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Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 68
[Beginn Spaltensatz] voll und unter Flüchen; die Verzweifelndsten beschließen, auf ihrem
Posten zu bleiben und zu sterben, da die Niederlage dem Kampfe
vorhergegangen war.

Dennoch ist es gelungen, in dieser ungeheuren Verwirrung
sechs Mittelpunkte des Handelns zu bilden, welche freilich in
keinem Zusammenhang mit einander stehen: einen in den Vierteln
St. Jean, St. Paul und St. Georges; einen im Viertel der
Cordeliers; einen in der Straße Neyret und den benachbarten
Straßen; einen im Gehege Casaty, welches zwischen der Grand
C o te und der C o te St. Sebastien liegt; einen in der Croix-
Rousse und endlich einen in la Guillotiere.

Das Gewehrfeuer dauerte fort, und auf verschiedenen Punk-
ten kam es zum Gefecht. Einige Jnsurgenten verbarrikadirten
den Pont du Change, und vier gegen sie abgesendete Kompag-
nien wurden zum Rückzuge gezwungen. Jn der Straße St.
Pierre=le=Vieux wurde von einem Hause herab auf die Truppen
geschossen; eine Petarde sprengt dasselbe in die Luft. Die von
einer kleinen Zahl von Jnsurgenten bedrohte Präfektur wird bald
befreit, und die Soldaten treiben die Jnsurrektion bis zum Ein-
gange der Rue Merciere und der Passage de l'Argue zurück.
Hier wenden sich die Republikaner wieder um. Jm Besitze der
Passage halten sie den Angriff einige Zeit aus. Aber eine mit
Kartätschen geladene Kanone rückt vor. Der Schuß geht los.
Die Fenster werden zertrümmert, die Kronleuchter zerschmettert,
die Läden zerstört. Nachdem die Passage so frei gemacht worden
war, stürzen die Soldaten in dieselbe. Am Ende der Gallerie
ist eine Barrikade errichtet; sie wird hartuäckig vertheidigt. End-
lich werden die Jnsurgenten zurückgeschlagen. Es waren nur
sechs. Während dieser Zeit dringen die Truppen in die beiden
Straßen Merciere, und sie bewerkstelligen eine feste Verbindung
zwischen dem Platze Belleconrt und dem Platze des Terreaux,
nachdem sie ein Haus in der Rue de l'Hopital in die Luft ge-
sprengt haben; der Wind treibt die Flammen weiter, und es
entsteht hier eine heftige Feuersbrunst.

Der Tag näherte sich dem Ende. Schweigen war auf die
Stadt herniedergestiegen, ein düstres und schrecklicheres Schweigen
als der Tumult. Die Bewohner der dem Feuer ausgesetzten
Viertel, welche in ihren Häusern eingeschlossen sind, leben in
schmerzlicher Unkenntniß dessen, was sie umgiebt, und dessen, was
ihrer wartet. Die Nacht kam; sie war nur eine Pause im
Bürgerkriege.

Am folgenden Tage, dem 10. April 1834, waren die ersten
Stunden des Tages ziemlich ruhig, aber kaum hatte der Kampf
begonnen, so wurde er auch wüthend. Welcher Tag! Die Sol-
daten besetzten alle Hauptlinien, füllten die Forts, bedeckten fast
alle Plätze, standen dicht gedrängt auf allen Brücken; und mit
ihren Kanonen und ihren Flinten, welche alle nach den Straßen
gerichtet waren, die zu den beiden Flüssen führen, machten sie es
dem Volk unmöglich, sich den Quais zu nähern, wo nur noch
leichenhafte Stille herrschte, und wo man seit dem vorigen Tage
keine andre Spur vom Volke mehr bemerkte, als lange Blut-
streifen. Die Artillerie donnerte in Lyon wie auf einem Schlacht-
felde; die Granaten flogen nach allen Richtungen und verbreiteten
Feuersbrünste.

