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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 7. Lieferung, Nr. 3. Berlin, 18. Juli 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 170
[Beginn Spaltensatz]
Am Krankenbett eines Kindes.
Das kranke Kind ist das geliebte Kind.
Lessing.

Die Aufzeichnungen, die hier folgen, machen keinerlei An-
spruch auf ärztliches Jnteresse, auf spannende Entwickelung, auf
psychologische Tiefe, wohl aber auf volle, ungeschminkte Wahrheit
des Selbsterlebten.

Der Leser liebt es gewöhnlich, sich eine Situation, eine
Begebenheit durch einen Namen klarer zu versinnlichen, und so
wollen wir denn die Mutter unseres Kindes Emilie heißen.
Emilie war aus angesehener, wohlhabender Familie und verlebte
ihre Jugend heiter, fast zu heiter und sorglos. "Titus der
Gütige" nannte den Tag einen verlorenen, an dem er nicht
irgend ein wohlthätiges Werk geübt, Emilie den Abend einen
verlorenen, an dem es für sie nicht eine besondere Unterhaltung
gegeben. Es war dies eben häuslicher Stil, altherkömmliche
Gewohnheit, wie sie sich in manchen Familien von Mutter auf
Kind, von Kind auf Kindeskind forterben. Diese unausgesetzte
Reihe fröhlicher Tage endete mit der Verheirathung Emilien's.
Es war eine sogenanute "gute Partie", eine Vernunftsheirath.

" Io sono ricco, tu sei bella!" Jch bin reich, in schöner
Position, du bist schön, "gebildet" und aus "guter Familie" --
wie trefflich passen wir zusammen, welche Bürgschaft für gegen-
seitige Beglückung! Die Herzen haben sich zwar nicht gefunden,
die Liebe, die Neigung haben sie nicht zusammengeführt; aber
Adolph -- nennen wir ihn so -- lebte in so glänzenden Ver-
hältnissen, daß er sich von nur sehr wenigen Töchtern des Lan-
des einen Korb geholt hätte, geschweige von deren Eltern. Und
in der That war die Ehe eine musterhafte, vielbeneidete. Emilie
schwamm unaufhörlich in einem Meere von Vergnügungen, war
tonangebend für die elegantesten Toiletten, für die geschmack-
vollsten Equipagen, und hatte überhaupt Alles, was nur ihr
Herz begehrte.

Nach drei Jahren wurde Emilie Mutter eines hübschen,
lieblichen, aber ungemein zarten Mädchens. Kleines Mündchen,
große blaue Augen, herzige Grübchen. Eine kräftige Amme
vom Lande war dazu auserwählt, die kleine Cornelia zu stillen;
eine reich erfahrene, mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete
Kindsfrau leitete und überwachte in zwei großen geräumigen
Zimmern die Pflege und Wartung "der Prinzessin". Die Mutter
hatte das Kind recht lieb; sie koste und putzte es auf, sie fragte
auch zeitweilig nach dem und jenem; aber das reiche Repertoire
ihrer täglichen Zerstreuungen erlitt durch die Regungen der
Muttergefühle und Mutterpflichten kaum eine merkliche Einbuße.
Die rührenden Worte der Königin in "Don Carlos": "Noch
nicht die Stunde, wo ich Mutter sein darf?" lauteten bei Emilie:
Schon die Stunde, wo ich Mutter sein soll? Es waren die
Stunden oder vielmehr Minuten, bevor der complicirte Toiletten-
Cultus begann, bevor die Fahrt in den Prater, in's Theater
oder in eine Soir e e angetreten wurde. Flüchtig wurde da die
kleine Cornelia geherzt, noch flüchtiger wurden Amme und Kinds-
frau um Befinden und Gedeihen des gerade nicht kränklichen,
aber in seiner Entwicklung sichtlich zurückgebliebenen, gar zarten
Säuglings befragt.

