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Reichspost. Nr. 133, Wien, 14.06.1898.

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Wien, Dienstag Reichspost 14. Juni 1898 133

[Spaltenumbruch]

lands. Rußland ist eben Englands gefährlichster
Gegner und Concurrent in der Weltmacht und
Chamberlain hofft sich mit Deutschland hier verständigen
zu können. Offenbar ist die ganze Rede Chamberlains
als ein Fühler nach Deutschland hin zu betrachten,
was um so klarer erscheint, da Chamberlain die Noth-
wendigkeit eines Bündnisses mit einer starken Mi-
litärmacht
so sehr betont. Es ist aber auch
aus dieser Wendung der Politik Englands, das aus
seiner Isolirung sich herausarbeiten will zu ent-
nehmen, welch gewaltige Aenderungen die Weltlage
erfahren, seit sich die Politik Deutschlands wie Ruß-
lands Ostasien zugewandt hat, wie daraus neue
Fragen, Krisen und Verwicklungen entstehen können,
in welchen auch Oesterreichs Interessen nahe berührt
werden können. Auch für Oesterreich besteht dem-
gegenüber die Pflicht, sich gerüstet zu halten, um,
wenn die Stunde des Eingreifens schlägt, seiner
Machtstellung und seinen Interessen nichts vergeben
zu müssen. Wir stehen vor einer ganz unabsehbaren
Entwicklung der Dinge.




"Junge" und Schulbehörden.

Das Organ der socialdemokratischen Lehrer, die
"Freie Lehrerstimme" greift in ihrer Nummer vom
12. Juni den österreichischen Bürgerschullehrertag heftig
an, weil dieser ein Telegramm an den österreichischen
Unterrichtsminister gesendet hatte.

"Dem Unterrichtsminister des Ministerium Thun hat
der österreichische Bürgerschullehrertag eine telegraphische Be-
grüßung -- der Widerspruch der mährischen Collegen wurde
nicht gewürdigt -- gesendet. Die Herren, die dies gethan
haben, haben damit aufs neue klar bewiesen, daß sie that-
sächlich inmitten der österreichischen Lehrerschaft eine Sonder-
stellung einnehmen. Wir sind der Ueberzeu-
gung, daß es in Oesterreich heute sonst
keiner Lehrervereinigung einfallen
würde, den Cultus minister zu begrüßen.

Seitdem die Lehrerschaft erkannt hat, daß das Erwarten der
Hilfe von Oben, ein Bauen auf Sand ist, seitdem die
Lehrerschaft weiß, daß die Förderung des Schulwesens und
die Besserstellung des Lehrstandes keine Förderung von der
Behörde erwarten kann, weil die Behörde die Interessen der
herrschenden Classen, das sind Adel, Clerus und Groß-
bourgeoisie, wahren muß, seitdem glaubten wir die
patriarchalische Empfindung, im Cul-
tusminister den Vater des Lehrstandes
zu sehen erloschen.
Dem österreichischen Reichs-
Bürgerschullehrerbunde gebührt der Ruhm, gezeigt zu haben,
daß es in Oesterreich noch Lehrer gibt, die das Katzen-
buckeln
nicht lassen können."

In derselben Nummer heißt es über den k. k. Be-
zirksschulinspector Rehlig:

Der Herr Inspector des 5. Wiener Bezirkes hat eben-
so viel Verstand
als die Bezixksschulinspectoren von
Tulln und Floridsdorf. Wie groß dieses Maß
von Geist ist, kann nicht mit Genauigkeit
festgestellt werden.
Nur so viel ist sicher, daß es
nicht ausreicht zur Erkenntniß, daß die
Qualification der Lehrkräfte zu den "Mitteln zur Förderung
des Volksschulwesens" gehört."

In der früheren Nummer der "Lehrerstimme"
wurden die Gedanken des n.-ö. Landes-
schul-Inspectors Dr. Carl Rieger
"Excremente einer pädagogischen
Schmeißfliege" genannt.
Der Wiener
[Spaltenumbruch] Bezirksschulrath
wurde als Leichen-
stein des Schulwesens
bezeichnet. Wie lange
lassen sich österreichische Schnlbehörden von Lehrer-
blättern in solcher Weise beflegeln? Wie lange noch
erfreuen sich Lehrerblätter vom Schlage der "Oesterr.
Schulzeitung", der "Freien Lehrerstimme" der wohl-
wollenden Unterstützung der Schulaufsichtsorgane? Wie
lange noch werden Schulblätter, die so trefflich zeigen,
wie groß die Furcht und Ohnmacht der Schulbehörden
vor den socialdemokratischen Lehrern ist, auf Kosten
des gesammten Lehrkörpers oder des Bibliotheksfonds
in den Conferenzzimmern der Schulen aufliegen?
Wollen denn die Schulbehörden noch immer zeigen, wie
weit die österreichische "Gemüthlichkeit" auch gegen den
offenkundigen Umsturz in der Lehrerschaft gehen kann?




Politische Rundschau.


Oesterreich-Ungarn.
Die Quotendeputationen.

Gestern hielten die
beiden Deputattonen getrennte Sitzungen ab, deren
Resultate wir an erster Stelle besprechen. Auch heute
Mittags versammelten sich die Siebener-Comite's der
beiderseitigen Quotendeputationen zu einer Sitzung. Um
1 Uhr Nachmittags fand dann eine Sitzung der öster-
reichischen und um 4 Uhr eine Sitzung der unga-
rischen Quotendeputation statt. "Nar. Listy" schließen
aus dem Umstande, daß sich der unga-
rische Finanzminister Lukacs heute nach Budapest
zurückbegeben muß, darauf, daß in den neuerlichen Be-
rathungen der Quotendeputation heute eine
Unterbrechung eintreten und die Fortsetzung
in der kommenden Woche in Budapest stattfinden
dürfte.

Der permanente Ausschuß

zur Anbahnung
eines Ausgleiches zwischen den beiden Nationalitäten in
Mähren hielt am Dienstag in Brünn eine
Sitzung unter dem Vorsitze seines Obmannes Graf
Zierotin ab. Abg. Dr. Fux gab namens des
deutschen Landtagsclubs die Erklärung
ab, daß trotz der Verschärfung der politischen Lage
die dem deutschen Landtagsclub angehörigen Mitglieder
des Permanenzausschusses sich bereit finden, in Voll-
ziehung des ihnen übertragenen Mandates und unter
unverrückbarer Festhaltung ihres principiellen Stand-
punktes an den Berathungen dieses Ausschusses theil-
zunehmen, um eine Thätigkeit nicht zu hindern,
welche die Herbeischaffung eines die Forderungen
beider nationaler Parteien und die Art ihrer
Befriedigung klarstellenden, bei Eintritt obiger Voraus-
setzung und Wiederkehr normaler politischer Verhält-
nisse verwerthbaren Materials bezweckt. In der daran
sich schließenden Debatte wurde von czechischer Seite
auf die Agitation gegen die Sprachenverordnungen
und die deutsche Universität in Mähren hingewiesen
und erklärt, der Zeitpunkt sei für die Action sehr un-
günstig gewählt. Die Vertreter des Großgrundbesitzes
machten auf die ungemein schwierige Stellung in dieser
[Spaltenumbruch] Frage aufmerksam und wiesen daraufhin, daß sich eine
politische Constellation ergeben könnte, in der die Vor-
arbeiten praktische Verwerthung finden könnten. Schließ-
lich einigte man sich dahin, daß Referate und Kor-
referate zu vervielfältigen und den Mitgliedern des
Ausschusses rechtzeitig einzuhändigen seien und daß der
Obmann ersucht werde, im Laufe des Monats August
eine neue Sitzung einzuberufen.