Dennoch gewann die Jnsurrektion an diesem Tage Terrain.
Sie schlängelte sich längs der Höhen hin, deren Abhang die
Saone benetzt, brach auch fast auf allen Punkten zugleich aus
und umzingelte die Stadt. Die Vorstadt Vaise hatte sich schon
in Bewegung gesetzt. Die Kaserne der Bernardiner setzte aber
ihre drohende Fronte den beweglichen Befestigungen in der Croix-
Rousse entgegen. Andrerseits durchzogen Banden von Jnsurgen-
ten la Guillotiere und regten dieselbe auf. Bei den Barfüßlern
und in St. Nizier läutete die Sturmglocke. Die schwarze Fahne
wehte auf der Kirche von St. Polycarpe. Aber nun entfaltet
sich ein furchtbares Schauspiel. Petarden sprengen die Häuser
in die Luft, deren Fenster mit Jnsurgenten besetzt sind, die
Barrikaden werden mit Kanonenschüssen angegriffen und umge-
stürzt. Bomben regnen auf die Vorstadt la Guillotiere herab,
und in dem Viertel, welches ihren Verwüstungen preisgegeben ist,
sieht man Unglückliche auf den Dächern hinklettern, um dem sich
nähernden Gewehrfeuer und dem Brande ihrer Wohnungen zu
entgehen. Jm Herzen der Stadt ist der Jammer eben so groß.
Jn der Umgebung des Rathhauses verfolgen sich Soldaten und
Jnsurgenten mit Flintenschüssen auf den Dächern der Häuser.
Weiterhin stürzen die beiden Pavillons der Brücke Lafayette, die
einen Augenblick in die Hände der Jnsurgenten gerathen waren,
unter den Kugeln zusammen, und ein Heukahn, den eine Gra-
[Spaltenumbruch] nate in Brand gesteckt hat, fährt brennend die Saone hinab,
stoßt gegen die Brücke von Chazourne und zerstört drei Bogen
derselben bei seiner Durchfahrt.

Die Armee zeigt sich unversöhnlich. Die Soldaten haben
den Befehl erhalten, die krummen Straßen zu vermeiden, schritt-
weise vorzurücken, zwischen sich und den Jnsurgenten immer die
Länge einer Straße zu lassen und jeder Barrikade eine andere
entgegenzustellen; mochte man nun, wie einige glaubten, den
Kampf zu verlängern suchen, um den Triumph zu vergrößern,
oder mochten die militairischen Anführer Furcht vor der Jnsur-
rektion haben.

Die Arbeiter fochten gleich Helden, denn die Zahl der Be-
waffneten war sehr klein. Zerstreut in Gruppen von 10, 20,
30 Mann, befehligt von Anführern, wie sie ihnen gerade in den
Weg kamen, ohne Verbindung unter einander, ohne festen Plan
und zum größten Theile nur mit Säbeln und Pistolen bewaff-
net, konnten sie ihre Kraft nur aus ihrer Kühnheit, und ihre
Kühnheit nur aus der Größe der Gefahr schöpfen.

Nur auf einem Punkte hatte die Jnsurrektion eine günstige
Stellung inne, und zwar im Mittelpunkte der Stadt auf dem
Platze der Barfüßler. Die Republikaner hatten sich der Kirche
bemächtigt und dieselbe zu ihrem Hauptquartier gemacht; sie um-
gaben sie mit Barrikaden. Es läßt sich nichts Rührenderes und
Seltsameres denken, als der Anblick dieses Tempels, welcher der Sitz
einer verzweifelten Empörung geworden war. Jn einem der
Schiffe waren Arbeiter beschäftigt, Pulver zu fabriziren, während
andere um ein großes Feuer gelagert waren und Kugeln gossen.
Eine Kapelle war in ein Lazareth umgewandelt worden. Man
brachte die Verwundeten hierher, deren Leiden fromme Priester zu
mildern suchten, und denen ein junges Mädchen, welches die
Liebe hieher geführt hatte, ihre Pflege angedeihen ließ. Hier be-
fehligte ein Mann von hohem Wuchse, schwarzem Auge, kräftigem
und stolzem Gesichte. Sein Name war Lagrange. Und nie
übte ein Anführer eine unbedingtere Herrschaft. Schnell bereit,
alle Gefahren abzuwenden, eilte er von Barrikade zu Barrikade,
feuerte seine Gefährten mit Worten und Geberden an, schickte
Posten aus und ließ sie ablösen, sendete Verstärkungen nach den
bedrohten Punkten und gewährte selbst dem Viertel, in welchem
ihm der Bürgerkrieg seinen Posten angewiesen hatte, einen groß-
müthigen Schutz. Ein Polizeiagent, Namens Corseys, hatte sich
unter die Jnsurgenten eingeschlichen. Man entdeckte ihn und
wollte ihn erschießen. Lagrange widersetzt sich; da werden Worte
des Verdachts gegen ihn laut, man ruft: "Er ist ein Verräther!"
Lagrange richtet sich stolz auf, steigt über die Barrikade hinüber,
so daß er ganz ungedeckt ist, und schreitet langsam an der ganzen
Front der Truppen vorüber; er hält eine Salve aus, die ihn
nicht trifft, und kehrt dann, freigesprochen durch seinen Muth,
zurück. Ein solcher Geist beseelte die Jnsurrektion. Carrier und
Gauthier in der Croix=Rousse, Reverchon in Vaise, Despinasse
in la Guillotiere, überhaupt Alle ehrten die Sache, die sie mit
Gefahr ihres Lebens vertheidigten, durch ihre Haltung.

