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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Gemeingefühl derer über, welche weit mehr lesen als
denken. Damit war der Stoff fertig und bereit, weil
das Publikum es war, der Schriftsteller durfte ihn nur
aufnehmen, und Herrn und Damen aller Stände nah-
men sofort nicht den geringsten Anstand ihm zu folgen,
wenn er sie erzählend durch den duftenden Stall und
die qualmende Küche, über die Mistpfützen durch das
gackernde Geflügel, auf den schwülen Tanzboden und
zum cyclopischen Hochzeitschmauß führte, und Alles lief
zu ihrer größten Befriedigung ab und sie dachten am
Ende: non olet! -- oder nein, das dachten sie nicht
einmal, und es fiel ihnen während der Geschichte nicht
Einmal bei, das Schnupftuch zu brauchen oder das
Kleid zu lüpfen.

Als ich Auerbachs neuesten Roman zur Hand
nahm, wußte ich nicht, ob ich etwas darüber sagen
würde. Jch habe nichts darüber gesagt, dagegen vielerlei,
was mir bei der Gelegenheit in den Sinn gekommen.
Jch bin dem Dichter dankbar dafür, wenn es auch die
Leser noch so wenig mir danken sollten, daß ich diese
Gedanken wiedergegeben. Dem Buche selbst ist der Dank
der Genießenden gewiß, und es ist hinlänglich empfoh-
len, wenn versichert wird, daß die eigenthümliche Vir-
tuosität, die ihn vor so vielen Nebenbuhlern und Nach-
ahmern auszeichnet, ihm auch hier treu geblieben ist, ja
daß er dießmal einen weiblichen Charakter geschaffen
hat, der an poetischer Wahrheit und Liebenswürdigkeit
die früheren wohlbekannten Gestalten noch übertreffen
mag: eine reich begabte Natur, die aus den niedrigsten
Verhältnissen heraus mit unbewußter Kraft das eigene
Leben recht eigentlich künstlerisch gestaltet und in naiver
Sicherheit andern zum Segen wird.

Wie hoch Auerbachs Leistungen poetisch stehen, das
erkennt man, wie mir dünkt, besonders daran, daß man,
während man ihn erzählen hört, von der Mühe des
Studiums und dem Fleiß der Beobachtung nicht das
Geringste gewahr wird, und daß man doch vor eben
diesen Bildern, wenn man sie mit dem Verstand be-
trachtet, diese Mühe und diesen Fleiß nicht gering an-
schlagen kann. Daß der Aufwand daran nicht unbe-
deutend ist, mögen vielfach die Schriftsteller inne ge-
worden seyn, die sich mit einer an den früheren Ro-
manstyl gewöhnten Hand der neuen Gattung zugewendet
haben. Es zeigt sich hier, wie der wissenschaftliche
Charakter der Zeit auch auf den literarischen seinen
Einfluß übt. Die wissenschaftliche Arbeit wird keines-
wegs leichter und bequemer, je weiter sie in Breite und
Tiefe vorrückt; im Gegentheil, die Forschung wird im-
mer peinlicher und mühseliger, wie der Bergbau, je
tiefer er seine Schachte treibt. Die schöne Literatur
kann aber nicht umhin, bei der Behandlung der ge-
[Spaltenumbruch] wählten Stoffe sich auf die Standpunkte der heutigen
Erkenntniß zu stellen, und so muß ihr heute in vielen
Richtungen eine Leichtfertigkeit der Arbeit, ein fa presto
der Feder versagt seyn, dem sie sich oft vor noch gar
nicht langer Zeit bequemlich überlassen durfte. So
haben sich z. B. durch die höchst bedeutenden Fortschritte
in der Alterthumswissenschaft eine Menge neuer Be-
griffe und Vorstellungen allgemein verbreitet, und einer,
der die antike Welt irgendwie poetisch behandeln will,
wird, er mag noch so wenig gelehrt seyn, mancherlei
gelernt haben müssen, wovon Wolf und Jacobs nichts
wußten. So bedingt denn auch der sociale Roman,
wie er heute aufgefaßt wird, von selbst ganz andere
und ernstere Vorbereitungen, als der, für den der Ro-
manschreiber fast immer nur in der Literatur selbst
Studien machte, nie in irgend einem Lebenskreise, kaum
in seinem eigenen. Der Mann der Wissenschaft, den
der Rücken schmerzt, indem er den Kreislauf des Jn-
fusoriums am Mikroskop beobachtet, mag sich in die
schöne naturphilosophische Zeit zurückwünschen, wo man
Disciplinen aus freier Hand machte und Naturgeschichte
aus ganzem Holze schnitt. Nicht anders ergeht es dem
Schriftsteller, der früher seinen Roman nach dem Lei-
sten der Romantik oder des jungen Deutschlands zuge-
schnitten hatte. Es war ihm vergönnt, seine Figuren
in eine selbstfabricirte Natur und in eine conventionelle
Sittlichkeit zu stellen, und jetzt werden ihm Lokalstudien
aller Art zugemuthet, und man verzeiht ihm am Ende
eher, daß er seine Menschen, als daß er ihre Natur-
umgebung verzeichnet.