Aber die beiden Hüterinnen und Pflegerinnen des armreichen
Kindleins überwachten dasselbe mit wahrhaft mütterlichem Auge,
namentlich die Amme. "Du sollst Vater und Mutter verlassen
und deinem Manne folgen." Wie leicht wohl ist dieses biblische
Gebot zu befolgen! Doch die arme Amme muß den Mann
und ihr eigenes Kind verlassen und mit ihrem Blute, der Mutter-
milch, ein fremdes Kind ernähren, und dennoch hängt sie häufig
an dem fremden Kinde mit fast mütterlicher Zärtlichkeit, und
wenn sie ihre Pflicht gethan und gehen kann, ist ihr oft weh zu
Muthe, als sollte sie sich von dem eigenen Kinde trennen.

Und der Vater der kleinen Cornelia? Nun, er liebte sein
Kind gerade nicht mit überströmender Empfindung, aber er hatte
es auch recht lieb; er hatte zwar kein aufmerksames kritisches
Auge dafür, daß es sich gar schwach und sachte, einer zarten
Treibhauspflanze gleich, entwickelte, aber er fand von Zeit zu
Zeit doch Gefallen daran, mit dem niedlichen Sprößling zu
spielen und zu scherzen. Jm Uebrigen war und blieb er der
unermüdlichste galanteste maeitre de plaisir seiner Gattin, die
eine Art Cultus daraus machte, dem Leben fort und fort seine
Lichtseiten abzugewinnen.

[Spaltenumbruch]

Der Frühling kam, und unser elegantes Ehepaar war all-
abendlich mit prächtigem Gefährte im Prater, später in der
Oper und oft bis in die späte Nacht in Gesellschaft zu sehen.
Um die kleine Cornelia aber in Schlaf zu lullen, dazu bedurfte
es zu Hause der verschiedensten Geduld erheischenden Hilfsmittel.
Amme und Boune wiegten sie abwechselnd in den Armen, sie
schaukelten sie unermüdlich in der Wiege, hüllten das Zimmer
in Halbdunkel und sangen dem Kinde die monotonsten und
melancholischesten Eiapopeia=Lieder vergebens oft stundenlang vor.
Der Schlummer wochte sich nicht auf die müden, schlaftrunkenen
Augen des armen Kindes senken, und wenn er endlich durch
allerlei künstliche Mittel der Narkose kam, war er ein unruhiger,
unterbrochener, unerquickender. Das Kind weinte viel, aß wenig
und mit Unlust; nie sah man ein Lächeln in seinem hübschen,
aber überaus schmalen Gesichtchen; es war nicht krank, nicht
hinfällig, aber es wollte durchaus nicht kräftiger werden, gedeihen,
vorwärts kommen.

Der Sommer kam und man zog aufs Land, aber die gute
Luft ebensowenig wie die kräftige Nahrung vermochten die blut-
leeren Wangen der kleinen Cornelia zu röthen, ihre schlaffe Mus-
kulatur zu stärken, ihren matten gebrochenen Augen Glanz zu
verleihen. Und was fataler, bedenklicher, als all dies war, das
Kind wollte nicht die Brust der Amme nehmen; es schrie uud
weinte und verfiel mehr denn je. Der Arzt empfahl eine andere,
von ihm selber als vorzüglich befundene Amme. Als diese kam,
fing ihre Vorgängerin bitterlich zu weinen an; sie wolle jeden
noch so schweren Dienst im Hause verrichten, nur solle man sie
so lange in der Nähe des kranken Kindes lassen, bis es "gesund
und stark geworden." Man gewährte ihre so inständige Bitte.
Aber auch die neue Quelle der Ernährung vermochte das Siech-
thum und eine plötzliche Krisis nicht hintanzuhalten.

