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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 9. Lieferung, Nr. 1. Berlin, 5. September 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 226
[Beginn Spaltensatz] schulen" u. s. w. ) das Elend jener Klasse zu heben, die durch
die heutigen Zustände nicht blos physisch, sondern auch moralisch
versumpft ist, vergeblich sind, und er ist ehrlich genug, dies offen
zu erklären, obschon er selbst anscheinend als ein solcher Missio-
nar gewirkt hat. Wir geben jene Schilderung nachstehend wieder,
da sie offenbar auf richtige Beobachtung beruht, obschon die Ver-
brecher unsern Prediger nicht selten an der Nase herumgeführt
zu haben scheinen. Der Geistliche berichtet:

" Mein jahrelanger Aufenthalt im East von London hatte
mich mit allen Schichten der Bevölkerung dieses Stadttheiles
bekannt gemacht. Jch kannte wenigstens so gut wie die Polizei
alle Diebe. Jch wußte genau die Orte ihrer Zusammenkünfte.
Anfangs von den Verbrechern gemieden, wurden sie bald freund-
licher, als ich helfend in Nöthen Manchem beigestanden, bis sie
zuletzt mich zu den Meetings, in welchen die Jnteressen der Ge-
sellschaft berathen wurden, einluden. Das ich nie das Wort bei
diesen Meetings ergreifen durfte, ist selbstverständlich, da ich nur
Gast war; eben so daß ich von den beabsichtigten Einbrüchen
und Räubereien nie unterrichtet wurde.

Jn einem halbverfallenen elenden Hause hatten sich einst
60--80 Personen beiderlei Geschlechts eingefunden, um einen
eben aus der Tretmühle kommenden jungen Mann zu begrüßen.
Außer diesen Personen waren drei Gäste anwesend; einer von
diesen war ich. Es hielten mehrere junge, kaum dem Knaben-
alter entwachsene Leute in einer rauhen, heiser klingenden Sprache
die heftigsten Reden gegen Polizei, Strafanstalten und gegen
mich. Sie wurden ruhig angehört, ohne daß von ihren Worten
weiter Notiz genommen wurde. Frauen, die sprachen, mußten
sich sehr zusammennehmen, um gegen den guten Geschmack nicht zu
verstoßen, denn sonst wurden sie verlacht und verhöhnt.