Es gibt Dorfgeschichten, in denen einen der Bauer
in seiner Wirthschaft ansieht wie ein Daguerreotyp,
schillernd, starr, mit blöden albernen Augen, gerade so
dastehend, wie er zurechtgerückt worden. Andere ge-
mahnen an die Bildnisse des Hausherrn und der Haus-
frau, wie sie in mittleren Häusern, zu zwei Louisd'or
das Stück, entsetzlich getroffen über dem Sopha hängen.
Die Gattung hat aber auch wahre, gute Porträtmaler
aufzuweisen, und man spricht sicher kein geringes Lob
aus, wenn man Auerbach, Alles in einander gerechnet,
für den besten hält. Die Menschen, die er macht,
meint man schon oft gesehen zu haben, und doch sind
sie keine Copien der Wirklichkeit und weit über die ge-
meine Natur hinausgehoben; gerade deßhalb aber blicken
uns seine Schilderungen so vertraut an, und eben dieß
haben sie mit dem ächten Bildniß gemein.

Wenn nun aber in seiner neuesten Novelle eine
Gänsehirtin einen Bauernsohn bekommt, und wenn diese
wehmüthige und heitere, rührende und lustige Geschichte
der gebildeten wie der naturalistischen Leserin ganz die-
selben Sensationen gibt, wie wenn etwa eine Gouvernante
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Gemeingefühl derer über, welche weit mehr lesen als
denken. Damit war der Stoff fertig und bereit, weil
das Publikum es war, der Schriftsteller durfte ihn nur
aufnehmen, und Herrn und Damen aller Stände nah-
men sofort nicht den geringsten Anstand ihm zu folgen,
wenn er sie erzählend durch den duftenden Stall und
die qualmende Küche, über die Mistpfützen durch das
gackernde Geflügel, auf den schwülen Tanzboden und
zum cyclopischen Hochzeitschmauß führte, und Alles lief
zu ihrer größten Befriedigung ab und sie dachten am
Ende: non olet! — oder nein, das dachten sie nicht
einmal, und es fiel ihnen während der Geschichte nicht
Einmal bei, das Schnupftuch zu brauchen oder das
Kleid zu lüpfen.

Als ich Auerbachs neuesten Roman zur Hand
nahm, wußte ich nicht, ob ich etwas darüber sagen
würde. Jch habe nichts darüber gesagt, dagegen vielerlei,
was mir bei der Gelegenheit in den Sinn gekommen.
Jch bin dem Dichter dankbar dafür, wenn es auch die
Leser noch so wenig mir danken sollten, daß ich diese
Gedanken wiedergegeben. Dem Buche selbst ist der Dank
der Genießenden gewiß, und es ist hinlänglich empfoh-
len, wenn versichert wird, daß die eigenthümliche Vir-
tuosität, die ihn vor so vielen Nebenbuhlern und Nach-
ahmern auszeichnet, ihm auch hier treu geblieben ist, ja
daß er dießmal einen weiblichen Charakter geschaffen
hat, der an poetischer Wahrheit und Liebenswürdigkeit
die früheren wohlbekannten Gestalten noch übertreffen
mag: eine reich begabte Natur, die aus den niedrigsten
Verhältnissen heraus mit unbewußter Kraft das eigene
Leben recht eigentlich künstlerisch gestaltet und in naiver
Sicherheit andern zum Segen wird.

Wie hoch Auerbachs Leistungen poetisch stehen, das
erkennt man, wie mir dünkt, besonders daran, daß man,
während man ihn erzählen hört, von der Mühe des
Studiums und dem Fleiß der Beobachtung nicht das
Geringste gewahr wird, und daß man doch vor eben
diesen Bildern, wenn man sie mit dem Verstand be-
trachtet, diese Mühe und diesen Fleiß nicht gering an-
schlagen kann. Daß der Aufwand daran nicht unbe-
deutend ist, mögen vielfach die Schriftsteller inne ge-
worden seyn, die sich mit einer an den früheren Ro-
manstyl gewöhnten Hand der neuen Gattung zugewendet
haben. Es zeigt sich hier, wie der wissenschaftliche
Charakter der Zeit auch auf den literarischen seinen
Einfluß übt. Die wissenschaftliche Arbeit wird keines-
wegs leichter und bequemer, je weiter sie in Breite und
Tiefe vorrückt; im Gegentheil, die Forschung wird im-
mer peinlicher und mühseliger, wie der Bergbau, je
tiefer er seine Schachte treibt. Die schöne Literatur
kann aber nicht umhin, bei der Behandlung der ge-
[Spaltenumbruch] wählten Stoffe sich auf die Standpunkte der heutigen
Erkenntniß zu stellen, und so muß ihr heute in vielen
Richtungen eine Leichtfertigkeit der Arbeit, ein fa presto
der Feder versagt seyn, dem sie sich oft vor noch gar
nicht langer Zeit bequemlich überlassen durfte. So
haben sich z. B. durch die höchst bedeutenden Fortschritte
in der Alterthumswissenschaft eine Menge neuer Be-
griffe und Vorstellungen allgemein verbreitet, und einer,
der die antike Welt irgendwie poetisch behandeln will,
wird, er mag noch so wenig gelehrt seyn, mancherlei
gelernt haben müssen, wovon Wolf und Jacobs nichts
wußten. So bedingt denn auch der sociale Roman,
wie er heute aufgefaßt wird, von selbst ganz andere
und ernstere Vorbereitungen, als der, für den der Ro-
manschreiber fast immer nur in der Literatur selbst
Studien machte, nie in irgend einem Lebenskreise, kaum
in seinem eigenen. Der Mann der Wissenschaft, den
der Rücken schmerzt, indem er den Kreislauf des Jn-
fusoriums am Mikroskop beobachtet, mag sich in die
schöne naturphilosophische Zeit zurückwünschen, wo man
Disciplinen aus freier Hand machte und Naturgeschichte
aus ganzem Holze schnitt. Nicht anders ergeht es dem
Schriftsteller, der früher seinen Roman nach dem Lei-
sten der Romantik oder des jungen Deutschlands zuge-
schnitten hatte. Es war ihm vergönnt, seine Figuren
in eine selbstfabricirte Natur und in eine conventionelle
Sittlichkeit zu stellen, und jetzt werden ihm Lokalstudien
aller Art zugemuthet, und man verzeiht ihm am Ende
eher, daß er seine Menschen, als daß er ihre Natur-
umgebung verzeichnet.