Der Hetzer auf dem Prager Bürgermeister-
stuhl,

Dr. Podlipny, ist gestern in Brünn zur
Palacky-Feier eingetroffen und hat durch seine An-
wesenheit sich zum Mitschuldigen an der Provocirung
der Deutschen gemacht. Es kam, wie wir an anderer
Stelle berichten, zu Krawallen und Zusammenstößen
zwischen Deutschen, Socialdemokraten und Czechen.




Budapest.

(Ungarisches Abgeordneten-
haus.)
In der heutigen Sitzung wurde der Gesetzentwurf
betreffend die Bedeckung der Kosten der öffentlichen Kranken-
pflege in dritter Lesung votirt. Zu Beginn der Sitzung
reichte Honvedminister Baron Fejervary in Ver-
tretung des Finanzministers einen Gesetzent-
wurf betreffend die Einführung der
Weingetränkesteuer
in Croatien und
Slavonien ein. Der Gesetzentwurf ordnet
die Aufhebung der Weingetränkeschank-
steuer
und die Einführung der Wein-
getränkesteuer
an. Am Schlusse der Sitzung
richtete Abg. Franz Sima eine dringende Interpellation
an den Minister des Innern und der Justiz in der Ange-
legenheit des Csongrader Pfarrers Hegyi. Die nächste Sitzung
findet morgen statt. Tagesordnung: Ministerialbericht über
die Uebernahme der staatlichen Maschinen-
fabriken
in das Ressort des Finanzministers, ferner
die Consumsteuervorlagen.




Türkei.

Die auf dem Landweg
aus Thessalien abgegangenen Trup-
pen
sind in die heimatlichen Garnisoneu
zurückgekehrt.
In Katerina am Golf vor Salo-
nichi harren die letzten zwölf Bataillone des Trans-
portes zur See. An der thessalischen Grenze sind unter
Omer Neschat Pascha 16 Bataillone, 4 Gebirgsbatterien
und 1 Cavallerieregiment zurückgeblieben. An der
Grenze von Epirus bleiben unter Hairi Pascha 12 Ba-
taillone und 3 Batterien.

Rußland.

Ein Ueberfall auf russische Truppeu in
Turkestan.

Dem amtlichen Berichte zu Folge dauerte
der Ende Mai im Kreise Margelan (Ferghana-
Gebiet) erfolgte Ueberfall der über 1000 Mann
zählenden Bande Muhamed Ali Chans auf das
163 Soldaten starke Militärlager und die Abwehr
des Ueberfalles kaum eine Viertelstunde. Elf Leichen
fielen in die Hände der Truppen, die übrigen Todten
und Verwundeten wurden von den Fliehenden mit-
genommen. Der Feind konnte wegen augenblicklichem
Mangel an Cavallerie und Patronen nicht sofort




[Spaltenumbruch]

herige eben doch nichts Anderes als Dogmatik war, die
der Verfasser also als Grundlage jeder Moral doch nicht
entbehren konnte. Die Frage selbst wird also beantwortet:
"Der Mensch soll als vernunftbegabtes Wesen edel und
gut sein, nichts thun und nichts lassen, was mit seinem
eigenen Gewissen im Widerspruch steht." Wieder ist es
keine objective Sittennorm, die aufgestellt wird, sondern
das subjective Gewissen ist der alleinige
moralische Gesetzgeber List's. Aber wie verschiedenartig
ist dieses Gewissen nicht bei den verschiedenen Menschen
geartet? Wie ganz anders z. B. ist das Gewissen des
heidnischen Indianers oder Menschenfressers, des Moslim,
des Juden und des Christen beschaffen, und wie ver-
schiedene Gewissen gibt es unter den Christen? Weite,
enge, zarte, falsche Gewissen! Würde der Verfasser noch
sagen: "Wir sollen nach der Natur, nach dem Natur-
gesetze leben", so hätte er wenigstens eine objective
Norm des Guten und des Schlechten, er käme dann
freilich bloß auf den Standpunkt zurück, auf dem die
alten Heiden standen und auf den die modernen
Heiden ebenfalls zurückgekehrt sind, wobei sie
freilich die natürlichen Triebe, das ist
die ungeordneten Regungen der gefallenen
Menschennatur mit dem Naturgesetz, das Gott ver-
liehen, verwechseln und auch ihnen zu folgen für
erlaubt halten -- d. h. wenn es Niemand bemerkt,
wenn Niemand daran Anstoß nimmt und Niemand
darunter Schaden leidet.

Im Wesentlichen beschränkt sich auch die Sitten-
lehre List's thatsächlich auf die natürliche
Religion,
auf die Religion des sogenannten
anständigen Mannes. Sie ist auch lediglich in den
göttlichen Gesetzen enthalten, die List nun-
mehr aufzählt und die im Wesentlichen wieder auf
die alten zehn Gebote Gottes, sogar der Zahl nach,
herauskommen, mit einigen Nuancen, die freilich nichts
weniger als Verbesserungen des Decaloges sind; z. B.
das erste Gebot: "Erkenne Gott und störe
anderen Menschen ihren Gottes-
glauben nicht!"
Eine nette Moral das.
Wenn ich Jemanden auf falschem Wege vielleicht
einem Abgrunde zueilen sehe, soll ich ihn nach
List nicht einmal darin stören dürfen! Nein,
[Spaltenumbruch] das ist gewiß kein Gottesgesetz. Niemanden seines
Glaubens willen geringschätzen, hassen, verfolgen --
das ist Gottesgesetz, ist aber etwas wesentlich Anderes,
als was List als Gottesgesetz proclamirt.

List führt auch eigene Sitten- und Wohl-
fahrtsgesetze an,
darunter ein höchst origi-
nelles, aber recht bezeichnendes: "Bereue Deine Fehler
und suche Dich zu bessern, Betrete das
Gotteshaus nicht,
wenn Du Dich schuldbela-
den und unbußfertig fühlst!" Nun schuldbeladen dürfte
sich jeder Mensch fühlen -- also dürfte Niemand das
Gotteshaus betreten. Wie aber verträgt sich das mit
der Gottesidee, da doch auch der Verfasser Gott als
den ewig unendlich Gütigen hinstellt?

Soll etwa das Kind, das sich gegen die Eltern
verfehlt hat, vom Vaterhause verbannt sein? Soll
selbst dem unbußfertigen Kinde die Schwelle des-
selben stets verschlossen sein? Vielleicht wird
das verstockte Kind gerade im Vater-
hause
wieder besseren Gefühlen zugänglich.
Wie uns scheint, dient diese Moralthese nur zur Be-
schwichtigung des Gewissens so Maucher, die sich vom
Gotteshause fernhalten, nicht etwa aus Demuth, sondern
aus ganz anderen Gründen!