Ein junger Mensch von etwa 17 Jahren, dessen Flachshaar
kurz geschnitten war und wie Stoppeln aufrecht stand, hielt eine
lange Rede, in welcher er stolz mittheilte, daß er erst gestern
seine achtzehn Monat vollendet, direkt aus der Tretmühle käme.
Jn hochtrabenden Worten nannte er sich einen Märtyrer der
guten Sache, einen armen Vogel, dem seit seinem zwölften
Jahre von Polizei und Obrigkeit alle möglichen Schlingen ge-
legt worden, bis er auch endlich gefangen und in der Tretmühle
als ein neues Glied in der Genossenschaft seiner Leidensgefährten
inaugurirt worden. Er ergoß sich in bittern Klagen gegen die
Gefängnisse und ihre Gesetze, verfluchte die Strenge der Wächter
und die Härte der Arbeit. Um dieses zu beweisen, zeigte er
seine hochaufgeschwollenen, an manchen Stellen wunden Waden
vor, die von einem achtzehn Monate langen Treten in der Mühle,
oder wie er sich poetisch ausdrückte, der everlasting staircase
( der ewig belastenden Mühle ) , sehr arg mitgenommen waren.
Bei dem Allen betrachtete er diese Zeichen seiner Strafe mit
jenem Stolze und Bewußtsein, mit welchem etwa ein Soldat
seine ehrenvollen Wunden ansieht, die er im Kriege davongetragen,
und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, er hielt seine frisch
geschorenen Haare, wie sie eben unter der Scheere des Gefäng-
nißbarbiers hervorgegangen, und deren eigenthümlicher Schnitt
Allen wohl bekannt war, für viel werthvoller und viel stolzer
als ein Jndianerhäuptling seine Adlerfedern. Jch muß einge-
stehen, daß, während ich so da saß und diesen armen Kerl seine
Laster und Verkommenheit preisen hörte, ein Gefühl von Mit-
leid, Abscheu und Zorn sich meiner bemächtigte, so daß ich
wünschte, ich wäre nicht gekommen. Beinahe wäre ich aufge-
sprungen, um ihm vor Allen in heftigen Worten zu sagen, was
auch immer für Folgen für mich entstehen würden, daß ich nicht
im Geringsten mit ihm sympathisire, daß seine Gefängnißleiden
noch immer nicht so schlimm seien, als er es verdient hätte, und
daß, wenn ich irgend eine Macht und Einfluß gehabt, ich ihn
noch weit strenger verurtheilt hätte, denn er müsse für die Ver-
brechen, die er gegen Gott und Menschen begangen, auch bitter
büßen, und was immer mit ihm geschähe -- wäre gerecht. --
Jch war nahe daran, mich von meinen Gefühlen überwältigen
zu lassen, als ein Mann von 36 Jahren mit einem beinahe in-
telligent aussehenden Gesichte und einem nicht zu verkennenden
tragi=komischen Ausdruck, dessen Anblick mich mit Hoffnung er-
füllte, in demselben Augenblick sich erhob. Jch wußte, daß er
der Gesellschaft angehöre, und einer der verwegensten Diebe war;
dennoch fühlte ich mich beruhigt. -- Wahrlich, ich hatte mich
nicht getäuscht. Schon nach den ersten Worten sah ich ein, daß
er besser am Platze sei, als ich, indem er, wenn er auch nicht
von Gott und Glauben sprach, den Zweck, den ich hatte, näm-
[Spaltenumbruch] lich den jungen Menschen auf die Ungerechtigkeiten seiner An-
klagen zu verweisen ( ? ) besser erreichte, als ich es gethan haben
würde*). Seine Rede, welche in leichtem und sicherm Style,
mit vollkommener grammatikalischer Richtigkeit und klarer Logik
vorgetragen wurde, lautete etwa:

-- Ew. Hochwürden, geehrte Ladies und Gentlements!
( Gelächter. ) Wir haben heute die Ehre, hochwürdige Herren
unter der Zahl unserer Gäste zu erblicken, und fühle mich des-
halb verpflichtet ihnen zu zeigen, daß auch wir uns hier und da
verpflichtet sehen, Meetings, ähnlich denen, welche sie einberufen,
abzuhalten, hauptsächlich bietet mir die Sprache meines geehrten
Vorredners die Veranlassung, ihnen zu zeigen, wie wir es machen,
( Hört! hört! ) . Jch will meine Rede nicht mit der Absingung
eines Psalmes einleiten, sondern allsogleich mit Belehrung und
Ermahaung, wie es der Vortheil des jungen "Müllers" ( so
werden die Sträflinge der Tretmühle genannt ) erheischt. Er
beklagte sich über die Mühen, die das Mahlen verlangt, und über
die Folgen, die das ewige Treten für seine Füße gehabt hat.
Jch hoffe, er wird mir Dank sagen, wenn ich es versuche, nach-
dem er "mahlen" gelernt hat, ihm auch die Handhabung der
Windmühle beizubringen, damit er endlich im Stande sei, die
Spreu, welche sich in seinem kleinen Gehirne angehäuft hat, aus-
zuscheiden und fähig werde, richtig denken und sprechen zu können.
Jch kann ihn versichern, daß seine Füße nicht im Geringsten
angegriffen werden sollen, sondern daß sein Herz ihm schwellen,
seine Pulse ihm pochen werden und er die Größe seines Berufes
erkennen lernen wird. ( Gelächter und Amen. ) Hochwürden! ( sich
zu uns wendend ) Sie müssen wissen, daß dies junge Mädchen
( auf ein Mädchen mit einnehmenden Zügen weisend ) ungeheures
Jnteresse an dem jungen Müller, meinem Vorredner, nimmt.
Jch weiß nicht, denkt sie, daß der Haarkünstler der Tretmühle
ihn so sehr verschönert hat, oder bewundert sie die Stellung seiner
Beine ( er hatte Säbelbeine ) , aber ich weiß gewiß, sie wird nicht
besser von ihm denken nach dieser ungeheuer unsinnigen, incor-
recten Rede. ( Schallendes Gelächter. ) Unser theurer junger
Freund ( er nimmt einen salbungsvollen Ton an ) ist alt genug, um
zu wissen, daß er, sobald er in unsere Compagnie eintritt, einen
Vertrag abschließt. Er schließt einen Vertrag mit dem Publikum,
der Obrigkeit und dem Schutzmann ) ."