Es gibt Dorfgeschichten, in denen einen der Bauer
in seiner Wirthschaft ansieht wie ein Daguerreotyp,
schillernd, starr, mit blöden albernen Augen, gerade so
dastehend, wie er zurechtgerückt worden. Andere ge-
mahnen an die Bildnisse des Hausherrn und der Haus-
frau, wie sie in mittleren Häusern, zu zwei Louisd'or
das Stück, entsetzlich getroffen über dem Sopha hängen.
Die Gattung hat aber auch wahre, gute Porträtmaler
aufzuweisen, und man spricht sicher kein geringes Lob
aus, wenn man Auerbach, Alles in einander gerechnet,
für den besten hält. Die Menschen, die er macht,
meint man schon oft gesehen zu haben, und doch sind
sie keine Copien der Wirklichkeit und weit über die ge-
meine Natur hinausgehoben; gerade deßhalb aber blicken
uns seine Schilderungen so vertraut an, und eben dieß
haben sie mit dem ächten Bildniß gemein.

Wenn nun aber in seiner neuesten Novelle eine
Gänsehirtin einen Bauernsohn bekommt, und wenn diese
wehmüthige und heitere, rührende und lustige Geschichte
der gebildeten wie der naturalistischen Leserin ganz die-
selben Sensationen gibt, wie wenn etwa eine Gouvernante
[Ende Spaltensatz]

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Die schöne Literatur kann aber nicht umhin, bei der Behandlung der ge- wählten Stoffe sich auf die Standpunkte der heutigen Erkenntniß zu stellen, und so muß ihr heute in vielen Richtungen eine Leichtfertigkeit der Arbeit, ein fa presto der Feder versagt seyn, dem sie sich oft vor noch gar nicht langer Zeit bequemlich überlassen durfte. So haben sich z. B. durch die höchst bedeutenden Fortschritte in der Alterthumswissenschaft eine Menge neuer Be- griffe und Vorstellungen allgemein verbreitet, und einer, der die antike Welt irgendwie poetisch behandeln will, wird, er mag noch so wenig gelehrt seyn, mancherlei gelernt haben müssen, wovon Wolf und Jacobs nichts wußten. So bedingt denn auch der sociale Roman, wie er heute aufgefaßt wird, von selbst ganz andere und ernstere Vorbereitungen, als der, für den der Ro- manschreiber fast immer nur in der Literatur selbst Studien machte, nie in irgend einem Lebenskreise, kaum in seinem eigenen. Der Mann der Wissenschaft, den der Rücken schmerzt, indem er den Kreislauf des Jn- fusoriums am Mikroskop beobachtet, mag sich in die schöne naturphilosophische Zeit zurückwünschen, wo man Disciplinen aus freier Hand machte und Naturgeschichte aus ganzem Holze schnitt. Nicht anders ergeht es dem Schriftsteller, der früher seinen Roman nach dem Lei- sten der Romantik oder des jungen Deutschlands zuge- schnitten hatte. Es war ihm vergönnt, seine Figuren in eine selbstfabricirte Natur und in eine conventionelle Sittlichkeit zu stellen, und jetzt werden ihm Lokalstudien aller Art zugemuthet, und man verzeiht ihm am Ende eher, daß er seine Menschen, als daß er ihre Natur- umgebung verzeichnet. Es gibt Dorfgeschichten, in denen einen der Bauer in seiner Wirthschaft ansieht wie ein Daguerreotyp, schillernd, starr, mit blöden albernen Augen, gerade so dastehend, wie er zurechtgerückt worden. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/6>, abgerufen am 25.11.2024.