An einem heißen Frühmorgen wurde der Arzt aus der
Stadt geholt und er fand unsere kleine Cornelia in wahrhaft
trostlosem Zustande; ein Bild der Cholerine und doch nicht diese
selber. Krämpfe, Zuckungen, Fieber, abgezehrtes, erdfahles Ge-
sichtcheu, eingesunkene, von einem blauen Ringe umgebene Augen-
gruben, kleiner, schneller, kaum fühlb a rer Puls, schmerzliches
Wimmern, heißer Kopf, kalte Extremitäten -- So ein zarter,
kranker Kinderorganismus! Wie da Alles zusammendrängt, ver-
wischt und minutiös ist; wie ein Symptom das andere deckt,
jagt und maskirt; wie Alles so klein, schwach, winzig erscheint
und [unleserliches Material - 5 Zeichen fehlen]daaei doch so stark, heftig, erschrecken -- ein Mikrokosmus
der traurigsten und schwersten zu enträthselnden Art. Die ange-
zeigten Medicamente werden verordnet. Das Papier ist willig,
der Apotheker desgleichen, der Doctor ist von den besten Absichten
beseelt; aber wenn die Natur der Kunst nicht unter die Arme
greift, wenn sie ihre Mithilfeoersagt, wie traurig, wie elend ist
es dann mit dem Arzte und den Arzneien bestellt. Und die Arz-
neien waren in dem gegebenen Falle ein mehr scheinbares Hilfs-
mittel, mehr Formelles, Nebensächliches; die Hauptsache war
und blieb, dem armen und so hinfälligen Nahrung, Blut, Kräfte
zuzuführen. Das Lebensflämmchen hatte eben kein Oel zum
Weiterbrennen; nur schwach und matt flackerte es fort, die kleinste
Störung noch, der leiseste Lufthauch und es ist erloschen.

Es wurde eine dritte, eine vierte Amme genommen -- ver-
gebens, und man schritt nun zur künstlichen Nahrung des Kindes,
zur verdünnten Kuhmilch und Suppe, zum Cacao, zum Fleisch-
extrakt, zu jenen verschiedenen Präparaten und Surrogaten der
Menschenmilch, deren Erzeuger Heil und Segen dem Abnehmer
verkünden, indem sie sich gegenseitig an Zuversicht und Wunder-
thätigkeit überbieten. Alle Sorgfalt, alle Hingebung, Alles schien
vergebens.

Wer aber leitete, wer überwachte die Krankenpflege, wer
wich Tag und Nacht nicht von der Seite des todtkranken Kin-
des, wer legte werkthätig an Alles selber die Hand?

Die Mutter!

War das dieselbe Frau, deren Toilette=Studien ihr halbes
Dasein ausfüllten, die bisher nur zur Freude, nicht zum Schmerz
geboren, deren Liebe zu ihrem Kinde nur die äußersten Gefühls-
sphären zu steifen schien? Ja, es war dieselbe Frau, dieselbe
Mutter. Der Anblick der Leiden, die Sorge um das Leben des
einzigen Kindes hatten eben jene mächtigen Gefühle und Pflich-
ten aufgerüttelt, die in allen besseren Frauenherzen schlummern
und die dann um so gewaltiger erwachen, je mehr sie hintange-
setzt, je mehr sie verleugnet wurden. Aerzte, die nur einige
Beobachtungsgabe haben, sehen in Familien die Dinge unver-
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 170
[Beginn Spaltensatz]
Am Krankenbett eines Kindes.
Das kranke Kind ist das geliebte Kind.
Lessing.

Die Aufzeichnungen, die hier folgen, machen keinerlei An-
spruch auf ärztliches Jnteresse, auf spannende Entwickelung, auf
psychologische Tiefe, wohl aber auf volle, ungeschminkte Wahrheit
des Selbsterlebten.

Der Leser liebt es gewöhnlich, sich eine Situation, eine
Begebenheit durch einen Namen klarer zu versinnlichen, und so
wollen wir denn die Mutter unseres Kindes Emilie heißen.
Emilie war aus angesehener, wohlhabender Familie und verlebte
ihre Jugend heiter, fast zu heiter und sorglos. „Titus der
Gütige“ nannte den Tag einen verlorenen, an dem er nicht
irgend ein wohlthätiges Werk geübt, Emilie den Abend einen
verlorenen, an dem es für sie nicht eine besondere Unterhaltung
gegeben. Es war dies eben häuslicher Stil, altherkömmliche
Gewohnheit, wie sie sich in manchen Familien von Mutter auf
Kind, von Kind auf Kindeskind forterben. Diese unausgesetzte
Reihe fröhlicher Tage endete mit der Verheirathung Emilien's.
Es war eine sogenanute „gute Partie“, eine Vernunftsheirath.

