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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 10. Lieferung, Nr. 5. Berlin, 31. Oktober 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 286
[Beginn Spaltensatz] als auf der Straße Lerchen gesehen. Es kommt sogar vor,
daß Kinder danach verlangen, über die Zeit zu arbeiten,
weil ihnen das in der Ueberzeit verdiente Geld von den
Eltern überlassen wird und sie sich dafür Spirituosen kau-
fen oder ein Pennytheater besuchen wollen. Jn den Arse-
nikwerken und Zündhölzchen = Fabriken findet fortwährend
eine Massenvergiftung statt. Ebenso bei den Stahlschleife-
reien in Sheffield und in den Nadelzuspitzereien. Der feine
Stahlstaub ist bei den abgehärteten Organen des Erwach-
senen und wie viel mehr für den zarteren Organismus der
Kinder Ursache der langsam tödtenden Schwindsucht; eine
Vernichtung des Augenlichts wird bei der gebückten Stel-
lung über den Schleifstein, welche der Arbeitende einneh-
men muß, fast immer herbeigeführt. Melancholisch berührt
es uns, wenn wir die Kinder selbst sagen hören, indem sie
sich ihres Schicksals wohl bewußt sind: "wir fließen schnell
dahin wie Wasser." Tag für Tag müssen Kinder in den
Streichhölzchenfabriken den flüssigen Phosphor umrühren;
die Kleider der hier Beschäftigten sind so von Phosphor in-
ficirt, daß sie des Nachts leuchten; die schreckliche Kinn-
backenkrankheit, welche nach wenigen Jahren den Arbeiter
unter den gräßlichsten Schmerzen langsam mordet, ohne
daß es irgend ein Mittel giebt, ihr Einhalt zu thun, macht
jene Gegenden zu einer Stätte des Jammers.

Jch erinnere noch einmal an das Schornsteinfeger-
[Spaltenumbruch] gewerbe. Die Arbeit, welche Knaben von vier, fünf nnd
sechs Jahren bei demselben zu verrichten haben, gehört zu
den fürchterlichsten, der sich nur immer ein Kind unterzieht.
Bei dem Kriechen durch die engen Schornsteine kommt es
häusig vor, daß sie sich das Rückgrat brechen. Es ist für
diese Geschäftsbranche ein förmlicher Kinderhandel ausge-
bildet. Der jährliche Preis, den sich die herzlosen Eltern
für einen kleinen Knaben bezahlen lassen, beträgt 10 Pfd.
St., ja oft blos 3 Pfd. Sind die Kinder dann angelernt,
haben sie das 15., höchstens 17. Jahr erreicht, so werden
sie meistens entlassen, weil sie für die frühere Beschäftigung
nicht mehr tauglich sind und der Schornsteinfegermeister
eine größere Anzahl von erwachsenen Gehülfen nicht ver-
wenden kann. Ein Vorurtheil, dessen Entstehungsursache
mir räthselhaft ist, erschwert den Entlassenen den Eintritt in
andere Geschäftsbranchen, sie verfallen dem Laster und liefern
notorisch ein zahlreiches Contingent für die Strafanstalten.
Und doch versichert man, daß die Arbeit, zu welcher jetzt
die Kinder verwendet werden, auch durch die Maschinen
verrichtet werden könnte. Jm Rückblick auf diese grauen-
erregenden Thatsachen kann man die Politik des Laisser
faire
nicht billigen. Die wirthschaftlichen Nothwendigkeiten
müssen in Einklang gebracht werden mit den sittlichen Pflich-
ten der menschlichen Gesellschaft; es ist vom Staate unter
allen Umständen zu verlangen, daß er die Kinder schütze.

[Ende Spaltensatz]

Reise nach Jkarien
von Cabet.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]
Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Die Vollziehungsbehörde.