( Jch glaube für die beiden letzteren wurden technische Aus-
drücke wie " beaks " und " copers " benutzt, aber im Ganzen
enthielt die Rede nur wenig von diesem Diebeslatein. )

( Schluß folgt. )



Eine Handwerkerfamilie.
( Fortetzung. )

-- Aber was habt ihr um Alles in der Welt? Was sollen
die Nachbarn von einem solchen Auftritt denken?

-- Was sie davon denken sollen? sprach der Meister. Daß
es unserm Herrn Sohn ganz einerlei ist, ob Du in Deinem
Alter Hunger leidest und ich mich zu Tode arbeite. Verlassen
will er uns.

-- Verlassen? Karl, ist das wahr?

-- Es ist wahr, sagte dieser, auch nicht eine Minute bleibe
ich in einem Hause, wo man mir so begegnet.

Trotz allem Zureden der Mutter packte der Trotzige seine
Sachen ein und bald verhallten seine Schritte in der Ferne.

Der alte Neumann hatte bis dahin ganz unthätig in langem
Stillschweigen verharrt. Da, fort ist er, sagte er dann nach
einer kurzen Pause. Siehst Du Alte, das hat man vom Kinder-
erziehen, daß sie uns dann, wenn man sie braucht, hartherzig
verlassen. Das ist der Dank für alle Sorgen, die er uns ver-
ursachte. Wer den alten Tischler jetzt beobachtet hätte, der hätte
in seinem Antlitz ein schreckliches Lächeln gesehen, das Lächeln
der Verzweiflung. So! fuhr er nach einer Weile fort, indem er
die Hobelbank wieder aufschraubte, jetzt heißt es die alten Knochen
regen, bis sie brechen und bis das Blut stockt. Ruhe bekommt
man doch nicht eher. Ach, der Teufel hole ein solches Leben!
[Ende Spaltensatz]

*) Unser Prediger wird hier von dem geriebenen Spitzbuben zum
Besten gehalten. Der Sinn der nachfolgenden Rede, die offenbar treu
wiedergegeben ist, ist augenscheinlich die an den jungen Verbrecher gerichtete
Ermahnung, sich künftig nicht wieder erwischen zu lassen. Dies ist aller-
dings, um den Geistlichen zu schmeicheln, ganz fein eingekleidet.

Zur Unterhaltung und Belehrung. 226
[Beginn Spaltensatz] schulen“ u. s. w. ) das Elend jener Klasse zu heben, die durch
die heutigen Zustände nicht blos physisch, sondern auch moralisch
versumpft ist, vergeblich sind, und er ist ehrlich genug, dies offen
zu erklären, obschon er selbst anscheinend als ein solcher Missio-
nar gewirkt hat. Wir geben jene Schilderung nachstehend wieder,
da sie offenbar auf richtige Beobachtung beruht, obschon die Ver-
brecher unsern Prediger nicht selten an der Nase herumgeführt
zu haben scheinen. Der Geistliche berichtet:

„ Mein jahrelanger Aufenthalt im East von London hatte
mich mit allen Schichten der Bevölkerung dieses Stadttheiles
bekannt gemacht. Jch kannte wenigstens so gut wie die Polizei
alle Diebe. Jch wußte genau die Orte ihrer Zusammenkünfte.
Anfangs von den Verbrechern gemieden, wurden sie bald freund-
licher, als ich helfend in Nöthen Manchem beigestanden, bis sie
zuletzt mich zu den Meetings, in welchen die Jnteressen der Ge-
sellschaft berathen wurden, einluden. Das ich nie das Wort bei
diesen Meetings ergreifen durfte, ist selbstverständlich, da ich nur
Gast war; eben so daß ich von den beabsichtigten Einbrüchen
und Räubereien nie unterrichtet wurde.