Io sono ricco, tu sei bella!“ Jch bin reich, in schöner
Position, du bist schön, „gebildet“ und aus „guter Familie“ —
wie trefflich passen wir zusammen, welche Bürgschaft für gegen-
seitige Beglückung! Die Herzen haben sich zwar nicht gefunden,
die Liebe, die Neigung haben sie nicht zusammengeführt; aber
Adolph — nennen wir ihn so — lebte in so glänzenden Ver-
hältnissen, daß er sich von nur sehr wenigen Töchtern des Lan-
des einen Korb geholt hätte, geschweige von deren Eltern. Und
in der That war die Ehe eine musterhafte, vielbeneidete. Emilie
schwamm unaufhörlich in einem Meere von Vergnügungen, war
tonangebend für die elegantesten Toiletten, für die geschmack-
vollsten Equipagen, und hatte überhaupt Alles, was nur ihr
Herz begehrte.

Nach drei Jahren wurde Emilie Mutter eines hübschen,
lieblichen, aber ungemein zarten Mädchens. Kleines Mündchen,
große blaue Augen, herzige Grübchen. Eine kräftige Amme
vom Lande war dazu auserwählt, die kleine Cornelia zu stillen;
eine reich erfahrene, mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete
Kindsfrau leitete und überwachte in zwei großen geräumigen
Zimmern die Pflege und Wartung „der Prinzessin“. Die Mutter
hatte das Kind recht lieb; sie koste und putzte es auf, sie fragte
auch zeitweilig nach dem und jenem; aber das reiche Repertoire
ihrer täglichen Zerstreuungen erlitt durch die Regungen der
Muttergefühle und Mutterpflichten kaum eine merkliche Einbuße.
Die rührenden Worte der Königin in „Don Carlos“: „Noch
nicht die Stunde, wo ich Mutter sein darf?“ lauteten bei Emilie:
Schon die Stunde, wo ich Mutter sein soll? Es waren die
Stunden oder vielmehr Minuten, bevor der complicirte Toiletten-
Cultus begann, bevor die Fahrt in den Prater, in's Theater
oder in eine Soir é e angetreten wurde. Flüchtig wurde da die
kleine Cornelia geherzt, noch flüchtiger wurden Amme und Kinds-
frau um Befinden und Gedeihen des gerade nicht kränklichen,
aber in seiner Entwicklung sichtlich zurückgebliebenen, gar zarten
Säuglings befragt.

Aber die beiden Hüterinnen und Pflegerinnen des armreichen
Kindleins überwachten dasselbe mit wahrhaft mütterlichem Auge,
namentlich die Amme. „Du sollst Vater und Mutter verlassen
und deinem Manne folgen.“ Wie leicht wohl ist dieses biblische
Gebot zu befolgen! Doch die arme Amme muß den Mann
und ihr eigenes Kind verlassen und mit ihrem Blute, der Mutter-
milch, ein fremdes Kind ernähren, und dennoch hängt sie häufig
an dem fremden Kinde mit fast mütterlicher Zärtlichkeit, und
wenn sie ihre Pflicht gethan und gehen kann, ist ihr oft weh zu
Muthe, als sollte sie sich von dem eigenen Kinde trennen.

Und der Vater der kleinen Cornelia? Nun, er liebte sein
Kind gerade nicht mit überströmender Empfindung, aber er hatte
es auch recht lieb; er hatte zwar kein aufmerksames kritisches
Auge dafür, daß es sich gar schwach und sachte, einer zarten
Treibhauspflanze gleich, entwickelte, aber er fand von Zeit zu
Zeit doch Gefallen daran, mit dem niedlichen Sprößling zu
spielen und zu scherzen. Jm Uebrigen war und blieb er der
unermüdlichste galanteste maître de plaisir seiner Gattin, die
eine Art Cultus daraus machte, dem Leben fort und fort seine
Lichtseiten abzugewinnen.