Eine Grundregel, belehrte uns Walmor, ist, daß die Voll-
ziehungsmacht wesentlich der gesetzgebenden Macht untergeordnet
sei, deren Beschlüsse sie auszuführen hat. Demnach handelt sie
immer nur im Namen des Volkes und der Nationalvertretung,
ist folglich durchaus verantwortlich, kann zur Rechenschast gezogen
und abgesetzt werden. Daß diese Behörde wählbar ist, versteht
sich; ebenso daß sie stets aus einer Körperschaft mit einem Prä-
sidenten zusammengesetzt ist; woraus sich ergiebt, daß Jkarien
nicht einen "Präsidenten der Republik" hat, sondern nur einen
Präsidenten des Vollziehungsraths oder der Vollziehungsbehörde.
Auf dieselbe Weise hat jeder unserer gesetzgebenden Körper
neben sich einen Vollziehungsrath. Wir haben folglich eine Na-
tionalvollziehungsbehörde, einhundert provinziale, und eintausend
communale oder Gemein devollziehungsbehörden.

Die nationale besteht aus sechszehn Mitgliedern, unter dem
Namen Generalvollstrecker, welche Zahl mithin um eins größer
ist als die der Hauptausschüsse der Nationalkammer. Jeder
dieser sechszehn Vollstrecker ist so zu sagen ein Minister, der ein
besonderes Fach beaufsichtigt und befehligt; ihr Präsident ist ein
Präsident des Ministerraths.

Die nationale Vollziehungsbehörde nun hat in der Haupt-
stadt, in den Hauptörtern der Provinzen und in der Gemeinde-
stadt, die nöthigen Unterbeamten zur Verfügung. Die sechszehn
[Spaltenumbruch] Mitglieder sind auf zwei Jahre gewählt; alle Jahre erneuern sie
sich, wie die Nationalvertreter, zur Hälfte.

Die Wahl geschieht vom Volke, nach einer dreifachen Liste
von Candidaten, die von der Nationalvertreterschaft ernannt
sind. Alle Unterbeamten werden theils durch die Vollziehungs-
behörde, theils auch durch die Nationalvertreterschaft, meistens
jedoch durch das Volk ernannt. Demzufolge ist die Verantwort-
lichkeit der vollziehenden Behörde, was die Handlungen der
Unterbeamten betrifft, eine begrenzte; man kann jene nur für
dasjenige zur Rechenschaft ziehen, was wirklich ihre eigene
Schuld ist.

Die sechszehn Vollstrecker und ihr Präsident wohnen im
Nationalpalast, neben der Nationalvertreterschaft. Dort be-
finden sich auch die sämmtlichen Ministerien, oder doch ganz in
der Nähe, so daß die Communikation zwischen der National-
vertreterschaft und National=Vollziehungsbehörde möglichst er-
leichtert ist.

Jch brauche Jhnen wohl kaum ausdrücklich zu sagen, daß
die Vollstrecker weder Garde noch besondere Belohnungen, Ge-
halt u. dgl. haben. Keiner derselben speist besser, wohnt besser
als irgend ein anderer Jkarier. Bei uns gelten die Aemter
nicht mehr und nicht minder als Professionen, oder umgekehrt:
jede ikarische Profession gilt als ein Amt. Es giebt selbst Be-
hördestellen, durch deren Besorgung man nicht einmal vom Ar-
beiten in den Werkstätten befreit wird.

Die vollziehende Behörde besitzt gar kein Mittel zum Be-
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 286
[Beginn Spaltensatz] als auf der Straße Lerchen gesehen. Es kommt sogar vor,
daß Kinder danach verlangen, über die Zeit zu arbeiten,
weil ihnen das in der Ueberzeit verdiente Geld von den
Eltern überlassen wird und sie sich dafür Spirituosen kau-
fen oder ein Pennytheater besuchen wollen. Jn den Arse-
nikwerken und Zündhölzchen = Fabriken findet fortwährend
eine Massenvergiftung statt. Ebenso bei den Stahlschleife-
reien in Sheffield und in den Nadelzuspitzereien. Der feine
Stahlstaub ist bei den abgehärteten Organen des Erwach-
senen und wie viel mehr für den zarteren Organismus der
Kinder Ursache der langsam tödtenden Schwindsucht; eine
Vernichtung des Augenlichts wird bei der gebückten Stel-
lung über den Schleifstein, welche der Arbeitende einneh-
men muß, fast immer herbeigeführt. Melancholisch berührt
es uns, wenn wir die Kinder selbst sagen hören, indem sie
sich ihres Schicksals wohl bewußt sind: „wir fließen schnell
dahin wie Wasser.“ Tag für Tag müssen Kinder in den
Streichhölzchenfabriken den flüssigen Phosphor umrühren;
die Kleider der hier Beschäftigten sind so von Phosphor in-
ficirt, daß sie des Nachts leuchten; die schreckliche Kinn-
backenkrankheit, welche nach wenigen Jahren den Arbeiter
unter den gräßlichsten Schmerzen langsam mordet, ohne
daß es irgend ein Mittel giebt, ihr Einhalt zu thun, macht
jene Gegenden zu einer Stätte des Jammers.