Jn einem halbverfallenen elenden Hause hatten sich einst
60—80 Personen beiderlei Geschlechts eingefunden, um einen
eben aus der Tretmühle kommenden jungen Mann zu begrüßen.
Außer diesen Personen waren drei Gäste anwesend; einer von
diesen war ich. Es hielten mehrere junge, kaum dem Knaben-
alter entwachsene Leute in einer rauhen, heiser klingenden Sprache
die heftigsten Reden gegen Polizei, Strafanstalten und gegen
mich. Sie wurden ruhig angehört, ohne daß von ihren Worten
weiter Notiz genommen wurde. Frauen, die sprachen, mußten
sich sehr zusammennehmen, um gegen den guten Geschmack nicht zu
verstoßen, denn sonst wurden sie verlacht und verhöhnt.

Ein junger Mensch von etwa 17 Jahren, dessen Flachshaar
kurz geschnitten war und wie Stoppeln aufrecht stand, hielt eine
lange Rede, in welcher er stolz mittheilte, daß er erst gestern
seine achtzehn Monat vollendet, direkt aus der Tretmühle käme.
Jn hochtrabenden Worten nannte er sich einen Märtyrer der
guten Sache, einen armen Vogel, dem seit seinem zwölften
Jahre von Polizei und Obrigkeit alle möglichen Schlingen ge-
legt worden, bis er auch endlich gefangen und in der Tretmühle
als ein neues Glied in der Genossenschaft seiner Leidensgefährten
inaugurirt worden. Er ergoß sich in bittern Klagen gegen die
Gefängnisse und ihre Gesetze, verfluchte die Strenge der Wächter
und die Härte der Arbeit. Um dieses zu beweisen, zeigte er
seine hochaufgeschwollenen, an manchen Stellen wunden Waden
vor, die von einem achtzehn Monate langen Treten in der Mühle,
oder wie er sich poetisch ausdrückte, der everlasting staircase
( der ewig belastenden Mühle ) , sehr arg mitgenommen waren.
Bei dem Allen betrachtete er diese Zeichen seiner Strafe mit
jenem Stolze und Bewußtsein, mit welchem etwa ein Soldat
seine ehrenvollen Wunden ansieht, die er im Kriege davongetragen,
und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, er hielt seine frisch
geschorenen Haare, wie sie eben unter der Scheere des Gefäng-
nißbarbiers hervorgegangen, und deren eigenthümlicher Schnitt
Allen wohl bekannt war, für viel werthvoller und viel stolzer
als ein Jndianerhäuptling seine Adlerfedern. Jch muß einge-
stehen, daß, während ich so da saß und diesen armen Kerl seine
Laster und Verkommenheit preisen hörte, ein Gefühl von Mit-
leid, Abscheu und Zorn sich meiner bemächtigte, so daß ich
wünschte, ich wäre nicht gekommen. Beinahe wäre ich aufge-
sprungen, um ihm vor Allen in heftigen Worten zu sagen, was
auch immer für Folgen für mich entstehen würden, daß ich nicht
im Geringsten mit ihm sympathisire, daß seine Gefängnißleiden
noch immer nicht so schlimm seien, als er es verdient hätte, und
daß, wenn ich irgend eine Macht und Einfluß gehabt, ich ihn
noch weit strenger verurtheilt hätte, denn er müsse für die Ver-
brechen, die er gegen Gott und Menschen begangen, auch bitter
büßen, und was immer mit ihm geschähe — wäre gerecht. —
Jch war nahe daran, mich von meinen Gefühlen überwältigen
zu lassen, als ein Mann von 36 Jahren mit einem beinahe in-
telligent aussehenden Gesichte und einem nicht zu verkennenden
tragi=komischen Ausdruck, dessen Anblick mich mit Hoffnung er-
füllte, in demselben Augenblick sich erhob. Jch wußte, daß er
der Gesellschaft angehöre, und einer der verwegensten Diebe war;
dennoch fühlte ich mich beruhigt. — Wahrlich, ich hatte mich
nicht getäuscht. Schon nach den ersten Worten sah ich ein, daß
er besser am Platze sei, als ich, indem er, wenn er auch nicht
von Gott und Glauben sprach, den Zweck, den ich hatte, näm-
[Spaltenumbruch] lich den jungen Menschen auf die Ungerechtigkeiten seiner An-
klagen zu verweisen ( ? ) besser erreichte, als ich es gethan haben
würde*). Seine Rede, welche in leichtem und sicherm Style,
mit vollkommener grammatikalischer Richtigkeit und klarer Logik
vorgetragen wurde, lautete etwa:

— Ew. Hochwürden, geehrte Ladies und Gentlements!
( Gelächter. ) Wir haben heute die Ehre, hochwürdige Herren
unter der Zahl unserer Gäste zu erblicken, und fühle mich des-
halb verpflichtet ihnen zu zeigen, daß auch wir uns hier und da
verpflichtet sehen, Meetings, ähnlich denen, welche sie einberufen,
abzuhalten, hauptsächlich bietet mir die Sprache meines geehrten
Vorredners die Veranlassung, ihnen zu zeigen, wie wir es machen,
( Hört! hört! ) . Jch will meine Rede nicht mit der Absingung
eines Psalmes einleiten, sondern allsogleich mit Belehrung und
Ermahaung, wie es der Vortheil des jungen „Müllers“ ( so
werden die Sträflinge der Tretmühle genannt ) erheischt. Er
beklagte sich über die Mühen, die das Mahlen verlangt, und über
die Folgen, die das ewige Treten für seine Füße gehabt hat.
Jch hoffe, er wird mir Dank sagen, wenn ich es versuche, nach-
dem er „mahlen“ gelernt hat, ihm auch die Handhabung der
Windmühle beizubringen, damit er endlich im Stande sei, die
Spreu, welche sich in seinem kleinen Gehirne angehäuft hat, aus-
zuscheiden und fähig werde, richtig denken und sprechen zu können.
Jch kann ihn versichern, daß seine Füße nicht im Geringsten
angegriffen werden sollen, sondern daß sein Herz ihm schwellen,
seine Pulse ihm pochen werden und er die Größe seines Berufes
erkennen lernen wird. ( Gelächter und Amen. ) Hochwürden! ( sich
zu uns wendend ) Sie müssen wissen, daß dies junge Mädchen
( auf ein Mädchen mit einnehmenden Zügen weisend ) ungeheures
Jnteresse an dem jungen Müller, meinem Vorredner, nimmt.
Jch weiß nicht, denkt sie, daß der Haarkünstler der Tretmühle
ihn so sehr verschönert hat, oder bewundert sie die Stellung seiner
Beine ( er hatte Säbelbeine ) , aber ich weiß gewiß, sie wird nicht
besser von ihm denken nach dieser ungeheuer unsinnigen, incor-
recten Rede. ( Schallendes Gelächter. ) Unser theurer junger
Freund ( er nimmt einen salbungsvollen Ton an ) ist alt genug, um
zu wissen, daß er, sobald er in unsere Compagnie eintritt, einen
Vertrag abschließt. Er schließt einen Vertrag mit dem Publikum,
der Obrigkeit und dem Schutzmann ) .“

( Jch glaube für die beiden letzteren wurden technische Aus-
drücke wie „ beaks “ und „ copers “ benutzt, aber im Ganzen
enthielt die Rede nur wenig von diesem Diebeslatein. )

( Schluß folgt. )



Eine Handwerkerfamilie.
( Fortetzung. )

— Aber was habt ihr um Alles in der Welt? Was sollen
die Nachbarn von einem solchen Auftritt denken?

— Was sie davon denken sollen? sprach der Meister. Daß
es unserm Herrn Sohn ganz einerlei ist, ob Du in Deinem
Alter Hunger leidest und ich mich zu Tode arbeite. Verlassen
will er uns.

— Verlassen? Karl, ist das wahr?