[Spaltenumbruch]

Der Frühling kam, und unser elegantes Ehepaar war all-
abendlich mit prächtigem Gefährte im Prater, später in der
Oper und oft bis in die späte Nacht in Gesellschaft zu sehen.
Um die kleine Cornelia aber in Schlaf zu lullen, dazu bedurfte
es zu Hause der verschiedensten Geduld erheischenden Hilfsmittel.
Amme und Boune wiegten sie abwechselnd in den Armen, sie
schaukelten sie unermüdlich in der Wiege, hüllten das Zimmer
in Halbdunkel und sangen dem Kinde die monotonsten und
melancholischesten Eiapopeia=Lieder vergebens oft stundenlang vor.
Der Schlummer wochte sich nicht auf die müden, schlaftrunkenen
Augen des armen Kindes senken, und wenn er endlich durch
allerlei künstliche Mittel der Narkose kam, war er ein unruhiger,
unterbrochener, unerquickender. Das Kind weinte viel, aß wenig
und mit Unlust; nie sah man ein Lächeln in seinem hübschen,
aber überaus schmalen Gesichtchen; es war nicht krank, nicht
hinfällig, aber es wollte durchaus nicht kräftiger werden, gedeihen,
vorwärts kommen.

Der Sommer kam und man zog aufs Land, aber die gute
Luft ebensowenig wie die kräftige Nahrung vermochten die blut-
leeren Wangen der kleinen Cornelia zu röthen, ihre schlaffe Mus-
kulatur zu stärken, ihren matten gebrochenen Augen Glanz zu
verleihen. Und was fataler, bedenklicher, als all dies war, das
Kind wollte nicht die Brust der Amme nehmen; es schrie uud
weinte und verfiel mehr denn je. Der Arzt empfahl eine andere,
von ihm selber als vorzüglich befundene Amme. Als diese kam,
fing ihre Vorgängerin bitterlich zu weinen an; sie wolle jeden
noch so schweren Dienst im Hause verrichten, nur solle man sie
so lange in der Nähe des kranken Kindes lassen, bis es „gesund
und stark geworden.“ Man gewährte ihre so inständige Bitte.
Aber auch die neue Quelle der Ernährung vermochte das Siech-
thum und eine plötzliche Krisis nicht hintanzuhalten.

An einem heißen Frühmorgen wurde der Arzt aus der
Stadt geholt und er fand unsere kleine Cornelia in wahrhaft
trostlosem Zustande; ein Bild der Cholerine und doch nicht diese
selber. Krämpfe, Zuckungen, Fieber, abgezehrtes, erdfahles Ge-
sichtcheu, eingesunkene, von einem blauen Ringe umgebene Augen-
gruben, kleiner, schneller, kaum fühlb a rer Puls, schmerzliches
Wimmern, heißer Kopf, kalte Extremitäten — So ein zarter,
kranker Kinderorganismus! Wie da Alles zusammendrängt, ver-
wischt und minutiös ist; wie ein Symptom das andere deckt,
jagt und maskirt; wie Alles so klein, schwach, winzig erscheint
und [unleserliches Material – 5 Zeichen fehlen]daaei doch so stark, heftig, erschrecken — ein Mikrokosmus
der traurigsten und schwersten zu enträthselnden Art. Die ange-
zeigten Medicamente werden verordnet. Das Papier ist willig,
der Apotheker desgleichen, der Doctor ist von den besten Absichten
beseelt; aber wenn die Natur der Kunst nicht unter die Arme
greift, wenn sie ihre Mithilfeoersagt, wie traurig, wie elend ist
es dann mit dem Arzte und den Arzneien bestellt. Und die Arz-
neien waren in dem gegebenen Falle ein mehr scheinbares Hilfs-
mittel, mehr Formelles, Nebensächliches; die Hauptsache war
und blieb, dem armen und so hinfälligen Nahrung, Blut, Kräfte
zuzuführen. Das Lebensflämmchen hatte eben kein Oel zum
Weiterbrennen; nur schwach und matt flackerte es fort, die kleinste
Störung noch, der leiseste Lufthauch und es ist erloschen.