Jndeß dauerte der Kampf fort; der Sieg schwankte und das
Blutvergießen wuchs von Stunde zu Stunde. Die Bourgeois
zitterten und aus Furcht vor der Rache des Volkes veranstalteten
sie in einigen Vierteln öffentliche Sammlungen, indem sie mit
kläglicher Stimme riefen: "Brot für die armen Arbeiter!" Da-
gegen ist in der Nähe der Truppen Alles vereinsamt, und wenn
das Gewehrfeuer plötzlich aufhört, wenn das ferne Sturmläuten
unterbrochen wird, wenn die Munitionskasten einen Augenblick
nicht auf den Straßen rollen, so tritt Schweigen des Todes,
schreckliches Schweigen ein. Kein Laut dringt aus den ver-
schlossenen und stummen Häusern; denn durch jedes geöffnete
Fenster bahnt sich der Tod einen Weg. Die Circulation ist un-
bedingt verboten worden, eine äußerste Maßregel, welche jeden
Vorübergehenden zu einem Empörer macht; wer die Thüre seines
Hauses überschreitet, wird ein Zielpunkt für die Soldaten.
Frauen, Kinder, Greise werden ohne Erbarmen an den Ecken
der Straßen getödtet. Eine Kugel warf einen Bruder auf den
Leichnam seines Bruders nieder, als er diesen aufheben wollte.
Bald bot das Jnnere der Häuser einen so traurigen Anblick wie
die Straßen. Jn den einen hatte man kein Brot; in andern
zitterte man für das Leben eines abwesenden Vaters und Gatten,
der vielleicht getödtet war, und den man nicht einmal unter den
Schlachtopfern aufsuchen konnte; in noch andern seufzten endlich
Kranke, die keine Hülfe fanden.

Der Schrecken war grenzenlos, und in manchen Vierteln
war die Wuth der Soldaten bestialisch.

[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 68
[Beginn Spaltensatz] voll und unter Flüchen; die Verzweifelndsten beschließen, auf ihrem
Posten zu bleiben und zu sterben, da die Niederlage dem Kampfe
vorhergegangen war.

Dennoch ist es gelungen, in dieser ungeheuren Verwirrung
sechs Mittelpunkte des Handelns zu bilden, welche freilich in
keinem Zusammenhang mit einander stehen: einen in den Vierteln
St. Jean, St. Paul und St. Georges; einen im Viertel der
Cordeliers; einen in der Straße Neyret und den benachbarten
Straßen; einen im Gehege Casaty, welches zwischen der Grand
C ô te und der C ô te St. Sebastien liegt; einen in der Croix-
Rousse und endlich einen in la Guillotiere.