— Es ist wahr, sagte dieser, auch nicht eine Minute bleibe
ich in einem Hause, wo man mir so begegnet.

Trotz allem Zureden der Mutter packte der Trotzige seine
Sachen ein und bald verhallten seine Schritte in der Ferne.

Der alte Neumann hatte bis dahin ganz unthätig in langem
Stillschweigen verharrt. Da, fort ist er, sagte er dann nach
einer kurzen Pause. Siehst Du Alte, das hat man vom Kinder-
erziehen, daß sie uns dann, wenn man sie braucht, hartherzig
verlassen. Das ist der Dank für alle Sorgen, die er uns ver-
ursachte. Wer den alten Tischler jetzt beobachtet hätte, der hätte
in seinem Antlitz ein schreckliches Lächeln gesehen, das Lächeln
der Verzweiflung. So! fuhr er nach einer Weile fort, indem er
die Hobelbank wieder aufschraubte, jetzt heißt es die alten Knochen
regen, bis sie brechen und bis das Blut stockt. Ruhe bekommt
man doch nicht eher. Ach, der Teufel hole ein solches Leben!
[Ende Spaltensatz]

*) Unser Prediger wird hier von dem geriebenen Spitzbuben zum
Besten gehalten. Der Sinn der nachfolgenden Rede, die offenbar treu
wiedergegeben ist, ist augenscheinlich die an den jungen Verbrecher gerichtete
Ermahnung, sich künftig nicht wieder erwischen zu lassen. Dies ist aller-
dings, um den Geistlichen zu schmeicheln, ganz fein eingekleidet.
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[226/0006] Zur Unterhaltung und Belehrung. 226 schulen“ u. s. w. ) das Elend jener Klasse zu heben, die durch die heutigen Zustände nicht blos physisch, sondern auch moralisch versumpft ist, vergeblich sind, und er ist ehrlich genug, dies offen zu erklären, obschon er selbst anscheinend als ein solcher Missio- nar gewirkt hat. Wir geben jene Schilderung nachstehend wieder, da sie offenbar auf richtige Beobachtung beruht, obschon die Ver- brecher unsern Prediger nicht selten an der Nase herumgeführt zu haben scheinen. Der Geistliche berichtet: „ Mein jahrelanger Aufenthalt im East von London hatte mich mit allen Schichten der Bevölkerung dieses Stadttheiles bekannt gemacht. Jch kannte wenigstens so gut wie die Polizei alle Diebe. Jch wußte genau die Orte ihrer Zusammenkünfte. Anfangs von den Verbrechern gemieden, wurden sie bald freund- licher, als ich helfend in Nöthen Manchem beigestanden, bis sie zuletzt mich zu den Meetings, in welchen die Jnteressen der Ge- sellschaft berathen wurden, einluden. Das ich nie das Wort bei diesen Meetings ergreifen durfte, ist selbstverständlich, da ich nur Gast war; eben so daß ich von den beabsichtigten Einbrüchen und Räubereien nie unterrichtet wurde. Jn einem halbverfallenen elenden Hause hatten sich einst 60—80 Personen beiderlei Geschlechts eingefunden, um einen eben aus der Tretmühle kommenden jungen Mann zu begrüßen. Außer diesen Personen waren drei Gäste anwesend; einer von diesen war ich. Es hielten mehrere junge, kaum dem Knaben- alter entwachsene Leute in einer rauhen, heiser klingenden Sprache die heftigsten Reden gegen Polizei, Strafanstalten und gegen mich. Sie wurden ruhig angehört, ohne daß von ihren Worten weiter Notiz genommen wurde. Frauen, die sprachen, mußten sich sehr zusammennehmen, um gegen den guten Geschmack nicht zu verstoßen, denn sonst wurden sie verlacht und verhöhnt. Ein junger Mensch von etwa 17 Jahren, dessen Flachshaar kurz geschnitten war und wie Stoppeln aufrecht stand, hielt eine lange Rede, in welcher er stolz mittheilte, daß er erst gestern seine achtzehn Monat vollendet, direkt aus der Tretmühle käme. Jn hochtrabenden Worten nannte er sich