Es wurde eine dritte, eine vierte Amme genommen — ver-
gebens, und man schritt nun zur künstlichen Nahrung des Kindes,
zur verdünnten Kuhmilch und Suppe, zum Cacao, zum Fleisch-
extrakt, zu jenen verschiedenen Präparaten und Surrogaten der
Menschenmilch, deren Erzeuger Heil und Segen dem Abnehmer
verkünden, indem sie sich gegenseitig an Zuversicht und Wunder-
thätigkeit überbieten. Alle Sorgfalt, alle Hingebung, Alles schien
vergebens.

Wer aber leitete, wer überwachte die Krankenpflege, wer
wich Tag und Nacht nicht von der Seite des todtkranken Kin-
des, wer legte werkthätig an Alles selber die Hand?

Die Mutter!

War das dieselbe Frau, deren Toilette=Studien ihr halbes
Dasein ausfüllten, die bisher nur zur Freude, nicht zum Schmerz
geboren, deren Liebe zu ihrem Kinde nur die äußersten Gefühls-
sphären zu steifen schien? Ja, es war dieselbe Frau, dieselbe
Mutter. Der Anblick der Leiden, die Sorge um das Leben des
einzigen Kindes hatten eben jene mächtigen Gefühle und Pflich-
ten aufgerüttelt, die in allen besseren Frauenherzen schlummern
und die dann um so gewaltiger erwachen, je mehr sie hintange-
setzt, je mehr sie verleugnet wurden. Aerzte, die nur einige
Beobachtungsgabe haben, sehen in Familien die Dinge unver-
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[170/0006] Zur Unterhaltung und Belehrung. 170 Am Krankenbett eines Kindes. Das kranke Kind ist das geliebte Kind. Lessing. Die Aufzeichnungen, die hier folgen, machen keinerlei An- spruch auf ärztliches Jnteresse, auf spannende Entwickelung, auf psychologische Tiefe, wohl aber auf volle, ungeschminkte Wahrheit des Selbsterlebten. Der Leser liebt es gewöhnlich, sich eine Situation, eine Begebenheit durch einen Namen klarer zu versinnlichen, und so wollen wir denn die Mutter unseres Kindes Emilie heißen. Emilie war aus angesehener, wohlhabender Familie und verlebte ihre Jugend heiter, fast zu heiter und sorglos. „Titus der Gütige“ nannte den Tag einen verlorenen, an dem er nicht irgend ein wohlthätiges Werk geübt, Emilie den Abend einen verlorenen, an dem es für sie nicht eine besondere Unterhaltung gegeben. Es war dies eben häuslicher Stil, altherkömmliche Gewohnheit, wie sie sich in manchen Familien von Mutter auf Kind, von Kind auf Kindeskind forterben. Diese unausgesetzte Reihe fröhlicher Tage endete mit der Verheirathung Emilien's. Es war eine sogenanute „gute Partie“, eine Vernunftsheirath. „ Io sono ricco, tu sei bella!“ Jch bin reich, in schöner Position, du bist schön, „gebildet“ und aus „guter Familie“ — wie trefflich passen wir zusammen, welche Bürgschaft für gegen- seitige Beglückung! Die Herzen haben sich zwar nicht gefunden, die Liebe, die Neigung haben sie nicht zusammengeführt; aber Adolph — nennen wir ihn so — lebte in so glänzenden Ver- hältnissen, daß er sich von nur sehr wenigen Töchtern des Lan- des einen Korb geholt hätte, geschweige von deren Eltern. Und in der That war die Ehe eine musterhafte, vielbeneidete. Emilie schwamm unaufhörlich in einem Meere von Vergnügungen, war tonangebend für die elegantesten Toiletten, für die geschmack- vollsten Equipagen, und hatte überhaupt Alles, was nur ihr Herz begehrte. Nach drei Jahren wurde Emilie Mutter eines hübschen, lieblichen, aber ungemein zarten Mädchens. Kleines Mündchen, große blaue Augen, herzige Grübchen. Eine kräftige Amme vom Lande war dazu auserwählt, die kleine Cornelia zu stillen; eine reich erfahrene, mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete Kindsfrau leitete und überwachte in zwei großen geräumigen Zimmern die Pflege und Wartung „der Prinzessin“. Die Mutter hatte das Kind recht lieb; sie koste und putzte es auf, sie fragte auch zeitweilig nach dem und jenem; aber das reiche Repertoire ihrer täglichen Zerstreuungen erlitt durch die Regungen der Muttergefühle und Mutterpflichten kaum eine merkliche Einbuße. Die rührenden Worte der Königin in „Don Carlos“: „Noch nicht die Stunde, wo ich Mutter sein darf?