Das Gewehrfeuer dauerte fort, und auf verschiedenen Punk-
ten kam es zum Gefecht. Einige Jnsurgenten verbarrikadirten
den Pont du Change, und vier gegen sie abgesendete Kompag-
nien wurden zum Rückzuge gezwungen. Jn der Straße St.
Pierre=le=Vieux wurde von einem Hause herab auf die Truppen
geschossen; eine Petarde sprengt dasselbe in die Luft. Die von
einer kleinen Zahl von Jnsurgenten bedrohte Präfektur wird bald
befreit, und die Soldaten treiben die Jnsurrektion bis zum Ein-
gange der Rue Merciere und der Passage de l'Argue zurück.
Hier wenden sich die Republikaner wieder um. Jm Besitze der
Passage halten sie den Angriff einige Zeit aus. Aber eine mit
Kartätschen geladene Kanone rückt vor. Der Schuß geht los.
Die Fenster werden zertrümmert, die Kronleuchter zerschmettert,
die Läden zerstört. Nachdem die Passage so frei gemacht worden
war, stürzen die Soldaten in dieselbe. Am Ende der Gallerie
ist eine Barrikade errichtet; sie wird hartuäckig vertheidigt. End-
lich werden die Jnsurgenten zurückgeschlagen. Es waren nur
sechs. Während dieser Zeit dringen die Truppen in die beiden
Straßen Merciere, und sie bewerkstelligen eine feste Verbindung
zwischen dem Platze Belleconrt und dem Platze des Terreaux,
nachdem sie ein Haus in der Rue de l'Hopital in die Luft ge-
sprengt haben; der Wind treibt die Flammen weiter, und es
entsteht hier eine heftige Feuersbrunst.

Der Tag näherte sich dem Ende. Schweigen war auf die
Stadt herniedergestiegen, ein düstres und schrecklicheres Schweigen
als der Tumult. Die Bewohner der dem Feuer ausgesetzten
Viertel, welche in ihren Häusern eingeschlossen sind, leben in
schmerzlicher Unkenntniß dessen, was sie umgiebt, und dessen, was
ihrer wartet. Die Nacht kam; sie war nur eine Pause im
Bürgerkriege.

Am folgenden Tage, dem 10. April 1834, waren die ersten
Stunden des Tages ziemlich ruhig, aber kaum hatte der Kampf
begonnen, so wurde er auch wüthend. Welcher Tag! Die Sol-
daten besetzten alle Hauptlinien, füllten die Forts, bedeckten fast
alle Plätze, standen dicht gedrängt auf allen Brücken; und mit
ihren Kanonen und ihren Flinten, welche alle nach den Straßen
gerichtet waren, die zu den beiden Flüssen führen, machten sie es
dem Volk unmöglich, sich den Quais zu nähern, wo nur noch
leichenhafte Stille herrschte, und wo man seit dem vorigen Tage
keine andre Spur vom Volke mehr bemerkte, als lange Blut-
streifen. Die Artillerie donnerte in Lyon wie auf einem Schlacht-
felde; die Granaten flogen nach allen Richtungen und verbreiteten
Feuersbrünste.

Dennoch gewann die Jnsurrektion an diesem Tage Terrain.
Sie schlängelte sich längs der Höhen hin, deren Abhang die
Saone benetzt, brach auch fast auf allen Punkten zugleich aus
und umzingelte die Stadt. Die Vorstadt Vaise hatte sich schon
in Bewegung gesetzt. Die Kaserne der Bernardiner setzte aber
ihre drohende Fronte den beweglichen Befestigungen in der Croix-
Rousse entgegen. Andrerseits durchzogen Banden von Jnsurgen-
ten la Guillotiere und regten dieselbe auf. Bei den Barfüßlern
und in St. Nizier läutete die Sturmglocke. Die schwarze Fahne
wehte auf der Kirche von St. Polycarpe. Aber nun entfaltet
sich ein furchtbares Schauspiel. Petarden sprengen die Häuser
in die Luft, deren Fenster mit Jnsurgenten besetzt sind, die
Barrikaden werden mit Kanonenschüssen angegriffen und umge-
stürzt. Bomben regnen auf die Vorstadt la Guillotiere herab,
und in dem Viertel, welches ihren Verwüstungen preisgegeben ist,
sieht man Unglückliche auf den Dächern hinklettern, um dem sich
nähernden Gewehrfeuer und dem Brande ihrer Wohnungen zu
entgehen. Jm Herzen der Stadt ist der Jammer eben so groß.
Jn der Umgebung des Rathhauses verfolgen sich Soldaten und
Jnsurgenten mit Flintenschüssen auf den Dächern der Häuser.
Weiterhin stürzen die beiden Pavillons der Brücke Lafayette, die
einen Augenblick in die Hände der Jnsurgenten gerathen waren,
unter den Kugeln zusammen, und ein Heukahn, den eine Gra-
[Spaltenumbruch] nate in Brand gesteckt hat, fährt brennend die Saone hinab,
stoßt gegen die Brücke von Chazourne und zerstört drei Bogen
derselben bei seiner Durchfahrt.