einen Märtyrer der guten Sache, einen armen Vogel, dem seit seinem zwölften Jahre von Polizei und Obrigkeit alle möglichen Schlingen ge- legt worden, bis er auch endlich gefangen und in der Tretmühle als ein neues Glied in der Genossenschaft seiner Leidensgefährten inaugurirt worden. Er ergoß sich in bittern Klagen gegen die Gefängnisse und ihre Gesetze, verfluchte die Strenge der Wächter und die Härte der Arbeit. Um dieses zu beweisen, zeigte er seine hochaufgeschwollenen, an manchen Stellen wunden Waden vor, die von einem achtzehn Monate langen Treten in der Mühle, oder wie er sich poetisch ausdrückte, der everlasting staircase ( der ewig belastenden Mühle ) , sehr arg mitgenommen waren. Bei dem Allen betrachtete er diese Zeichen seiner Strafe mit jenem Stolze und Bewußtsein, mit welchem etwa ein Soldat seine ehrenvollen Wunden ansieht, die er im Kriege davongetragen, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, er hielt seine frisch geschorenen Haare, wie sie eben unter der Scheere des Gefäng- nißbarbiers hervorgegangen, und deren eigenthümlicher Schnitt Allen wohl bekannt war, für viel werthvoller und viel stolzer als ein Jndianerhäuptling seine Adlerfedern. Jch muß einge- stehen, daß, während ich so da saß und diesen armen Kerl seine Laster und Verkommenheit preisen hörte, ein Gefühl von Mit- leid, Abscheu und Zorn sich meiner bemächtigte, so daß ich wünschte, ich wäre nicht gekommen. Beinahe wäre ich aufge- sprungen, um ihm vor Allen in heftigen Worten zu sagen, was auch immer für Folgen für mich entstehen würden, daß ich nicht im Geringsten mit ihm sympathisire, daß seine Gefängnißleiden noch immer nicht so schlimm seien, als er es verdient hätte, und daß, wenn ich irgend eine Macht und Einfluß gehabt, ich ihn noch weit strenger verurtheilt hätte, denn er müsse für die Ver- brechen, die er gegen Gott und Menschen begangen, auch bitter büßen, und was immer mit ihm geschähe — wäre gerecht. — Jch war nahe daran, mich von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen, als ein Mann von 36 Jahren mit einem beinahe in- telligent aussehenden Gesichte und einem nicht zu verkennenden tragi=komischen Ausdruck, dessen Anblick mich mit Hoffnung er- füllte, in demselben Augenblick sich erhob. Jch wußte, daß er der Gesellschaft angehöre, und einer der verwegensten Diebe war; dennoch fühlte ich mich beruhigt. — Wahrlich, ich hatte mich nicht getäuscht. Schon nach den ersten Worten sah ich ein, daß er besser am Platze sei, als ich, indem er, wenn er auch nicht von Gott und Glauben sprach, den Zweck, den ich hatte, näm- lich den jungen Menschen auf die Ungerechtigkeiten seiner An- klagen zu verweisen ( ? ) besser erreichte, als ich es gethan haben würde *). Seine Rede, welche in leichtem und sicherm Style, mit vollkommener grammatikalischer Richtigkeit und klarer Logik vorgetragen wurde, lautete etwa: — Ew. Hochwürden, geehrte Ladies und Gentlements! ( Gelächter. ) Wir haben heute die Ehre, hochwürdige Herren unter der Zahl unserer Gäste zu erblicken, und fühle mich des- halb verpflichtet ihnen zu zeigen, daß auch wir uns hier und da verpflichtet sehen, Meetings, ähnlich denen, welche sie einberufen, abzuhalten, hauptsächlich bietet mir die Sprache meines geehrten Vorredners die Veranlassung, ihnen zu zeigen, wie wir es machen, ( Hört! hört! ) . Jch will meine Rede nicht mit der Absingung eines Psalmes einleiten, sondern allsogleich mit Belehrung und Ermahaung, wie es der Vortheil des jungen „Müllers“ ( so