb/>
sichern Gewahrsam aus trotzig an. &#x201E;Ei ei, noch immer so spröde,<lb/>
meine kleine Schöne?&#x201C; drohte er mit scherzhaft erhobenem Finger.<lb/>
&#x201E;Da muß ich wohl ein Plätzchen hervorholen, um Dich zu locken?&#x201C; Er<lb/>
fuhr in seine Tasche und holte einen kleinen Kuchen heraus, den er<lb/>
dem Kinde zeigte. Es näherte sich nicht. &#x201E;Komm, hole Dir den<lb/>
Kuchen!&#x201C; rief er schmeichelnd.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Jch mag keinen Kuchen&#x201C;, sagte Paula.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sei artig, Paula! Sei ein gutes Kind!&#x201C; bat die Mutter.</p><lb/>
          <p>Aber das kleine Mädchen, sonst dem leisesten Wink der Mutter<lb/>
gehorsam, schüttelte den Lockenkopf und beharrte bei der Weigerung,<lb/>
sich den Kuchen dadurch zu verdienen, daß sie eine Liebkosung des<lb/>
freundlichen Mannes duldete. Er mußte sich endlich für besiegt<lb/>
erklären und schob den Kuchen lächelnd in seine Tasche zurück, wäh-<lb/>
rend ein böser Blick unter seinen gesenkten Wimpern hervorbrach.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die liebe Kleine ist ein wenig eigensinnig, Madame&#x201C;, sprach<lb/>
er sanft.</p><lb/>
          <p>Sie antwortete nicht auf diese Bemerkung, sondern fragte:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Was verschafft mir die Ehre Jhres Besuches, Herr Grey?&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ei, ei, meine liebe Madame Werner&#x201C;, erwiderte er scherzend,<lb/>
&#x201E;muß ich denn für meinen Besuch noch einen andern Zweck haben,<lb/>
als den, mich nach Jhrem Befinden zu erkundigen?&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Jch bin nicht an solche Aufmerksamkeiten gewöhnt&#x201C;, sprach sie<lb/>
gepreßt.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Eine so schöne Frau darf sich über die Aufmerksamkeit der<lb/>
Herren nicht wundern&#x201C;, sagte er galant.</p><lb/>
          <p>Der Tischler ließ ein spöttisches Grunzen hören. Sie preßte<lb/>
ängstlich die Hände zusammen; sie verabscheute in dem freundlich<lb/>
blickenden Manne den Verführer ihres Gatten und ahnte, daß dieser<lb/>
Besuch nichts Gutes bedeute.</p><lb/>
          <cb n="2"/>
          <p>Er hatte sich indessen einen Stuhl dicht neben den ihren gesetzt<lb/>
und ließ sich langsam darauf nieder, als habe er es auf ein gemüth-<lb/>
liches Plauderstündchen abgesehen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Aber es ist ein wenig kühl hier, Madame&#x201C;, begann er, sich frö-<lb/>
stelnd die Hände reibend.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es thut mir leid, aber die Feuerung ist sehr theuer.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Natürlich, und Du hast kein Geld, welche zu kaufen!&#x201C; rief jetzt<lb/>
ihr Mann zornig. &#x201E;Aber wenn man kein Geld hat, so schafft man<lb/>
sich welches, und wenn man kein schlechtes Geschöpf ist, so versteckt<lb/>
man keinen goldenen Firlefanz, für den man Brot und Feuerung für<lb/>
seinen Mann kaufen könnte!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie stieß einen leisen Schreckensschrei aus und griff mit der Hand<lb/>
nach dem Halse. Er bemerkte diese Bewegung, sprang auf und rief<lb/>
wüthend:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ja, da hast Du es, und ich sage Dir jetzt, gieb das Ding<lb/>
her, oder &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Nun, nun&#x201C;, fiel der Andere ein, &#x201E;Deine Frau wird ja vernünftig<lb/>