Jch erinnere noch einmal an das Schornsteinfeger-
[Spaltenumbruch] gewerbe. Die Arbeit, welche Knaben von vier, fünf nnd
sechs Jahren bei demselben zu verrichten haben, gehört zu
den fürchterlichsten, der sich nur immer ein Kind unterzieht.
Bei dem Kriechen durch die engen Schornsteine kommt es
häusig vor, daß sie sich das Rückgrat brechen. Es ist für
diese Geschäftsbranche ein förmlicher Kinderhandel ausge-
bildet. Der jährliche Preis, den sich die herzlosen Eltern
für einen kleinen Knaben bezahlen lassen, beträgt 10 Pfd.
St., ja oft blos 3 Pfd. Sind die Kinder dann angelernt,
haben sie das 15., höchstens 17. Jahr erreicht, so werden
sie meistens entlassen, weil sie für die frühere Beschäftigung
nicht mehr tauglich sind und der Schornsteinfegermeister
eine größere Anzahl von erwachsenen Gehülfen nicht ver-
wenden kann. Ein Vorurtheil, dessen Entstehungsursache
mir räthselhaft ist, erschwert den Entlassenen den Eintritt in
andere Geschäftsbranchen, sie verfallen dem Laster und liefern
notorisch ein zahlreiches Contingent für die Strafanstalten.
Und doch versichert man, daß die Arbeit, zu welcher jetzt
die Kinder verwendet werden, auch durch die Maschinen
verrichtet werden könnte. Jm Rückblick auf diese grauen-
erregenden Thatsachen kann man die Politik des Laisser
faire
nicht billigen. Die wirthschaftlichen Nothwendigkeiten
müssen in Einklang gebracht werden mit den sittlichen Pflich-
ten der menschlichen Gesellschaft; es ist vom Staate unter
allen Umständen zu verlangen, daß er die Kinder schütze.

[Ende Spaltensatz]

Reise nach Jkarien
von Cabet.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]
Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Die Vollziehungsbehörde.

Eine Grundregel, belehrte uns Walmor, ist, daß die Voll-
ziehungsmacht wesentlich der gesetzgebenden Macht untergeordnet
sei, deren Beschlüsse sie auszuführen hat. Demnach handelt sie
immer nur im Namen des Volkes und der Nationalvertretung,
ist folglich durchaus verantwortlich, kann zur Rechenschast gezogen
und abgesetzt werden. Daß diese Behörde wählbar ist, versteht
sich; ebenso daß sie stets aus einer Körperschaft mit einem Prä-
sidenten zusammengesetzt ist; woraus sich ergiebt, daß Jkarien
nicht einen „Präsidenten der Republik“ hat, sondern nur einen
Präsidenten des Vollziehungsraths oder der Vollziehungsbehörde.
Auf dieselbe Weise hat jeder unserer gesetzgebenden Körper
neben sich einen Vollziehungsrath. Wir haben folglich eine Na-
tionalvollziehungsbehörde, einhundert provinziale, und eintausend
communale oder Gemein devollziehungsbehörden.

Die nationale besteht aus sechszehn Mitgliedern, unter dem
Namen Generalvollstrecker, welche Zahl mithin um eins größer
ist als die der Hauptausschüsse der Nationalkammer. Jeder
dieser sechszehn Vollstrecker ist so zu sagen ein Minister, der ein
besonderes Fach beaufsichtigt und befehligt; ihr Präsident ist ein
Präsident des Ministerraths.

Die nationale Vollziehungsbehörde nun hat in der Haupt-
stadt, in den Hauptörtern der Provinzen und in der Gemeinde-
stadt, die nöthigen Unterbeamten zur Verfügung. Die sechszehn
[Spaltenumbruch] Mitglieder sind auf zwei Jahre gewählt; alle Jahre erneuern sie
sich, wie die Nationalvertreter, zur Hälfte.