“ lauteten bei Emilie: Schon die Stunde, wo ich Mutter sein soll? Es waren die Stunden oder vielmehr Minuten, bevor der complicirte Toiletten- Cultus begann, bevor die Fahrt in den Prater, in's Theater oder in eine Soir é e angetreten wurde. Flüchtig wurde da die kleine Cornelia geherzt, noch flüchtiger wurden Amme und Kinds- frau um Befinden und Gedeihen des gerade nicht kränklichen, aber in seiner Entwicklung sichtlich zurückgebliebenen, gar zarten Säuglings befragt. Aber die beiden Hüterinnen und Pflegerinnen des armreichen Kindleins überwachten dasselbe mit wahrhaft mütterlichem Auge, namentlich die Amme. „Du sollst Vater und Mutter verlassen und deinem Manne folgen.“ Wie leicht wohl ist dieses biblische Gebot zu befolgen! Doch die arme Amme muß den Mann und ihr eigenes Kind verlassen und mit ihrem Blute, der Mutter- milch, ein fremdes Kind ernähren, und dennoch hängt sie häufig an dem fremden Kinde mit fast mütterlicher Zärtlichkeit, und wenn sie ihre Pflicht gethan und gehen kann, ist ihr oft weh zu Muthe, als sollte sie sich von dem eigenen Kinde trennen. Und der Vater der kleinen Cornelia? Nun, er liebte sein Kind gerade nicht mit überströmender Empfindung, aber er hatte es auch recht lieb; er hatte zwar kein aufmerksames kritisches Auge dafür, daß es sich gar schwach und sachte, einer zarten Treibhauspflanze gleich, entwickelte, aber er fand von Zeit zu Zeit doch Gefallen daran, mit dem niedlichen Sprößling zu spielen und zu scherzen. Jm Uebrigen war und blieb er der unermüdlichste galanteste maître de plaisir seiner Gattin, die eine Art Cultus daraus machte, dem Leben fort und fort seine Lichtseiten abzugewinnen. Der Frühling kam, und unser elegantes Ehepaar war all- abendlich mit prächtigem Gefährte im Prater, später in der Oper und oft bis in die späte Nacht in Gesellschaft zu sehen. Um die kleine Cornelia aber in Schlaf zu lullen, dazu bedurfte es zu Hause der verschiedensten Geduld erheischenden Hilfsmittel. Amme und Boune wiegten sie abwechselnd in den Armen, sie schaukelten sie unermüdlich in der Wiege, hüllten das Zimmer in Halbdunkel und sangen dem Kinde die monotonsten und melancholischesten Eiapopeia=Lieder vergebens oft stundenlang vor. Der Schlummer wochte sich nicht auf die müden, schlaftrunkenen Augen des armen Kindes senken, und wenn er endlich durch allerlei künstliche Mittel der Narkose kam, war er ein unruhiger, unterbrochener, unerquickender. Das Kind weinte viel, aß wenig und mit Unlust; nie sah man ein Lächeln in seinem hübschen, aber überaus schmalen Gesichtchen; es war nicht krank, nicht hinfällig, aber es wollte durchaus nicht kräftiger werden, gedeihen, vorwärts kommen. Der Sommer kam und man zog aufs Land, aber die gute Luft ebensowenig wie die kräftige Nahrung vermochten die blut- leeren Wangen der kleinen Cornelia zu röthen, ihre schlaffe Mus- kulatur zu stärken, ihren matten gebrochenen Augen Glanz zu verleihen. Und was fataler, bedenklicher, als all dies war, das Kind wollte nicht die Brust der Amme nehmen; es schrie uud weinte und verfiel mehr denn je. Der Arzt empfahl eine andere, von ihm selber als vorzüglich befundene Amme. Als diese kam, fing ihre Vorgängerin bitterlich zu weinen an; sie wolle jeden noch so schweren Dienst im Hause verrichten, nur solle man sie so lange in der Nähe des kranken Kindes lassen, bis es „gesund und stark geworden.