Die Armee zeigt sich unversöhnlich. Die Soldaten haben
den Befehl erhalten, die krummen Straßen zu vermeiden, schritt-
weise vorzurücken, zwischen sich und den Jnsurgenten immer die
Länge einer Straße zu lassen und jeder Barrikade eine andere
entgegenzustellen; mochte man nun, wie einige glaubten, den
Kampf zu verlängern suchen, um den Triumph zu vergrößern,
oder mochten die militairischen Anführer Furcht vor der Jnsur-
rektion haben.

Die Arbeiter fochten gleich Helden, denn die Zahl der Be-
waffneten war sehr klein. Zerstreut in Gruppen von 10, 20,
30 Mann, befehligt von Anführern, wie sie ihnen gerade in den
Weg kamen, ohne Verbindung unter einander, ohne festen Plan
und zum größten Theile nur mit Säbeln und Pistolen bewaff-
net, konnten sie ihre Kraft nur aus ihrer Kühnheit, und ihre
Kühnheit nur aus der Größe der Gefahr schöpfen.

Nur auf einem Punkte hatte die Jnsurrektion eine günstige
Stellung inne, und zwar im Mittelpunkte der Stadt auf dem
Platze der Barfüßler. Die Republikaner hatten sich der Kirche
bemächtigt und dieselbe zu ihrem Hauptquartier gemacht; sie um-
gaben sie mit Barrikaden. Es läßt sich nichts Rührenderes und
Seltsameres denken, als der Anblick dieses Tempels, welcher der Sitz
einer verzweifelten Empörung geworden war. Jn einem der
Schiffe waren Arbeiter beschäftigt, Pulver zu fabriziren, während
andere um ein großes Feuer gelagert waren und Kugeln gossen.
Eine Kapelle war in ein Lazareth umgewandelt worden. Man
brachte die Verwundeten hierher, deren Leiden fromme Priester zu
mildern suchten, und denen ein junges Mädchen, welches die
Liebe hieher geführt hatte, ihre Pflege angedeihen ließ. Hier be-
fehligte ein Mann von hohem Wuchse, schwarzem Auge, kräftigem
und stolzem Gesichte. Sein Name war Lagrange. Und nie
übte ein Anführer eine unbedingtere Herrschaft. Schnell bereit,
alle Gefahren abzuwenden, eilte er von Barrikade zu Barrikade,
feuerte seine Gefährten mit Worten und Geberden an, schickte
Posten aus und ließ sie ablösen, sendete Verstärkungen nach den
bedrohten Punkten und gewährte selbst dem Viertel, in welchem
ihm der Bürgerkrieg seinen Posten angewiesen hatte, einen groß-
müthigen Schutz. Ein Polizeiagent, Namens Corseys, hatte sich
unter die Jnsurgenten eingeschlichen. Man entdeckte ihn und
wollte ihn erschießen. Lagrange widersetzt sich; da werden Worte
des Verdachts gegen ihn laut, man ruft: „Er ist ein Verräther!“
Lagrange richtet sich stolz auf, steigt über die Barrikade hinüber,
so daß er ganz ungedeckt ist, und schreitet langsam an der ganzen
Front der Truppen vorüber; er hält eine Salve aus, die ihn
nicht trifft, und kehrt dann, freigesprochen durch seinen Muth,
zurück. Ein solcher Geist beseelte die Jnsurrektion. Carrier und
Gauthier in der Croix=Rousse, Reverchon in Vaise, Despinasse
in la Guillotiere, überhaupt Alle ehrten die Sache, die sie mit
Gefahr ihres Lebens vertheidigten, durch ihre Haltung.