Die Wahl geschieht vom Volke, nach einer dreifachen Liste
von Candidaten, die von der Nationalvertreterschaft ernannt
sind. Alle Unterbeamten werden theils durch die Vollziehungs-
behörde, theils auch durch die Nationalvertreterschaft, meistens
jedoch durch das Volk ernannt. Demzufolge ist die Verantwort-
lichkeit der vollziehenden Behörde, was die Handlungen der
Unterbeamten betrifft, eine begrenzte; man kann jene nur für
dasjenige zur Rechenschaft ziehen, was wirklich ihre eigene
Schuld ist.

Die sechszehn Vollstrecker und ihr Präsident wohnen im
Nationalpalast, neben der Nationalvertreterschaft. Dort be-
finden sich auch die sämmtlichen Ministerien, oder doch ganz in
der Nähe, so daß die Communikation zwischen der National-
vertreterschaft und National=Vollziehungsbehörde möglichst er-
leichtert ist.

Jch brauche Jhnen wohl kaum ausdrücklich zu sagen, daß
die Vollstrecker weder Garde noch besondere Belohnungen, Ge-
halt u. dgl. haben. Keiner derselben speist besser, wohnt besser
als irgend ein anderer Jkarier. Bei uns gelten die Aemter
nicht mehr und nicht minder als Professionen, oder umgekehrt:
jede ikarische Profession gilt als ein Amt. Es giebt selbst Be-
hördestellen, durch deren Besorgung man nicht einmal vom Ar-
beiten in den Werkstätten befreit wird.

Die vollziehende Behörde besitzt gar kein Mittel zum Be-
[Ende Spaltensatz]

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[286/0002] Zur Unterhaltung und Belehrung. 286 als auf der Straße Lerchen gesehen. Es kommt sogar vor, daß Kinder danach verlangen, über die Zeit zu arbeiten, weil ihnen das in der Ueberzeit verdiente Geld von den Eltern überlassen wird und sie sich dafür Spirituosen kau- fen oder ein Pennytheater besuchen wollen. Jn den Arse- nikwerken und Zündhölzchen = Fabriken findet fortwährend eine Massenvergiftung statt. Ebenso bei den Stahlschleife- reien in Sheffield und in den Nadelzuspitzereien. Der feine Stahlstaub ist bei den abgehärteten Organen des Erwach- senen und wie viel mehr für den zarteren Organismus der Kinder Ursache der langsam tödtenden Schwindsucht; eine Vernichtung des Augenlichts wird bei der gebückten Stel- lung über den Schleifstein, welche der Arbeitende einneh- men muß, fast immer herbeigeführt. Melancholisch berührt es uns, wenn wir die Kinder selbst sagen hören, indem sie sich ihres Schicksals wohl bewußt sind: „wir fließen schnell dahin wie Wasser.“ Tag für Tag müssen Kinder in den Streichhölzchenfabriken den flüssigen Phosphor umrühren; die Kleider der hier Beschäftigten sind so von Phosphor in- ficirt, daß sie des Nachts leuchten; die schreckliche Kinn- backenkrankheit, welche nach wenigen Jahren den Arbeiter unter den gräßlichsten Schmerzen langsam mordet, ohne daß es irgend ein Mittel giebt, ihr Einhalt zu thun, macht jene Gegenden zu einer Stätte des Jammers. Jch erinnere noch einmal an das Schornsteinfeger- gewerbe. Die Arbeit, welche Knaben von vier, fünf nnd sechs Jahren bei demselben zu verrichten haben, gehört zu den fürchterlichsten, der sich nur immer ein Kind unterzieht. Bei dem Kriechen durch die engen Schornsteine kommt es häusig vor, daß sie sich das Rückgrat brechen. Es ist für diese Geschäftsbranche ein förmlicher Kinderhandel ausge- bildet. 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Bei uns gelten die Aemter nicht mehr und nicht minder als Professionen, oder umgekehrt: jede ikarische Profession gilt als ein Amt. Es giebt selbst Be- hördestellen, durch deren Besorgung man nicht einmal vom Ar- beiten in den Werkstätten befreit wird. Die vollziehende Behörde besitzt gar kein Mittel zum Be-

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 10. Lieferung, Nr. 5. Berlin, 31. Oktober 1874, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social1005_1874/2>, abgerufen am 06.06.2024.