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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Moll, Forte und Piano, Andante und Pianissimo,
Wildheit und Sentimentalität, Läufe in's Unmögliche,
Ausflüge nach allen Richtungen erdrücken, ersäufen das
arme Thema: der Effekt scheint der Zweck all dieses
Aufwandes, und um diesen zu erreichen, ist nichts zu
barock, nichts zu paradox. Ebenfalls wie ein Virtuos
scheint er für jenen höchsten Ruhm des Künstlers, über
das Kunstwerk vergessen zu werden, keinen Sinn zu
haben; im Gegentheil scheint Michelet, wenn er nur
vier Seiten lang bei seinem Gegenstand geblieben, von
der Angst überfallen, das Publikum könnte ihn, Mi-
chelet, über Guise, Elisabeth, Maria Stuart, Coligny,
Philipp II. vergessen haben, und mit einem male steht
er mit einem Je oder Moi und einem darauf folgenden
Witz, Paradoxon, Fluch oder Segen mitten in dieser
illustern Gesellschaft, unbekümmert darum, daß er sich
mit seinem Frack, seiner weißen Crawatte und seinem
Gesichte von 1856 unter diesen Gekrönten, Bepurpur-
ten, mit Schwert und Dolch Bewaffneten höchst lächer-
lich ausnimmt. Er benimmt sich mit diesen großen oder
unheimlichen Gestalten so familiär, daß wir allen Re-
spekt vor ihnen verlieren.

Daß bei einer so ununterdrückbaren und aufdring-
lichen Subjektivität von einer epischen Darstellung gar
nicht oder nur selten die Rede seyn kann, versteht sich
von selbst. Doch ist nicht zu leugnen, daß er Charakter
und Stimmung der geschilderten Zeit hervorzubringen
versteht oder unwillkürlich hervorbringt. Er trägt so
vielerlei zusammen, er läßt so zahlreiche Personen auf-
treten, er citirt so charakteristische Worte und That-
sachen, daß man mitten im Gedränge steht, daß man
mit den Ligueurs durch die Gassen wüthet, Barrikaden
baut, in Blois intriguirt, mordet, Reden hält; aber
man steht eben mitten darin, man sieht, was Einem
vor der Nase vorgeht, einen historischen Ueberblick hat
man nicht. Dazu bedürfte es eines überschauenden
Standpunktes außerhalb des Gedränges und Gemetzels.
Jn dieser Darstellungsweise hat Michelet einige Aehn-
lichkeit mit Thomas Carlyle, nur daß Carlyle in der
Fülle seiner poetischen Seele seinen Reichthum in kur-
zen, gehackten Sätzen herausstottert und oft auf höchst
aufregende Weise wie eine Pythia stammelt, während
Michelet als Franzose im Gegentheil zeitweilige Ar-
muth oder Oberflächlichkeit mit dem Glanze und dem
Faltenwurf einer breiten und weitbauschigen Phrase
bedeckt.

Schade, daß es wahr ist, wahr, daß es schade ist:
Michelet hat so viel Zeug zu einem bedeutenden Histo-
riker in sich, und er macht sich zu einem kanzelklopfenden
Prediger; er könnte ein großer Künstler seyn, und er ver-
letzt die ewige Nothwendigkeit der Form so oft, daß er
[Spaltenumbruch] nach Dilettantismus riecht; er könnte ein wirklicher Ge-
lehrter und Forscher seyn, und er zeigt sein Wissen so
mal a propos und so absichtlich, daß man einen einge-
bildeten Autodidakten vor sich zu haben glaubt; er sagt
eines Weisen würdige Wahrheiten, aber sagt sie auf
eine Weise, daß man einen Schauspieler aus ihm her-
auszuhören meint; er sieht mit klarem und scharfem
Auge in dunkle Fernen, und übersieht das Nächste, das
ihm selbst Noth thut. Man könnte sagen: Michelet hat
die Gabe des zweiten Gesichts, aber das erste fehlt ihm.