Eine merkwürdige Moral liegt auch in dem fol-
genden Satze: "Die Uebertretung gegen diese Gesetze ist
eine Sünde, und die größten Sünden sind jene,
welche uns die Verachtung unserer Mit-
menschen
zuziehen". Nun sind es aber thatsächlich
oft die größten Sünden, ja selbst Verbrechen,
welche die Verachtung der Mitmenschen absolut nicht
nach sich ziehen, sondern sogar oft Ehrentitel sind. Ge-
heime Sünden entgehen der Verachtung, sind aber oft
schändlichster Natur; die Verachtung jeder positiven
Religion ist gewiß eine schwere Sünde, steht aber bei
der Menschheit vielfach hoch in Ehren. Wir erinnern
ferner an politische Verbrechen, Verbrechen an der
Börse, ungerechte Kriege, die sogar Ruhmestitel werden,
wenn sie nur den Erfolg hatten.

Von Himmel in der Ewigkeit weiß Guido
List nichts, also lehrt er auch nichts darüber, obschon
er selbst sagt, daß der Mensch bestimmt sei, glückselig
zu werden, und obschon er die Unsterblichkeit der Seele
[Spaltenumbruch] annimmt: "Unsere Seele, der Gottesfunke, wird sich
wieder mit Gott vereinen." Im übrigen unter-
streicht
er sogar den Satz: Die Erfüllung der
Tugenden und Pflichten gewährt Dir ein erhebendes
Bewußtsein, ein beseligendes Selbstgefühl und ein reines
Gewissen, und dieses ist der Himmel in
der Menschenbrust, dieses Seligkeits-
gefühl ist Gottes Lohn.
Ist damit der Mensch
wirklich befriedigt?! Genügt dieser Lohn, um die
Meisten gegenüber den Verlockungen des Schlechten
auf dem Pfad der Pflicht und Tugend zu halten?

Natürlich kennt List noch viel weniger eine Hölle;
das böse Gewissen, das peinigende Schuldbewußtsein ist
nach ihm die Hölle auf Erden. "Gemieden und
verachtet von seinen Mitmenschen [??] endet fluchbeladen
der Lasterhafte sein elendes Dasein. Und das ist
Gottes Strafe!"
Gerade die Sünden und
Schlechtigkeiten, die am meisten den Menschen
schänden und der Menschheit schaden, ziehen
statt des Fluches die Ehren der Welt herab. Die Un-
gerechtigkeit und das Laster triumphirt meist auf Erden!
Das sollte die Strafe Gottes sein? Das sollte vom
Laster abschrecken? Und wo bleibt denn die Sühne für
den beleidigten Gott selbst? Die ausreichende Sühne
für die Beleidigung des Unendlichen?!

Wie wir sehen, ist die ganze neue Religion List's,
von einigen germanisch-völkischen Anwendungen und
Redensarten, nichts Anderes als die rein natürliche
Religion des "anständigen" Mannes, die aber jeder
objectiven Norm, jedes positiven, festen Haltes entbehrt,
in sich vielfach widerspruchsvoll erscheint, viel Schiefes,
manches direct Unhaltbare enthält, von den Thatsachen
der Offenbarung und des Christenthums gänzlich ab-
sieht, im Wesentlichen also nur eine ins Deutsche über-
setzte Allerweltsreligion darstellt, die allerdings Jeder
acceptiren kann, daß sich sie Jeder nach Gutdünken
zum Privatgebrauch zurechtlegen kann. Sie ist weder
wissenschaftlich, noch sittlich so hochstehend, daß sie ge-
eignet wäre, die altehrwürdige Religion des vom Heiden-
thum zum Christenthum übergetretenen deutschen Volkes
zu ersetzen.




Wien, Dienſtag Reichspoſt 14. Juni 1898 133

[Spaltenumbruch]

lands. Rußland iſt eben Englands gefährlichſter
Gegner und Concurrent in der Weltmacht und
Chamberlain hofft ſich mit Deutſchland hier verſtändigen
zu können. Offenbar iſt die ganze Rede Chamberlains
als ein Fühler nach Deutſchland hin zu betrachten,
was um ſo klarer erſcheint, da Chamberlain die Noth-
wendigkeit eines Bündniſſes mit einer ſtarken Mi-
litärmacht
ſo ſehr betont. Es iſt aber auch
aus dieſer Wendung der Politik Englands, das aus
ſeiner Iſolirung ſich herausarbeiten will zu ent-
nehmen, welch gewaltige Aenderungen die Weltlage
erfahren, ſeit ſich die Politik Deutſchlands wie Ruß-
lands Oſtaſien zugewandt hat, wie daraus neue
Fragen, Kriſen und Verwicklungen entſtehen können,
in welchen auch Oeſterreichs Intereſſen nahe berührt
werden können. Auch für Oeſterreich beſteht dem-
gegenüber die Pflicht, ſich gerüſtet zu halten, um,
wenn die Stunde des Eingreifens ſchlägt, ſeiner
Machtſtellung und ſeinen Intereſſen nichts vergeben
zu müſſen. Wir ſtehen vor einer ganz unabſehbaren
Entwicklung der Dinge.




„Junge“ und Schulbehörden.

Das Organ der ſocialdemokratiſchen Lehrer, die
„Freie Lehrerſtimme“ greift in ihrer Nummer vom
12. Juni den öſterreichiſchen Bürgerſchullehrertag heftig
an, weil dieſer ein Telegramm an den öſterreichiſchen
Unterrichtsminiſter geſendet hatte.

„Dem Unterrichtsminiſter des Miniſterium Thun hat
der öſterreichiſche Bürgerſchullehrertag eine telegraphiſche Be-
grüßung — der Widerſpruch der mähriſchen Collegen wurde
nicht gewürdigt — geſendet. Die Herren, die dies gethan
haben, haben damit aufs neue klar bewieſen, daß ſie that-
ſächlich inmitten der öſterreichiſchen Lehrerſchaft eine Sonder-
ſtellung einnehmen. Wir ſind der Ueberzeu-
gung, daß es in Oeſterreich heute ſonſt
keiner Lehrervereinigung einfallen
würde, den Cultus miniſter zu begrüßen.