sein, ohne daß Du sie so behandelst.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es ist das letzte Andenken an meine Heimat und von ganz ge-<lb/>
ringem Werth&#x201C;, sprach sie.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Andenken an Deine Heimat? Du Närrin, als ob Du nicht alle<lb/>
Ursach hättest, Deine Heimat zu vergessen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Deine Frau wird uns den Gegenstand zeigen, und wir können<lb/>
dann sehen, ob er von Werth ist&#x201C;, beschwichtigte der Andere.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Für ein Paar Tage wird's immerhin reichen! Zeig' das Ding<lb/>
her!&#x201C; befahl er.</p><lb/>
          <p>Sie zog eine goldene Kapsel hervor, die an einer Schnur um<lb/>
ihren Hals hing.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es scheint nicht viel werth zu sein&#x201C;, sprach Herr Grey, die<lb/>
Kapsel mit prüfendem Blick betrachtend. &#x201E;Erlauben Sie, Madame?&#x201C;<lb/>
Und ehe sie es hindern konnte, hatte er an einer Feder gedrückt, und<lb/>
es zeigte sich das Portrait eines jugendlichen Männerkopfes. Ein spötti-<lb/>
sches Lächeln flog über sein Gesicht, während der Tischler in ein rohes<lb/>
Lachen ausbrach und rief:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Das ist also der Schatz? Das Bild von irgend einem Liebhaber!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es ist mein Vetter, der Sohn meiner Wohlthäter.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;So, Dein Vetter?&#x201C; höhnte er. &#x201E;Aber gieb das Ding jetzt her&#x201C;,<lb/>
fügte er drohend hinzu. Er griff danach, aber sie hielt es fest; die<lb/>
Schnur riß, und das Bild blieb in ihrer Hand. Mit einem Fluch<lb/>
erhob er die geballte Faust, aber Herr Grey fiel ihm in den Arm.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Schäme Dich, Werner&#x201C;, sprach er; &#x201E;um eine solche Lumperei<lb/>
Deine Frau schlagen zu wollen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Der Tischler ließ den Arm sinken; sein Gefährte schien ihn ganz<lb/>
zu beherrschen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Das Ding ist keine fünf Shilling werth&#x201C;, fuhr dieser verächtlich<lb/>
fort. &#x201E;Laß es ihr, wenn sie ihr Herz daran gehängt hat. Es giebt<lb/>
ein besseres Mittel, Geld zu verdienen, wenn Du vernünftig bist!&#x201C;<lb/>
fügte er leiser hinzu.</p><lb/>
          <p>Der Tischler stutzte; dann zog ein häßliches Lachen über sein Ge-<lb/>
sicht und er sagte:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Meinetwegen, versuch's! Mir ist Alles recht, wenn ich Geld<lb/>
bekomme.&#x201C; Damit drehte er sich kurz um und verließ das Zimmer.</p><lb/>
          <p>Seine Frau blickte ängstlich auf Herrn Grey, der sich ihr näherte<lb/>
und schmeichelnd sprach:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Er ist ein roher Mensch, Madame; Sie müssen sich zu entschä-<lb/>
digen suchen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wie meinen Sie das?&#x201C; stieß sie hervor.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Jch meine, daß ich ein Mittel weiß, Jhrem Manne Geld und<lb/>
Jhnen Ruhe zu verschaffen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie blickte ihn stumm an. Er neigte sein widerliches Gesicht dicht<lb/>
an das ihre und sagte leise:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sie sind eine schöne Frau&#x201C;. Damit versuchte er, seinen Arm<lb/>
um ihren Leib zu legen.</p><lb/>
          <p>Ein lauter, herzzerreißender Schrei ertönte durch das Zimmer.<lb/>