Jndeß dauerte der Kampf fort; der Sieg schwankte und das
Blutvergießen wuchs von Stunde zu Stunde. Die Bourgeois
zitterten und aus Furcht vor der Rache des Volkes veranstalteten
sie in einigen Vierteln öffentliche Sammlungen, indem sie mit
kläglicher Stimme riefen: „Brot für die armen Arbeiter!“ Da-
gegen ist in der Nähe der Truppen Alles vereinsamt, und wenn
das Gewehrfeuer plötzlich aufhört, wenn das ferne Sturmläuten
unterbrochen wird, wenn die Munitionskasten einen Augenblick
nicht auf den Straßen rollen, so tritt Schweigen des Todes,
schreckliches Schweigen ein. Kein Laut dringt aus den ver-
schlossenen und stummen Häusern; denn durch jedes geöffnete
Fenster bahnt sich der Tod einen Weg. Die Circulation ist un-
bedingt verboten worden, eine äußerste Maßregel, welche jeden
Vorübergehenden zu einem Empörer macht; wer die Thüre seines
Hauses überschreitet, wird ein Zielpunkt für die Soldaten.
Frauen, Kinder, Greise werden ohne Erbarmen an den Ecken
der Straßen getödtet. Eine Kugel warf einen Bruder auf den
Leichnam seines Bruders nieder, als er diesen aufheben wollte.
Bald bot das Jnnere der Häuser einen so traurigen Anblick wie
die Straßen. Jn den einen hatte man kein Brot; in andern
zitterte man für das Leben eines abwesenden Vaters und Gatten,
der vielleicht getödtet war, und den man nicht einmal unter den
Schlachtopfern aufsuchen konnte; in noch andern seufzten endlich
Kranke, die keine Hülfe fanden.

Der Schrecken war grenzenlos, und in manchen Vierteln
war die Wuth der Soldaten bestialisch.