Seitdem die Lehrerſchaft erkannt hat, daß das Erwarten der
Hilfe von Oben, ein Bauen auf Sand iſt, ſeitdem die
Lehrerſchaft weiß, daß die Förderung des Schulweſens und
die Beſſerſtellung des Lehrſtandes keine Förderung von der
Behörde erwarten kann, weil die Behörde die Intereſſen der
herrſchenden Claſſen, das ſind Adel, Clerus und Groß-
bourgeoiſie, wahren muß, ſeitdem glaubten wir die
patriarchaliſche Empfindung, im Cul-
tusminiſter den Vater des Lehrſtandes
zu ſehen erloſchen.
Dem öſterreichiſchen Reichs-
Bürgerſchullehrerbunde gebührt der Ruhm, gezeigt zu haben,
daß es in Oeſterreich noch Lehrer gibt, die das Katzen-
buckeln
nicht laſſen können.“

In derſelben Nummer heißt es über den k. k. Be-
zirksſchulinſpector Rehlig:

Der Herr Inſpector des 5. Wiener Bezirkes hat eben-
ſo viel Verſtand
als die Bezixksſchulinſpectoren von
Tulln und Floridsdorf. Wie groß dieſes Maß
von Geiſt iſt, kann nicht mit Genauigkeit
feſtgeſtellt werden.
Nur ſo viel iſt ſicher, daß es
nicht ausreicht zur Erkenntniß, daß die
Qualification der Lehrkräfte zu den „Mitteln zur Förderung
des Volksſchulweſens“ gehört.“

In der früheren Nummer der „Lehrerſtimme“
wurden die Gedanken des n.-ö. Landes-
ſchul-Inſpectors Dr. Carl Rieger
„Excremente einer pädagogiſchen
Schmeißfliege“ genannt.
Der Wiener
[Spaltenumbruch] Bezirksſchulrath
wurde als Leichen-
ſtein des Schulweſens
bezeichnet. Wie lange
laſſen ſich öſterreichiſche Schnlbehörden von Lehrer-
blättern in ſolcher Weiſe beflegeln? Wie lange noch
erfreuen ſich Lehrerblätter vom Schlage der „Oeſterr.
Schulzeitung“, der „Freien Lehrerſtimme“ der wohl-
wollenden Unterſtützung der Schulaufſichtsorgane? Wie
lange noch werden Schulblätter, die ſo trefflich zeigen,
wie groß die Furcht und Ohnmacht der Schulbehörden
vor den ſocialdemokratiſchen Lehrern iſt, auf Koſten
des geſammten Lehrkörpers oder des Bibliotheksfonds
in den Conferenzzimmern der Schulen aufliegen?
Wollen denn die Schulbehörden noch immer zeigen, wie
weit die öſterreichiſche „Gemüthlichkeit“ auch gegen den
offenkundigen Umſturz in der Lehrerſchaft gehen kann?




Politiſche Rundſchau.


Oeſterreich-Ungarn.
Die Quotendeputationen.

Geſtern hielten die
beiden Deputattonen getrennte Sitzungen ab, deren
Reſultate wir an erſter Stelle beſprechen. Auch heute
Mittags verſammelten ſich die Siebener-Comité’s der
beiderſeitigen Quotendeputationen zu einer Sitzung. Um
1 Uhr Nachmittags fand dann eine Sitzung der öſter-
reichiſchen und um 4 Uhr eine Sitzung der unga-
riſchen Quotendeputation ſtatt. „Nar. Liſty“ ſchließen
aus dem Umſtande, daß ſich der unga-
riſche Finanzminiſter Lukacs heute nach Budapeſt
zurückbegeben muß, darauf, daß in den neuerlichen Be-
rathungen der Quotendeputation heute eine
Unterbrechung eintreten und die Fortſetzung
in der kommenden Woche in Budapeſt ſtattfinden
dürfte.

Der permanente Ausſchuß

zur Anbahnung
eines Ausgleiches zwiſchen den beiden Nationalitäten in
Mähren hielt am Dienſtag in Brünn eine
Sitzung unter dem Vorſitze ſeines Obmannes Graf
Zierotin ab. Abg. Dr. Fux gab namens des
deutſchen Landtagsclubs die Erklärung
ab, daß trotz der Verſchärfung der politiſchen Lage
die dem deutſchen Landtagsclub angehörigen Mitglieder
des Permanenzausſchuſſes ſich bereit finden, in Voll-
ziehung des ihnen übertragenen Mandates und unter
unverrückbarer Feſthaltung ihres principiellen Stand-
punktes an den Berathungen dieſes Ausſchuſſes theil-
zunehmen, um eine Thätigkeit nicht zu hindern,
welche die Herbeiſchaffung eines die Forderungen
beider nationaler Parteien und die Art ihrer
Befriedigung klarſtellenden, bei Eintritt obiger Voraus-
ſetzung und Wiederkehr normaler politiſcher Verhält-
niſſe verwerthbaren Materials bezweckt. In der daran
ſich ſchließenden Debatte wurde von czechiſcher Seite
auf die Agitation gegen die Sprachenverordnungen
und die deutſche Univerſität in Mähren hingewieſen
und erklärt, der Zeitpunkt ſei für die Action ſehr un-
günſtig gewählt. Die Vertreter des Großgrundbeſitzes
machten auf die ungemein ſchwierige Stellung in dieſer
[Spaltenumbruch] Frage aufmerkſam und wieſen daraufhin, daß ſich eine
politiſche Conſtellation ergeben könnte, in der die Vor-
arbeiten praktiſche Verwerthung finden könnten. Schließ-
lich einigte man ſich dahin, daß Referate und Kor-
referate zu vervielfältigen und den Mitgliedern des
Ausſchuſſes rechtzeitig einzuhändigen ſeien und daß der
Obmann erſucht werde, im Laufe des Monats Auguſt
eine neue Sitzung einzuberufen.

Der Hetzer auf dem Prager Bürgermeiſter-
ſtuhl,

Dr. Podlipny, iſt geſtern in Brünn zur
Palacky-Feier eingetroffen und hat durch ſeine An-
weſenheit ſich zum Mitſchuldigen an der Provocirung
der Deutſchen gemacht. Es kam, wie wir an anderer
Stelle berichten, zu Krawallen und Zuſammenſtößen
zwiſchen Deutſchen, Socialdemokraten und Czechen.




Budapeſt.

(Ungariſches Abgeordneten-
haus.)
In der heutigen Sitzung wurde der Geſetzentwurf
betreffend die Bedeckung der Koſten der öffentlichen Kranken-
pflege in dritter Leſung votirt. Zu Beginn der Sitzung
reichte Honvedminiſter Baron Fejervary in Ver-
tretung des Finanzminiſters einen Geſetzent-
wurf betreffend die Einführung der
Weingetränkeſteuer
in Croatien und
Slavonien ein. Der Geſetzentwurf ordnet
die Aufhebung der Weingetränkeſchank-
ſteuer
und die Einführung der Wein-
getränkeſteuer
an. Am Schluſſe der Sitzung
richtete Abg. Franz Sima eine dringende Interpellation
an den Miniſter des Innern und der Juſtiz in der Ange-
legenheit des Cſongrader Pfarrers Hegyi. Die nächſte Sitzung
findet morgen ſtatt. Tagesordnung: Miniſterialbericht über
die Uebernahme der ſtaatlichen Maſchinen-
fabriken
in das Reſſort des Finanzminiſters, ferner
die Conſumſteuervorlagen.




Türkei.