werden die Sträflinge der Tretmühle genannt ) erheischt. Er beklagte sich über die Mühen, die das Mahlen verlangt, und über die Folgen, die das ewige Treten für seine Füße gehabt hat. Jch hoffe, er wird mir Dank sagen, wenn ich es versuche, nach- dem er „mahlen“ gelernt hat, ihm auch die Handhabung der Windmühle beizubringen, damit er endlich im Stande sei, die Spreu, welche sich in seinem kleinen Gehirne angehäuft hat, aus- zuscheiden und fähig werde, richtig denken und sprechen zu können. Jch kann ihn versichern, daß seine Füße nicht im Geringsten angegriffen werden sollen, sondern daß sein Herz ihm schwellen, seine Pulse ihm pochen werden und er die Größe seines Berufes erkennen lernen wird. ( Gelächter und Amen. ) Hochwürden! ( sich zu uns wendend ) Sie müssen wissen, daß dies junge Mädchen ( auf ein Mädchen mit einnehmenden Zügen weisend ) ungeheures Jnteresse an dem jungen Müller, meinem Vorredner, nimmt. Jch weiß nicht, denkt sie, daß der Haarkünstler der Tretmühle ihn so sehr verschönert hat, oder bewundert sie die Stellung seiner Beine ( er hatte Säbelbeine ) , aber ich weiß gewiß, sie wird nicht besser von ihm denken nach dieser ungeheuer unsinnigen, incor- recten Rede. ( Schallendes Gelächter. ) Unser theurer junger Freund ( er nimmt einen salbungsvollen Ton an ) ist alt genug, um zu wissen, daß er, sobald er in unsere Compagnie eintritt, einen Vertrag abschließt. Er schließt einen Vertrag mit dem Publikum, der Obrigkeit und dem Schutzmann ) .“ ( Jch glaube für die beiden letzteren wurden technische Aus- drücke wie „ beaks “ und „ copers “ benutzt, aber im Ganzen enthielt die Rede nur wenig von diesem Diebeslatein. ) ( Schluß folgt. ) Eine Handwerkerfamilie. ( Fortetzung. ) — Aber was habt ihr um Alles in der Welt? Was sollen die Nachbarn von einem solchen Auftritt denken? — Was sie davon denken sollen? sprach der Meister. Daß es unserm Herrn Sohn ganz einerlei ist, ob Du in Deinem Alter Hunger leidest und ich mich zu Tode arbeite. Verlassen will er uns. — Verlassen? Karl, ist das wahr? — Es ist wahr, sagte dieser, auch nicht eine Minute bleibe ich in einem Hause, wo man mir so begegnet. Trotz allem Zureden der Mutter packte der Trotzige seine Sachen ein und bald verhallten seine Schritte in der Ferne. Der alte Neumann hatte bis dahin ganz unthätig in langem Stillschweigen verharrt. Da, fort ist er, sagte er dann nach einer kurzen Pause. Siehst Du Alte, das hat man vom Kinder- erziehen, daß sie uns dann, wenn man sie braucht, hartherzig verlassen. Das ist der Dank für alle Sorgen, die er uns ver- ursachte. Wer den alten Tischler jetzt beobachtet hätte, der hätte in seinem Antlitz ein schreckliches Lächeln gesehen, das Lächeln der Verzweiflung. So! fuhr er nach einer Weile fort, indem er die Hobelbank wieder aufschraubte, jetzt heißt es die alten Knochen regen, bis sie brechen und bis das Blut stockt. Ruhe bekommt man doch nicht eher. Ach, der Teufel hole ein solches Leben! *) Unser Prediger wird hier von dem geriebenen Spitzbuben zum Besten gehalten. Der Sinn der nachfolgenden Rede, die offenbar treu wiedergegeben ist, ist augenscheinlich die an den jungen Verbrecher gerichtete Ermahnung, sich künftig nicht wieder erwischen zu lassen. Dies ist aller- dings, um den Geistlichen zu schmeicheln, ganz fein eingekleidet.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 9. Lieferung, Nr. 1. Berlin, 5. September 1874, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0901_1874/6>, abgerufen am 06.06.2024.