Er fuhr erschrocken zurück. Paula, die eben die goldene Kapsel spie-<lb/>
lend aus ihrer Mutter Hand gezogen hatte, brach in lautes Weinen<lb/>
aus, als sie die Mutter starr und leblos in dem Stuhl liegen sah.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Mama, Mama, stirb nicht!&#x201C; schluchzte sie und klammerte sich an<lb/>
die unbewegliche Gestalt. Zum ersten Mal hatte die Mutter keinen<lb/>
liebevollen Blick für ihre Tochter. Eine furchtbare Angst ergriff das<lb/>
kleine Herz. Da fühlte sie sich unsanft an der Schulter gefaßt und<lb/>
Herr Grey sprach barsch:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Schreie nicht, Kind! Geh' und hole den Arzt.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Den Arzt? Ja, Paula erinnerte sich das dicken, freundlichen Herrn,<lb/>
der ihrer Mutter vor Kurzem bittere Medizin gegeben hatte, damit sie<lb/>
wieder gesund würde.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ja, ich hole ihn!&#x201C; rief sie und stürzte zur Thür hinaus, die<lb/>
Treppe hinunter auf die Straße. Wo sie den Arzt suchen sollte, das<lb/>
wußte sie freilich nicht; sie stürzte vorwärts, getrieben von dem Ge-<lb/>
danken: der Arzt muß kommen, sonst stirbt Mama.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">
              <ref target="nn_sonntagsblatt04_1868#bewegt2">( Schluß folgt. )</ref>
            </hi> </p>
        </div>
      </div><lb/>
      <cb type="end"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0003] 27 Die Kleine gedieh prächtig und war bald der allgemeine Liebling; aber in letzter Zeit schüttelten die Nachbarn gar oft den Kopf, wenn sie den müden Schritt der bleichen Frau beobachteten und ihr trocknes Husten hörten. Aehnliche Scenen wie die oben geschilderte wiederholten sich immer häufiger. Der Tischler behauptete, keine Arbeit finden zu können, und lebte auf Kosten der Frau, hin und wieder durch den Verkauf eines Theils der Zimmereinrichtung einen Zuschuß in die Wirthschaft lie- fernd. Die thränenvollen Nächte der armen Frau sah Niemand; am Tage regten die fleißigen Hände sich unverdrossen, und die müden Augen erquickten sich nur zuweilen durch einen Blick auf das Kind. Mit banger Sorge aber sah sie dem bittern Feind der Armuth, dem Winter, entgegen. Es ist an einem trüben Wintertage. Schwere Nebel lasten auf der Weltstadt London, die in einem ihrer düstersten Winkel die Woh- nung der kleinen deutschen Familie birgt. Jn dem bekannten Gemach sieht es jetzt noch ärmlicher aus, als da wir es zuerst betraten; nur die schlechtesten Stücke der Einrichtung sind der Verkaufslust des Tischlers entgangen. Vor dem Kamin, in dem ein spärliches Feuer brennt, kauert die kleine Paula, ihre treue Katze im Arm. Die beiden Spielgefährten erwärmen sich gegenseitig, denn im Zimmer ist es, trotz des Feuers, nicht sehr behaglich. Die Mutter sitzt, wie ge- wöhnlich, mit einer Arbeit am Fenster; aber die Nadel fliegt nicht wie sonst, die fleißigen Hände sind starr vor Kälte, und ach! so müde. Mutter und Tochter schweigen Beide; es ist zu kalt, um Märchen zu erzählen und Liedchen herzusagen. Wieder erschallen polternde Tritte auf der Treppe, denen sich leisere, knarrende anschließen. Eine fliegende Röthe erscheint auf dem bleichen Antlitz der Frau, und ihre Hände zucken in nervöser Hast. Die kurze Zeit, seit wir ihn zuletzt gesehen, hatte starke Ver- wüstungen im Aussehen des Tischlers hervorgebracht. Sein Gesicht war fahl, nur die Nase strahlte in üppiger Röthe; die Augen waren stier und blutunterlaufen, und Gang und Haltung weniger kräftig und aufrecht; der Anzug zeugte von äußerster Vernachlässigung. Hatte man diesen Mann gesehen, so verwunderte man sich unwill- kürlich, wenn der Blick auf seinen Begleiter fiel. Wie mochte der ängstlich saubere, katzenhaft schleichende, wohlwollend lächelnde Mensch sich dem schmutzigen Trunkenbold anschließen? Während der Hausherr sich ohne Gruß auf einen Stuhl am Kamin warf, näherte sich sein Begleiter der Frau, die zögernd auf- gestanden war, und streckte ihr mit einem freundlichen „Guten Tag, Madame, wie geht es Jhnen?