Die auf dem Landweg
aus Theſſalien abgegangenen Trup-
pen
ſind in die heimatlichen Garniſoneu
zurückgekehrt.
In Katerina am Golf vor Salo-
nichi harren die letzten zwölf Bataillone des Trans-
portes zur See. An der theſſaliſchen Grenze ſind unter
Omer Neſchat Paſcha 16 Bataillone, 4 Gebirgsbatterien
und 1 Cavallerieregiment zurückgeblieben. An der
Grenze von Epirus bleiben unter Hairi Paſcha 12 Ba-
taillone und 3 Batterien.

Rußland.

Ein Ueberfall auf ruſſiſche Truppeu in
Turkeſtan.

Dem amtlichen Berichte zu Folge dauerte
der Ende Mai im Kreiſe Margelan (Ferghana-
Gebiet) erfolgte Ueberfall der über 1000 Mann
zählenden Bande Muhamed Ali Chans auf das
163 Soldaten ſtarke Militärlager und die Abwehr
des Ueberfalles kaum eine Viertelſtunde. Elf Leichen
fielen in die Hände der Truppen, die übrigen Todten
und Verwundeten wurden von den Fliehenden mit-
genommen. Der Feind konnte wegen augenblicklichem
Mangel an Cavallerie und Patronen nicht ſofort




[Spaltenumbruch]

herige eben doch nichts Anderes als Dogmatik war, die
der Verfaſſer alſo als Grundlage jeder Moral doch nicht
entbehren konnte. Die Frage ſelbſt wird alſo beantwortet:
„Der Menſch ſoll als vernunftbegabtes Weſen edel und
gut ſein, nichts thun und nichts laſſen, was mit ſeinem
eigenen Gewiſſen im Widerſpruch ſteht.“ Wieder iſt es
keine objective Sittennorm, die aufgeſtellt wird, ſondern
das ſubjective Gewiſſen iſt der alleinige
moraliſche Geſetzgeber Liſt’s. Aber wie verſchiedenartig
iſt dieſes Gewiſſen nicht bei den verſchiedenen Menſchen
geartet? Wie ganz anders z. B. iſt das Gewiſſen des
heidniſchen Indianers oder Menſchenfreſſers, des Moslim,
des Juden und des Chriſten beſchaffen, und wie ver-
ſchiedene Gewiſſen gibt es unter den Chriſten? Weite,
enge, zarte, falſche Gewiſſen! Würde der Verfaſſer noch
ſagen: „Wir ſollen nach der Natur, nach dem Natur-
geſetze leben“, ſo hätte er wenigſtens eine objective
Norm des Guten und des Schlechten, er käme dann
freilich bloß auf den Standpunkt zurück, auf dem die
alten Heiden ſtanden und auf den die modernen
Heiden ebenfalls zurückgekehrt ſind, wobei ſie
freilich die natürlichen Triebe, das iſt
die ungeordneten Regungen der gefallenen
Menſchennatur mit dem Naturgeſetz, das Gott ver-
liehen, verwechſeln und auch ihnen zu folgen für
erlaubt halten — d. h. wenn es Niemand bemerkt,
wenn Niemand daran Anſtoß nimmt und Niemand
darunter Schaden leidet.

Im Weſentlichen beſchränkt ſich auch die Sitten-
lehre Liſt’s thatſächlich auf die natürliche
Religion,
auf die Religion des ſogenannten
anſtändigen Mannes. Sie iſt auch lediglich in den
göttlichen Geſetzen enthalten, die Liſt nun-
mehr aufzählt und die im Weſentlichen wieder auf
die alten zehn Gebote Gottes, ſogar der Zahl nach,
herauskommen, mit einigen Nuancen, die freilich nichts
weniger als Verbeſſerungen des Decaloges ſind; z. B.
das erſte Gebot: „Erkenne Gott und ſtöre
anderen Menſchen ihren Gottes-
glauben nicht!“
Eine nette Moral das.
Wenn ich Jemanden auf falſchem Wege vielleicht
einem Abgrunde zueilen ſehe, ſoll ich ihn nach
Liſt nicht einmal darin ſtören dürfen! Nein,
[Spaltenumbruch] das iſt gewiß kein Gottesgeſetz. Niemanden ſeines
Glaubens willen geringſchätzen, haſſen, verfolgen —
das iſt Gottesgeſetz, iſt aber etwas weſentlich Anderes,
als was Liſt als Gottesgeſetz proclamirt.

Liſt führt auch eigene Sitten- und Wohl-
fahrtsgeſetze an,
darunter ein höchſt origi-
nelles, aber recht bezeichnendes: „Bereue Deine Fehler
und ſuche Dich zu beſſern, Betrete das
Gotteshaus nicht,
wenn Du Dich ſchuldbela-
den und unbußfertig fühlſt!“ Nun ſchuldbeladen dürfte
ſich jeder Menſch fühlen — alſo dürfte Niemand das
Gotteshaus betreten. Wie aber verträgt ſich das mit
der Gottesidee, da doch auch der Verfaſſer Gott als
den ewig unendlich Gütigen hinſtellt?

Soll etwa das Kind, das ſich gegen die Eltern
verfehlt hat, vom Vaterhauſe verbannt ſein? Soll
ſelbſt dem unbußfertigen Kinde die Schwelle des-
ſelben ſtets verſchloſſen ſein? Vielleicht wird
das verſtockte Kind gerade im Vater-
hauſe
wieder beſſeren Gefühlen zugänglich.
Wie uns ſcheint, dient dieſe Moraltheſe nur zur Be-
ſchwichtigung des Gewiſſens ſo Maucher, die ſich vom
Gotteshauſe fernhalten, nicht etwa aus Demuth, ſondern
aus ganz anderen Gründen!

Eine merkwürdige Moral liegt auch in dem fol-
genden Satze: „Die Uebertretung gegen dieſe Geſetze iſt
eine Sünde, und die größten Sünden ſind jene,
welche uns die Verachtung unſerer Mit-
menſchen
zuziehen“. Nun ſind es aber thatſächlich
oft die größten Sünden, ja ſelbſt Verbrechen,
welche die Verachtung der Mitmenſchen abſolut nicht
nach ſich ziehen, ſondern ſogar oft Ehrentitel ſind. Ge-
heime Sünden entgehen der Verachtung, ſind aber oft
ſchändlichſter Natur; die Verachtung jeder poſitiven
Religion iſt gewiß eine ſchwere Sünde, ſteht aber bei
der Menſchheit vielfach hoch in Ehren. Wir erinnern
ferner an politiſche Verbrechen, Verbrechen an der
Börſe, ungerechte Kriege, die ſogar Ruhmestitel werden,
wenn ſie nur den Erfolg hatten.

Von Himmel in der Ewigkeit weiß Guido
Liſt nichts, alſo lehrt er auch nichts darüber, obſchon
er ſelbſt ſagt, daß der Menſch beſtimmt ſei, glückſelig
zu werden, und obſchon er die Unſterblichkeit der Seele
[Spaltenumbruch] annimmt: „Unſere Seele, der Gottesfunke, wird ſich
wieder mit Gott vereinen.“ Im übrigen unter-
ſtreicht
er ſogar den Satz: Die Erfüllung der
Tugenden und Pflichten gewährt Dir ein erhebendes
Bewußtſein, ein beſeligendes Selbſtgefühl und ein reines
Gewiſſen, und dieſes iſt der Himmel in
der Menſchenbruſt, dieſes Seligkeits-
gefühl iſt Gottes Lohn.
Iſt damit der Menſch
wirklich befriedigt?! Genügt dieſer Lohn, um die
Meiſten gegenüber den Verlockungen des Schlechten
auf dem Pfad der Pflicht und Tugend zu halten?