[Ende Spaltensatz]
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[68/0020] Zur Unterhaltung und Belehrung. 68 voll und unter Flüchen; die Verzweifelndsten beschließen, auf ihrem Posten zu bleiben und zu sterben, da die Niederlage dem Kampfe vorhergegangen war. Dennoch ist es gelungen, in dieser ungeheuren Verwirrung sechs Mittelpunkte des Handelns zu bilden, welche freilich in keinem Zusammenhang mit einander stehen: einen in den Vierteln St. Jean, St. Paul und St. Georges; einen im Viertel der Cordeliers; einen in der Straße Neyret und den benachbarten Straßen; einen im Gehege Casaty, welches zwischen der Grand C ô te und der C ô te St. Sebastien liegt; einen in der Croix- Rousse und endlich einen in la Guillotiere. Das Gewehrfeuer dauerte fort, und auf verschiedenen Punk- ten kam es zum Gefecht. Einige Jnsurgenten verbarrikadirten den Pont du Change, und vier gegen sie abgesendete Kompag- nien wurden zum Rückzuge gezwungen. Jn der Straße St. Pierre=le=Vieux wurde von einem Hause herab auf die Truppen geschossen; eine Petarde sprengt dasselbe in die Luft. Die von einer kleinen Zahl von Jnsurgenten bedrohte Präfektur wird bald befreit, und die Soldaten treiben die Jnsurrektion bis zum Ein- gange der Rue Merciere und der Passage de l'Argue zurück. Hier wenden sich die Republikaner wieder um. Jm Besitze der Passage halten sie den Angriff einige Zeit aus. Aber eine mit Kartätschen geladene Kanone rückt vor. Der Schuß geht los. Die Fenster werden zertrümmert, die Kronleuchter zerschmettert, die Läden zerstört. Nachdem die Passage so frei gemacht worden war, stürzen die Soldaten in dieselbe. Am Ende der Gallerie ist eine Barrikade errichtet; sie wird hartuäckig vertheidigt. End- lich werden die Jnsurgenten zurückgeschlagen. Es waren nur sechs. Während dieser Zeit dringen die Truppen in die beiden Straßen Merciere, und sie bewerkstelligen eine feste Verbindung zwischen dem Platze Belleconrt und dem Platze des Terreaux, nachdem sie ein Haus in der Rue de l'Hopital in die Luft ge- sprengt haben; der Wind treibt die Flammen weiter, und es entsteht hier eine heftige Feuersbrunst. Der Tag näherte sich dem Ende. Schweigen war auf die Stadt herniedergestiegen, ein düstres und schrecklicheres Schweigen als der Tumult. Die Bewohner der dem Feuer ausgesetzten Viertel, welche in ihren Häusern eingeschlossen sind, leben in schmerzlicher Unkenntniß dessen, was sie umgiebt, und dessen, was ihrer wartet. Die Nacht kam; sie war nur eine Pause im Bürgerkriege. Am folgenden Tage, dem 10. April 1834, waren die ersten Stunden des Tages ziemlich ruhig, aber kaum hatte der Kampf begonnen, so wurde er auch wüthend. Welcher Tag! Die Sol- daten besetzten alle Hauptlinien, füllten die Forts, bedeckten fast alle Plätze, standen dicht gedrängt auf allen Brücken; und mit ihren Kanonen und ihren Flinten, welche alle nach den Straßen gerichtet waren, die zu den beiden Flüssen führen, machten sie es dem Volk unmöglich, sich den Quais zu nähern, wo nur noch leichenhafte Stille herrschte, und wo man seit dem vorigen Tage keine andre Spur vom Volke mehr bemerkte, als lange Blut- streifen. Die Artillerie donnerte in Lyon wie auf einem Schlacht- felde; die Granaten flogen nach allen Richtungen und verbreiteten Feuersbrünste. Dennoch gewann die Jnsurrektion an diesem Tage Terrain. Sie schlängelte sich längs der Höhen hin, deren Abhang die Saone benetzt, brach auch fast auf allen Punkten zugleich aus und umzingelte die Stadt. Die Vorstadt Vaise hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Die Kaserne der Bernardiner setzte aber ihre drohende Fronte den beweglichen Befestigungen in der Croix- Rousse entgegen. Andrerseits durchzogen Banden von Jnsurgen- ten la Guillotiere und regten dieselbe auf. Bei den Barfüßlern und in St. Nizier läutete die Sturmglocke. Die schwarze Fahne wehte auf der Kirche von St. Polycarpe. Aber nun entfaltet sich ein furchtbares Schauspiel. Petarden sprengen die Häuser in die Luft, deren Fenster mit Jnsurgenten besetzt sind, die Barrikaden werden mit Kanonenschüssen angegriffen und umge- stürzt. Bomben regnen auf die Vorstadt la Guillotiere herab, und in dem Viertel, welches ihren Verwüstungen preisgegeben ist, sieht man Unglückliche auf den Dächern hinklettern, um dem sich nähernden Gewehrfeuer und dem Brande ihrer Wohnungen zu entgehen. Jm Herzen der Stadt ist der Jammer eben so groß. Jn der Umgebung des Rathhauses verfolgen sich Soldaten und Jnsurgenten mit Flintenschüssen auf den Dächern der Häuser. Weiterhin stürzen die beiden Pavillons der Brücke Lafayette, die einen Augenblick in die Hände der Jnsurgenten gerathen waren, unter den Kugeln zusammen, und ein Heukahn, den eine Gra- nate