“ die magere Hand entgegen. Auf ihrem Gesicht malten sich Furcht und Widerwillen, als sie langsam die dargebotene Hand nahm. „Schlechtes Wetter heut“, fuhr der Besucher fort, „trüb und kalt! Ah, da ist ja auch meine kleine Freundin!“ rief er, Paula gewah- rend, die sich gleich beim Eintritt der Männer zu ihrer Mutter ge- flüchtet hatte. „Gieb mir die Hand, mein Schatz, und einen Kuß“, fuhr er fort, sich zu ihr beugend. Diese aber legte beide Hände auf den Rücken, trat hinter den Stuhl der Mutter und sah ihn von diesem sichern Gewahrsam aus trotzig an. „Ei ei, noch immer so spröde, meine kleine Schöne?“ drohte er mit scherzhaft erhobenem Finger. „Da muß ich wohl ein Plätzchen hervorholen, um Dich zu locken?“ Er fuhr in seine Tasche und holte einen kleinen Kuchen heraus, den er dem Kinde zeigte. Es näherte sich nicht. „Komm, hole Dir den Kuchen!“ rief er schmeichelnd. „Jch mag keinen Kuchen“, sagte Paula. „Sei artig, Paula! Sei ein gutes Kind!“ bat die Mutter. Aber das kleine Mädchen, sonst dem leisesten Wink der Mutter gehorsam, schüttelte den Lockenkopf und beharrte bei der Weigerung, sich den Kuchen dadurch zu verdienen, daß sie eine Liebkosung des freundlichen Mannes duldete. Er mußte sich endlich für besiegt erklären und schob den Kuchen lächelnd in seine Tasche zurück, wäh- rend ein böser Blick unter seinen gesenkten Wimpern hervorbrach. „Die liebe Kleine ist ein wenig eigensinnig, Madame“, sprach er sanft. Sie antwortete nicht auf diese Bemerkung, sondern fragte: „Was verschafft mir die Ehre Jhres Besuches, Herr Grey?“ „Ei, ei, meine liebe Madame Werner“, erwiderte er scherzend, „muß ich denn für meinen Besuch noch einen andern Zweck haben, als den, mich nach Jhrem Befinden zu erkundigen?“ „Jch bin nicht an solche Aufmerksamkeiten gewöhnt“, sprach sie gepreßt. „Eine so schöne Frau darf sich über die Aufmerksamkeit der Herren nicht wundern“, sagte er galant. Der Tischler ließ ein spöttisches Grunzen hören. Sie preßte ängstlich die Hände zusammen; sie verabscheute in dem freundlich blickenden Manne den Verführer ihres Gatten und ahnte, daß dieser Besuch nichts Gutes bedeute. Er hatte sich indessen einen Stuhl dicht neben den ihren gesetzt und ließ sich langsam darauf nieder, als habe er es auf ein gemüth- liches Plauderstündchen abgesehen. „Aber es ist ein wenig kühl hier, Madame“, begann er, sich frö- stelnd die Hände reibend. „Es thut mir leid, aber die Feuerung ist sehr theuer.“ „Natürlich, und Du hast kein Geld, welche zu kaufen!“ rief jetzt ihr Mann zornig. „Aber wenn man kein Geld hat, so schafft man sich welches, und wenn man kein schlechtes Geschöpf ist, so versteckt man keinen goldenen Firlefanz, für den man Brot und Feuerung für seinen Mann kaufen könnte!“ Sie stieß einen leisen Schreckensschrei aus und griff mit der Hand nach dem Halse. Er bemerkte diese Bewegung, sprang auf und rief wüthend: „Ja, da hast Du es, und ich sage Dir jetzt, gieb das Ding her, oder —“ „Nun, nun“, fiel der Andere ein, „Deine Frau wird ja vernünftig sein, ohne daß Du sie so behandelst.