Natürlich kennt Liſt noch viel weniger eine Hölle;
das böſe Gewiſſen, das peinigende Schuldbewußtſein iſt
nach ihm die Hölle auf Erden. „Gemieden und
verachtet von ſeinen Mitmenſchen [??] endet fluchbeladen
der Laſterhafte ſein elendes Daſein. Und das iſt
Gottes Strafe!“
Gerade die Sünden und
Schlechtigkeiten, die am meiſten den Menſchen
ſchänden und der Menſchheit ſchaden, ziehen
ſtatt des Fluches die Ehren der Welt herab. Die Un-
gerechtigkeit und das Laſter triumphirt meiſt auf Erden!
Das ſollte die Strafe Gottes ſein? Das ſollte vom
Laſter abſchrecken? Und wo bleibt denn die Sühne für
den beleidigten Gott ſelbſt? Die ausreichende Sühne
für die Beleidigung des Unendlichen?!

Wie wir ſehen, iſt die ganze neue Religion Liſt’s,
von einigen germaniſch-völkiſchen Anwendungen und
Redensarten, nichts Anderes als die rein natürliche
Religion des „anſtändigen“ Mannes, die aber jeder
objectiven Norm, jedes poſitiven, feſten Haltes entbehrt,
in ſich vielfach widerſpruchsvoll erſcheint, viel Schiefes,
manches direct Unhaltbare enthält, von den Thatſachen
der Offenbarung und des Chriſtenthums gänzlich ab-
ſieht, im Weſentlichen alſo nur eine ins Deutſche über-
ſetzte Allerweltsreligion darſtellt, die allerdings Jeder
acceptiren kann, daß ſich ſie Jeder nach Gutdünken
zum Privatgebrauch zurechtlegen kann. Sie iſt weder
wiſſenſchaftlich, noch ſittlich ſo hochſtehend, daß ſie ge-
eignet wäre, die altehrwürdige Religion des vom Heiden-
thum zum Chriſtenthum übergetretenen deutſchen Volkes
zu erſetzen.