“ Man gewährte ihre so inständige Bitte. Aber auch die neue Quelle der Ernährung vermochte das Siech- thum und eine plötzliche Krisis nicht hintanzuhalten. An einem heißen Frühmorgen wurde der Arzt aus der Stadt geholt und er fand unsere kleine Cornelia in wahrhaft trostlosem Zustande; ein Bild der Cholerine und doch nicht diese selber. Krämpfe, Zuckungen, Fieber, abgezehrtes, erdfahles Ge- sichtcheu, eingesunkene, von einem blauen Ringe umgebene Augen- gruben, kleiner, schneller, kaum fühlb a rer Puls, schmerzliches Wimmern, heißer Kopf, kalte Extremitäten — So ein zarter, kranker Kinderorganismus! Wie da Alles zusammendrängt, ver- wischt und minutiös ist; wie ein Symptom das andere deckt, jagt und maskirt; wie Alles so klein, schwach, winzig erscheint und _____daaei doch so stark, heftig, erschrecken — ein Mikrokosmus der traurigsten und schwersten zu enträthselnden Art. Die ange- zeigten Medicamente werden verordnet. Das Papier ist willig, der Apotheker desgleichen, der Doctor ist von den besten Absichten beseelt; aber wenn die Natur der Kunst nicht unter die Arme greift, wenn sie ihre Mithilfeoersagt, wie traurig, wie elend ist es dann mit dem Arzte und den Arzneien bestellt. Und die Arz- neien waren in dem gegebenen Falle ein mehr scheinbares Hilfs- mittel, mehr Formelles, Nebensächliches; die Hauptsache war und blieb, dem armen und so hinfälligen Nahrung, Blut, Kräfte zuzuführen. Das Lebensflämmchen hatte eben kein Oel zum Weiterbrennen; nur schwach und matt flackerte es fort, die kleinste Störung noch, der leiseste Lufthauch und es ist erloschen. Es wurde eine dritte, eine vierte Amme genommen — ver- gebens, und man schritt nun zur künstlichen Nahrung des Kindes, zur verdünnten Kuhmilch und Suppe, zum Cacao, zum Fleisch- extrakt, zu jenen verschiedenen Präparaten und Surrogaten der Menschenmilch, deren Erzeuger Heil und Segen dem Abnehmer verkünden, indem sie sich gegenseitig an Zuversicht und Wunder- thätigkeit überbieten. Alle Sorgfalt, alle Hingebung, Alles schien vergebens. Wer aber leitete, wer überwachte die Krankenpflege, wer wich Tag und Nacht nicht von der Seite des todtkranken Kin- des, wer legte werkthätig an Alles selber die Hand? Die Mutter! War das dieselbe Frau, deren Toilette=Studien ihr halbes Dasein ausfüllten, die bisher nur zur Freude, nicht zum Schmerz geboren, deren Liebe zu ihrem Kinde nur die äußersten Gefühls- sphären zu steifen schien? Ja, es war dieselbe Frau, dieselbe Mutter. Der Anblick der Leiden, die Sorge um das Leben des einzigen Kindes hatten eben jene mächtigen Gefühle und Pflich- ten aufgerüttelt, die in allen besseren Frauenherzen schlummern und die dann um so gewaltiger erwachen, je mehr sie hintange- setzt, je mehr sie verleugnet wurden. Aerzte, die nur einige Beobachtungsgabe haben, sehen in Familien die Dinge unver-

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 7. Lieferung, Nr. 3. Berlin, 18. Juli 1874, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0703_1874/6>, abgerufen am 23.11.2024.