“ „Es ist das letzte Andenken an meine Heimat und von ganz ge- ringem Werth“, sprach sie. „Andenken an Deine Heimat? Du Närrin, als ob Du nicht alle Ursach hättest, Deine Heimat zu vergessen!“ „Deine Frau wird uns den Gegenstand zeigen, und wir können dann sehen, ob er von Werth ist“, beschwichtigte der Andere. „Für ein Paar Tage wird's immerhin reichen! Zeig' das Ding her!“ befahl er. Sie zog eine goldene Kapsel hervor, die an einer Schnur um ihren Hals hing. „Es scheint nicht viel werth zu sein“, sprach Herr Grey, die Kapsel mit prüfendem Blick betrachtend. „Erlauben Sie, Madame?“ Und ehe sie es hindern konnte, hatte er an einer Feder gedrückt, und es zeigte sich das Portrait eines jugendlichen Männerkopfes. Ein spötti- sches Lächeln flog über sein Gesicht, während der Tischler in ein rohes Lachen ausbrach und rief: „Das ist also der Schatz? Das Bild von irgend einem Liebhaber!“ „Es ist mein Vetter, der Sohn meiner Wohlthäter.“ „So, Dein Vetter?“ höhnte er. „Aber gieb das Ding jetzt her“, fügte er drohend hinzu. Er griff danach, aber sie hielt es fest; die Schnur riß, und das Bild blieb in ihrer Hand. Mit einem Fluch erhob er die geballte Faust, aber Herr Grey fiel ihm in den Arm. „Schäme Dich, Werner“, sprach er; „um eine solche Lumperei Deine Frau schlagen zu wollen!“ Der Tischler ließ den Arm sinken; sein Gefährte schien ihn ganz zu beherrschen. „Das Ding ist keine fünf Shilling werth“, fuhr dieser verächtlich fort. „Laß es ihr, wenn sie ihr Herz daran gehängt hat. Es giebt ein besseres Mittel, Geld zu verdienen, wenn Du vernünftig bist!“ fügte er leiser hinzu. Der Tischler stutzte; dann zog ein häßliches Lachen über sein Ge- sicht und er sagte: „Meinetwegen, versuch's! Mir ist Alles recht, wenn ich Geld bekomme.“ Damit drehte er sich kurz um und verließ das Zimmer. Seine Frau blickte ängstlich auf Herrn Grey, der sich ihr näherte und schmeichelnd sprach: „Er ist ein roher Mensch, Madame; Sie müssen sich zu entschä- digen suchen.“ „Wie meinen Sie das?“ stieß sie hervor. „Jch meine, daß ich ein Mittel weiß, Jhrem Manne Geld und Jhnen Ruhe zu verschaffen.“ Sie blickte ihn stumm an. Er neigte sein widerliches Gesicht dicht an das ihre und sagte leise: „Sie sind eine schöne Frau“. Damit versuchte er, seinen Arm um ihren Leib zu legen. Ein lauter, herzzerreißender Schrei ertönte durch das Zimmer. Er fuhr erschrocken zurück. Paula, die eben die goldene Kapsel spie- lend aus ihrer Mutter Hand gezogen hatte, brach in lautes Weinen aus, als sie die Mutter starr und leblos in dem Stuhl liegen sah. „Mama, Mama, stirb nicht!“ schluchzte sie und klammerte sich an die unbewegliche Gestalt. Zum ersten Mal hatte die Mutter keinen liebevollen Blick für ihre Tochter. Eine furchtbare Angst ergriff das kleine Herz. Da fühlte sie sich unsanft an der Schulter gefaßt und Herr Grey sprach barsch: „Schreie nicht, Kind! Geh' und hole den Arzt.“ Den Arzt? Ja, Paula erinnerte sich das dicken, freundlichen Herrn, der ihrer Mutter vor Kurzem bittere Medizin gegeben hatte, damit sie wieder gesund würde. „Ja, ich hole ihn!“ rief sie und stürzte zur Thür hinaus, die Treppe hinunter auf die Straße. Wo sie den Arzt suchen sollte, das wußte sie freilich nicht; sie stürzte vorwärts, getrieben von dem Ge- danken: der Arzt muß kommen, sonst stirbt Mama. ( Schluß folgt. )

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt04_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt04_1868/3
Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 4. Berlin, 26. Januar 1868, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt04_1868/3>, abgerufen am 15.06.2024.