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[2/0002] Wien, Dienſtag Reichspoſt 14. Juni 1898 133 lands. Rußland iſt eben Englands gefährlichſter Gegner und Concurrent in der Weltmacht und Chamberlain hofft ſich mit Deutſchland hier verſtändigen zu können. Offenbar iſt die ganze Rede Chamberlains als ein Fühler nach Deutſchland hin zu betrachten, was um ſo klarer erſcheint, da Chamberlain die Noth- wendigkeit eines Bündniſſes mit einer ſtarken Mi- litärmacht ſo ſehr betont. Es iſt aber auch aus dieſer Wendung der Politik Englands, das aus ſeiner Iſolirung ſich herausarbeiten will zu ent- nehmen, welch gewaltige Aenderungen die Weltlage erfahren, ſeit ſich die Politik Deutſchlands wie Ruß- lands Oſtaſien zugewandt hat, wie daraus neue Fragen, Kriſen und Verwicklungen entſtehen können, in welchen auch Oeſterreichs Intereſſen nahe berührt werden können. Auch für Oeſterreich beſteht dem- gegenüber die Pflicht, ſich gerüſtet zu halten, um, wenn die Stunde des Eingreifens ſchlägt, ſeiner Machtſtellung und ſeinen Intereſſen nichts vergeben zu müſſen. Wir ſtehen vor einer ganz unabſehbaren Entwicklung der Dinge. „Junge“ und Schulbehörden. Das Organ der ſocialdemokratiſchen Lehrer, die „Freie Lehrerſtimme“ greift in ihrer Nummer vom 12. Juni den öſterreichiſchen Bürgerſchullehrertag heftig an, weil dieſer ein Telegramm an den öſterreichiſchen Unterrichtsminiſter geſendet hatte. „Dem Unterrichtsminiſter des Miniſterium Thun hat der öſterreichiſche Bürgerſchullehrertag eine telegraphiſche Be- grüßung — der Widerſpruch der mähriſchen Collegen wurde nicht gewürdigt — geſendet. Die Herren, die dies gethan haben, haben damit aufs neue klar bewieſen, daß ſie that- ſächlich inmitten der öſterreichiſchen Lehrerſchaft eine Sonder- ſtellung einnehmen. Wir ſind der Ueberzeu- gung, daß es in Oeſterreich heute ſonſt keiner Lehrervereinigung einfallen würde, den Cultus miniſter zu begrüßen. Seitdem die Lehrerſchaft erkannt hat, daß das Erwarten der Hilfe von Oben, ein Bauen auf Sand iſt, ſeitdem die Lehrerſchaft weiß, daß die Förderung des Schulweſens und die Beſſerſtellung des Lehrſtandes keine Förderung von der Behörde erwarten kann, weil die Behörde die Intereſſen der herrſchenden Claſſen, das ſind Adel, Clerus und Groß- bourgeoiſie, wahren muß, ſeitdem glaubten wir die patriarchaliſche Empfindung, im Cul- tusminiſter den Vater des Lehrſtandes zu ſehen erloſchen. Dem öſterreichiſchen Reichs- Bürgerſchullehrerbunde gebührt der Ruhm, gezeigt zu haben, daß es in Oeſterreich noch Lehrer gibt, die das Katzen- buckeln nicht laſſen können.“ In derſelben Nummer heißt es über den k. k. Be- zirksſchulinſpector Rehlig: Der Herr Inſpector des 5. Wiener Bezirkes hat eben- ſo viel Verſtand als die Bezixksſchulinſpectoren von Tulln und Floridsdorf. Wie groß dieſes Maß von Geiſt iſt, kann nicht mit Genauigkeit feſtgeſtellt werden. Nur ſo viel iſt ſicher, daß es nicht ausreicht zur Erkenntniß, daß die Qualification der Lehrkräfte zu den „Mitteln zur Förderung des Volksſchulweſens“ gehört.“ In der früheren Nummer der „Lehrerſtimme“ wurden die Gedanken des n.-ö. Landes- ſchul-Inſpectors Dr. Carl Rieger „Excremente einer pädagogiſchen Schmeißfliege“ genannt. Der Wiener Bezirksſchulrath wurde als Leichen- ſtein des Schulweſens bezeichnet. Wie lange laſſen ſich öſterreichiſche Schnlbehörden von Lehrer- blättern in ſolcher Weiſe beflegeln? Wie lange noch erfreuen ſich Lehrerblätter vom Schlage der „Oeſterr. Schulzeitung“, der „Freien Lehrerſtimme“ der wohl- wollenden Unterſtützung der Schulaufſichtsorgane? Wie lange noch werden Schulblätter, die ſo trefflich zeigen, wie groß die Furcht und Ohnmacht der Schulbehörden vor den ſocialdemokratiſchen Lehrern iſt, auf Koſten des geſammten Lehrkörpers oder des Bibliotheksfonds in den Conferenzzimmern der Schulen aufliegen? Wollen denn die Schulbehörden noch immer zeigen, wie weit die öſterreichiſche „Gemüthlichkeit“ auch gegen den offenkundigen Umſturz in der Lehrerſchaft gehen kann? Politiſche Rundſchau. Wien, 13. Juni. Oeſterreich-Ungarn. Die Quotendeputationen. Geſtern hielten die beiden Deputattonen getrennte Sitzungen ab, deren Reſultate wir an erſter Stelle beſprechen. Auch heute Mittags verſammelten ſich die Siebener-Comité’s der beiderſeitigen Quotendeputationen zu einer Sitzung. Um 1 Uhr Nachmittags fand dann eine Sitzung der öſter- reichiſchen und um 4 Uhr eine Sitzung der unga- riſchen Quotendeputation ſtatt. „Nar. Liſty“ ſchließen aus dem Umſtande, daß ſich der unga- riſche Finanzminiſter Lukacs heute nach Budapeſt zurückbegeben muß, darauf, daß in den neuerlichen Be- rathungen der Quotendeputation heute eine Unterbrechung eintreten und die Fortſetzung in der kommenden Woche in Budapeſt ſtattfinden dürfte. Der permanente Ausſchuß zur Anbahnung eines Ausgleiches zwiſchen den beiden Nationalitäten in Mähren hielt am Dienſtag in Brünn eine Sitzung unter dem Vorſitze ſeines Obmannes Graf Zierotin ab. Abg. Dr. Fux gab namens des deutſchen Landtagsclubs die Erklärung ab, daß trotz der Verſchärfung der politiſchen Lage die dem deutſchen Landtagsclub angehörigen Mitglieder des Permanenzausſchuſſes ſich bereit finden, in Voll- ziehung des ihnen übertragenen Mandates und unter unverrückbarer Feſthaltung ihres principiellen Stand- punktes an den Berathungen dieſes Ausſchuſſes theil- zunehmen, um eine Thätigkeit nicht zu hindern, welche die Herbeiſchaffung eines die Forderungen beider nationaler Parteien und die Art ihrer Befriedigung klarſtellenden, bei Eintritt obiger Voraus- ſetzung und Wiederkehr normaler politiſcher Verhält- niſſe verwerthbaren Materials bezweckt. In der daran ſich ſchließenden Debatte wurde von czechiſcher Seite auf die Agitation gegen die Sprachenverordnungen und die deutſche Univerſität in Mähren hingewieſen und erklärt, der Zeitpunkt ſei für die Action ſehr un- günſtig gewählt. Die Vertreter des Großgrundbeſitzes machten auf die ungemein ſchwierige Stellung in dieſer Frage aufmerkſam und wieſen daraufhin, daß ſich eine politiſche Conſtellation ergeben könnte, in der die Vor- arbeiten praktiſche Verwerthung finden könnten. Schließ- lich einigte man ſich dahin, daß Referate und Kor- referate zu vervielfältigen und den Mitgliedern des Ausſchuſſes rechtzeitig einzuhändigen ſeien und daß der Obmann erſucht werde, im Laufe des Monats Auguſt eine neue Sitzung einzuberufen. Der Hetzer auf dem Prager Bürgermeiſter- ſtuhl, Dr. Podlipny, iſt geſtern in Brünn zur Palacky-Feier eingetroffen und hat durch ſeine An- weſenheit ſich zum Mitſchuldigen an der Provocirung der Deutſchen gemacht. Es kam, wie wir an anderer Stelle berichten, zu Krawallen und Zuſammenſtößen zwiſchen Deutſchen, Socialdemokraten und Czechen. Budapeſt. (Ungariſches Abgeordneten- haus.) In der heutigen Sitzung wurde der Geſetzentwurf betreffend die Bedeckung der Koſten der öffentlichen Kranken- pflege in dritter Leſung votirt. Zu Beginn der Sitzung reichte Honvedminiſter Baron Fejervary in Ver- tretung des Finanzminiſters einen Geſetzent- wurf betreffend die Einführung der Weingetränkeſteuer in Croatien und Slavonien ein. Der Geſetzentwurf ordnet die Aufhebung der Weingetränkeſchank- ſteuer und die Einführung der Wein- getränkeſteuer an. Am Schluſſe der Sitzung richtete Abg. Franz Sima eine dringende Interpellation an den Miniſter des Innern und der Juſtiz in der Ange- legenheit des Cſongrader Pfarrers Hegyi. Die nächſte Sitzung findet morgen ſtatt. Tagesordnung: Miniſterialbericht über die Uebernahme der ſtaatlichen