in Brand gesteckt hat, fährt brennend die Saone hinab, stoßt gegen die Brücke von Chazourne und zerstört drei Bogen derselben bei seiner Durchfahrt. Die Armee zeigt sich unversöhnlich. Die Soldaten haben den Befehl erhalten, die krummen Straßen zu vermeiden, schritt- weise vorzurücken, zwischen sich und den Jnsurgenten immer die Länge einer Straße zu lassen und jeder Barrikade eine andere entgegenzustellen; mochte man nun, wie einige glaubten, den Kampf zu verlängern suchen, um den Triumph zu vergrößern, oder mochten die militairischen Anführer Furcht vor der Jnsur- rektion haben. Die Arbeiter fochten gleich Helden, denn die Zahl der Be- waffneten war sehr klein. Zerstreut in Gruppen von 10, 20, 30 Mann, befehligt von Anführern, wie sie ihnen gerade in den Weg kamen, ohne Verbindung unter einander, ohne festen Plan und zum größten Theile nur mit Säbeln und Pistolen bewaff- net, konnten sie ihre Kraft nur aus ihrer Kühnheit, und ihre Kühnheit nur aus der Größe der Gefahr schöpfen. Nur auf einem Punkte hatte die Jnsurrektion eine günstige Stellung inne, und zwar im Mittelpunkte der Stadt auf dem Platze der Barfüßler. Die Republikaner hatten sich der Kirche bemächtigt und dieselbe zu ihrem Hauptquartier gemacht; sie um- gaben sie mit Barrikaden. Es läßt sich nichts Rührenderes und Seltsameres denken, als der Anblick dieses Tempels, welcher der Sitz einer verzweifelten Empörung geworden war. Jn einem der Schiffe waren Arbeiter beschäftigt, Pulver zu fabriziren, während andere um ein großes Feuer gelagert waren und Kugeln gossen. Eine Kapelle war in ein Lazareth umgewandelt worden. Man brachte die Verwundeten hierher, deren Leiden fromme Priester zu mildern suchten, und denen ein junges Mädchen, welches die Liebe hieher geführt hatte, ihre Pflege angedeihen ließ. Hier be- fehligte ein Mann von hohem Wuchse, schwarzem Auge, kräftigem und stolzem Gesichte. Sein Name war Lagrange. Und nie übte ein Anführer eine unbedingtere Herrschaft. Schnell bereit, alle Gefahren abzuwenden, eilte er von Barrikade zu Barrikade, feuerte seine Gefährten mit Worten und Geberden an, schickte Posten aus und ließ sie ablösen, sendete Verstärkungen nach den bedrohten Punkten und gewährte selbst dem Viertel, in welchem ihm der Bürgerkrieg seinen Posten angewiesen hatte, einen groß- müthigen Schutz. Ein Polizeiagent, Namens Corseys, hatte sich unter die Jnsurgenten eingeschlichen. Man entdeckte ihn und wollte ihn erschießen. Lagrange widersetzt sich; da werden Worte des Verdachts gegen ihn laut, man ruft: „Er ist ein Verräther!“ Lagrange richtet sich stolz auf, steigt über die Barrikade hinüber, so daß er ganz ungedeckt ist, und schreitet langsam an der ganzen Front der Truppen vorüber; er hält eine Salve aus, die ihn nicht trifft, und kehrt dann, freigesprochen durch seinen Muth, zurück. Ein solcher Geist beseelte die Jnsurrektion. Carrier und Gauthier in der Croix=Rousse, Reverchon in Vaise, Despinasse in la Guillotiere, überhaupt Alle ehrten die Sache, die sie mit Gefahr ihres Lebens vertheidigten, durch ihre Haltung. Jndeß dauerte der Kampf fort; der Sieg schwankte und das Blutvergießen wuchs von Stunde zu Stunde. Die Bourgeois zitterten und aus Furcht vor der Rache des Volkes veranstalteten sie in einigen Vierteln öffentliche Sammlungen, indem sie mit kläglicher Stimme riefen: „Brot für die armen Arbeiter!“ Da- gegen ist in der Nähe der Truppen Alles vereinsamt, und wenn das Gewehrfeuer plötzlich aufhört, wenn das ferne Sturmläuten unterbrochen wird, wenn die Munitionskasten einen Augenblick nicht auf den Straßen rollen, so tritt Schweigen des Todes, schreckliches Schweigen ein. Kein Laut dringt aus den ver- schlossenen und stummen Häusern; denn durch jedes geöffnete Fenster bahnt sich der Tod einen Weg. Die Circulation ist un- bedingt verboten worden, eine äußerste Maßregel, welche jeden Vorübergehenden zu einem Empörer macht; wer die Thüre seines Hauses überschreitet, wird ein Zielpunkt für die Soldaten. Frauen, Kinder, Greise werden ohne Erbarmen an den Ecken der Straßen getödtet. Eine Kugel warf einen Bruder auf den Leichnam seines Bruders nieder, als er diesen aufheben wollte. Bald bot das Jnnere der Häuser einen so traurigen Anblick wie die Straßen. Jn den einen hatte man kein Brot; in andern zitterte man für das Leben eines abwesenden Vaters und Gatten, der vielleicht getödtet war, und den man nicht einmal unter den Schlachtopfern aufsuchen konnte; in noch andern seufzten endlich Kranke, die keine Hülfe fanden. Der Schrecken war grenzenlos, und in manchen Vierteln war die Wuth der Soldaten bestialisch.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social03_1873/20>, abgerufen am 11.06.2024.