Maſchinen- fabriken in das Reſſort des Finanzminiſters, ferner die Conſumſteuervorlagen. Türkei. Konſtantinopel, 13. Juni. Die auf dem Landweg aus Theſſalien abgegangenen Trup- pen ſind in die heimatlichen Garniſoneu zurückgekehrt. In Katerina am Golf vor Salo- nichi harren die letzten zwölf Bataillone des Trans- portes zur See. An der theſſaliſchen Grenze ſind unter Omer Neſchat Paſcha 16 Bataillone, 4 Gebirgsbatterien und 1 Cavallerieregiment zurückgeblieben. An der Grenze von Epirus bleiben unter Hairi Paſcha 12 Ba- taillone und 3 Batterien. Rußland. Ein Ueberfall auf ruſſiſche Truppeu in Turkeſtan. Dem amtlichen Berichte zu Folge dauerte der Ende Mai im Kreiſe Margelan (Ferghana- Gebiet) erfolgte Ueberfall der über 1000 Mann zählenden Bande Muhamed Ali Chans auf das 163 Soldaten ſtarke Militärlager und die Abwehr des Ueberfalles kaum eine Viertelſtunde. Elf Leichen fielen in die Hände der Truppen, die übrigen Todten und Verwundeten wurden von den Fliehenden mit- genommen. Der Feind konnte wegen augenblicklichem Mangel an Cavallerie und Patronen nicht ſofort herige eben doch nichts Anderes als Dogmatik war, die der Verfaſſer alſo als Grundlage jeder Moral doch nicht entbehren konnte. Die Frage ſelbſt wird alſo beantwortet: „Der Menſch ſoll als vernunftbegabtes Weſen edel und gut ſein, nichts thun und nichts laſſen, was mit ſeinem eigenen Gewiſſen im Widerſpruch ſteht.“ Wieder iſt es keine objective Sittennorm, die aufgeſtellt wird, ſondern das ſubjective Gewiſſen iſt der alleinige moraliſche Geſetzgeber Liſt’s. Aber wie verſchiedenartig iſt dieſes Gewiſſen nicht bei den verſchiedenen Menſchen geartet? Wie ganz anders z. B. iſt das Gewiſſen des heidniſchen Indianers oder Menſchenfreſſers, des Moslim, des Juden und des Chriſten beſchaffen, und wie ver- ſchiedene Gewiſſen gibt es unter den Chriſten? Weite, enge, zarte, falſche Gewiſſen! Würde der Verfaſſer noch ſagen: „Wir ſollen nach der Natur, nach dem Natur- geſetze leben“, ſo hätte er wenigſtens eine objective Norm des Guten und des Schlechten, er käme dann freilich bloß auf den Standpunkt zurück, auf dem die alten Heiden ſtanden und auf den die modernen Heiden ebenfalls zurückgekehrt ſind, wobei ſie freilich die natürlichen Triebe, das iſt die ungeordneten Regungen der gefallenen Menſchennatur mit dem Naturgeſetz, das Gott ver- liehen, verwechſeln und auch ihnen zu folgen für erlaubt halten — d. h. wenn es Niemand bemerkt, wenn Niemand daran Anſtoß nimmt und Niemand darunter Schaden leidet. Im Weſentlichen beſchränkt ſich auch die Sitten- lehre Liſt’s thatſächlich auf die natürliche Religion, auf die Religion des ſogenannten anſtändigen Mannes. Sie iſt auch lediglich in den göttlichen Geſetzen enthalten, die Liſt nun- mehr aufzählt und die im Weſentlichen wieder auf die alten zehn Gebote Gottes, ſogar der Zahl nach, herauskommen, mit einigen Nuancen, die freilich nichts weniger als Verbeſſerungen des Decaloges ſind; z. B. das erſte Gebot: „Erkenne Gott und ſtöre anderen Menſchen ihren Gottes- glauben nicht!“ Eine nette Moral das. Wenn ich Jemanden auf falſchem Wege vielleicht einem Abgrunde zueilen ſehe, ſoll ich ihn nach Liſt nicht einmal darin ſtören dürfen! Nein, das iſt gewiß kein Gottesgeſetz. Niemanden ſeines Glaubens willen geringſchätzen, haſſen, verfolgen — das iſt Gottesgeſetz, iſt aber etwas weſentlich Anderes, als was Liſt als Gottesgeſetz proclamirt. Liſt führt auch eigene Sitten- und Wohl- fahrtsgeſetze an, darunter ein höchſt origi- nelles, aber recht bezeichnendes: „Bereue Deine Fehler und ſuche Dich zu beſſern, Betrete das Gotteshaus nicht, wenn Du Dich ſchuldbela- den und unbußfertig fühlſt!“ Nun ſchuldbeladen dürfte ſich jeder Menſch fühlen — alſo dürfte Niemand das Gotteshaus betreten. Wie aber verträgt ſich das mit der Gottesidee, da doch auch der Verfaſſer Gott als den ewig unendlich Gütigen hinſtellt? Soll etwa das Kind, das ſich gegen die Eltern verfehlt hat, vom Vaterhauſe verbannt ſein? Soll ſelbſt dem unbußfertigen Kinde die Schwelle des- ſelben ſtets verſchloſſen ſein? Vielleicht wird das verſtockte Kind gerade im Vater- hauſe wieder beſſeren Gefühlen zugänglich. Wie uns ſcheint, dient dieſe Moraltheſe nur zur Be- ſchwichtigung des Gewiſſens ſo Maucher, die ſich vom Gotteshauſe fernhalten, nicht etwa aus Demuth, ſondern aus ganz anderen Gründen! Eine merkwürdige Moral liegt auch in dem fol- genden Satze: „Die Uebertretung gegen dieſe Geſetze iſt eine Sünde, und die größten Sünden ſind jene, welche uns die Verachtung unſerer Mit- menſchen zuziehen“. Nun ſind es aber thatſächlich oft die größten Sünden, ja ſelbſt Verbrechen, welche die Verachtung der Mitmenſchen abſolut nicht nach ſich ziehen, ſondern ſogar oft Ehrentitel ſind. Ge- heime Sünden entgehen der Verachtung, ſind aber oft ſchändlichſter Natur; die Verachtung jeder poſitiven Religion iſt gewiß eine ſchwere Sünde, ſteht aber bei der Menſchheit vielfach hoch in Ehren. Wir erinnern ferner an politiſche Verbrechen, Verbrechen an der Börſe, ungerechte Kriege, die ſogar Ruhmestitel werden, wenn ſie nur den Erfolg hatten. Von Himmel in der Ewigkeit weiß Guido Liſt nichts, alſo lehrt er auch nichts darüber, obſchon er ſelbſt ſagt, daß der Menſch beſtimmt ſei, glückſelig zu werden, und obſchon er die Unſterblichkeit der Seele annimmt: „Unſere Seele, der Gottesfunke, wird ſich wieder mit Gott vereinen.“ Im übrigen unter- ſtreicht er ſogar den Satz: Die Erfüllung der Tugenden und Pflichten gewährt Dir ein erhebendes Bewußtſein, ein beſeligendes Selbſtgefühl und ein reines Gewiſſen, und dieſes iſt der Himmel in der Menſchenbruſt, dieſes Seligkeits- gefühl iſt Gottes Lohn. Iſt damit der Menſch wirklich befriedigt?! Genügt dieſer Lohn, um die Meiſten gegenüber den Verlockungen des Schlechten auf dem Pfad der Pflicht und Tugend zu halten? Natürlich kennt Liſt noch viel weniger eine Hölle; das böſe Gewiſſen, das peinigende Schuldbewußtſein iſt nach ihm die Hölle auf Erden. „Gemieden und verachtet von ſeinen Mitmenſchen [??] endet fluchbeladen der Laſterhafte ſein elendes Daſein. Und das iſt Gottes Strafe!“ Gerade die Sünden und Schlechtigkeiten, die am meiſten den Menſchen ſchänden und der Menſchheit ſchaden, ziehen ſtatt des Fluches die Ehren der Welt herab. Die Un- gerechtigkeit und das Laſter triumphirt meiſt auf Erden! Das ſollte die Strafe Gottes ſein? Das ſollte vom Laſter abſchrecken? Und wo bleibt denn die Sühne für den beleidigten Gott ſelbſt? Die ausreichende Sühne für die Beleidigung des Unendlichen?! Wie wir ſehen, iſt die ganze neue Religion Liſt’s, von einigen germaniſch-völkiſchen Anwendungen und Redensarten, nichts Anderes als die rein natürliche Religion des „anſtändigen“ Mannes, die aber jeder objectiven Norm, jedes poſitiven, feſten Haltes entbehrt, in ſich vielfach widerſpruchsvoll erſcheint, viel Schiefes, manches direct Unhaltbare enthält, von den Thatſachen der Offenbarung und des Chriſtenthums gänzlich ab- ſieht, im Weſentlichen alſo nur eine ins Deutſche über- ſetzte Allerweltsreligion darſtellt, die allerdings Jeder acceptiren kann, daß ſich ſie Jeder nach Gutdünken zum Privatgebrauch zurechtlegen kann. Sie iſt weder wiſſenſchaftlich, noch ſittlich ſo hochſtehend, daß ſie ge- eignet wäre, die altehrwürdige Religion des vom Heiden- thum zum Chriſtenthum übergetretenen deutſchen Volkes zu erſetzen.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 133, Wien, 14.06.1898, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost133_1898/2>, abgerufen am 24.11.2024.