Alles Tadelnde, das im Vorhergehenden gesagt ist,
gilt von gewissen Stellen und ganzen Kapiteln des
Buchs über die Ligue nur zum Theil oder gar nicht.
So nicht von dem Kapitel über den Terrorismus der
Ligue, den Michelet schrecklicher und schauderhafter als
den Terrorismus von 1793 und überaus anschaulich
darstellt. Er behauptet und weist es unwiderleglich nach,
daß nicht der dritte Theil des französischen Volks ligui-
stisch gesinnt war, und daß nur der mönchisch=guisardisch-
spanisch combinirte Terrorismus Frankreich scheinbar
liguistisch gemacht und es zu einem geheuchelten Fana-
tismus gezwungen. Ein anderes Kapitel, das wir schon
der Gerechtigkeit wegen hervorheben müssen, da wir
kürzlich in einem Bericht aus Paris behauptet, daß
noch kein Franzose Maria Stuart im wahren Lichte dar-
gestellt, ist das über diese Königin, das sie und die
Wichtigkeit, die sie während ihrer Gefangenschaft gehabt,
und die Jntriguen und Verschwörungen, deren Mittel-
punkt sie gewesen, auf meisterhafte Weise, höchst klar,
vorurtheilsfrei und unparteiisch schildert. An diese Zu-
stände anknüpfend, setzt er mit vielem Geiste die Folgen
der jesuitischen, königsmörderischen Lehren auseinander,
zeigt er den Zwang, der auf Elisabeth gewirkt hat, und
wie alle Attentate, alle Jntriguen, alle Eroberungs-
plane und Träume Philipps, Don Juans, der Medi-
ceerin, der Guisen, Marias wie ein Netz zusammen
hingen, sich kreuzten und Frankreich, Spanien, Jtalien,
die Niederlande und Großbritannien bedeckten. Mit sehr
großem Scharfsinn, mit dem Jnstinkte der Feindschaft,
hier der Feindschaft gegen Jesuiten und spanischen De-
spotismus, entdeckt und verfolgt er die Fäden dieses
Netzes und die unterirdischen Gänge, ob sie nun aus
dem Eskorial, aus dem Vatikan, aus den Seminaren
von Rheims und Douais oder von Paris ausgehen.

Das dritte Kapitel, das wir seines dramatischen
Jnteresses wegen hervorheben, ist die Schilderung der
Ermordung Heinrichs von Guise durch seinen König,
den er zur Verzweiflung gebracht, den er wie einen
Chilperich in's Kloster stecken wollte, und ihn, den Schwäch-
ling, so zu einer blutig energischen That aufreizte, deren
ihn niemand für fähig gehalten hätte. Da das Buch
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Moll, Forte und Piano, Andante und Pianissimo,
Wildheit und Sentimentalität, Läufe in's Unmögliche,
Ausflüge nach allen Richtungen erdrücken, ersäufen das
arme Thema: der Effekt scheint der Zweck all dieses
Aufwandes, und um diesen zu erreichen, ist nichts zu
barock, nichts zu paradox. Ebenfalls wie ein Virtuos
scheint er für jenen höchsten Ruhm des Künstlers, über
das Kunstwerk vergessen zu werden, keinen Sinn zu
haben; im Gegentheil scheint Michelet, wenn er nur
vier Seiten lang bei seinem Gegenstand geblieben, von
der Angst überfallen, das Publikum könnte ihn, Mi-
chelet, über Guise, Elisabeth, Maria Stuart, Coligny,
Philipp II. vergessen haben, und mit einem male steht
er mit einem Je oder Moi und einem darauf folgenden
Witz, Paradoxon, Fluch oder Segen mitten in dieser
illustern Gesellschaft, unbekümmert darum, daß er sich
mit seinem Frack, seiner weißen Crawatte und seinem
Gesichte von 1856 unter diesen Gekrönten, Bepurpur-
ten, mit Schwert und Dolch Bewaffneten höchst lächer-
lich ausnimmt. Er benimmt sich mit diesen großen oder
unheimlichen Gestalten so familiär, daß wir allen Re-
spekt vor ihnen verlieren.

Daß bei einer so ununterdrückbaren und aufdring-
lichen Subjektivität von einer epischen Darstellung gar
nicht oder nur selten die Rede seyn kann, versteht sich
von selbst. Doch ist nicht zu leugnen, daß er Charakter
und Stimmung der geschilderten Zeit hervorzubringen
versteht oder unwillkürlich hervorbringt. Er trägt so
vielerlei zusammen, er läßt so zahlreiche Personen auf-
treten, er citirt so charakteristische Worte und That-
sachen, daß man mitten im Gedränge steht, daß man
mit den Ligueurs durch die Gassen wüthet, Barrikaden
baut, in Blois intriguirt, mordet, Reden hält; aber
man steht eben mitten darin, man sieht, was Einem
vor der Nase vorgeht, einen historischen Ueberblick hat
man nicht. Dazu bedürfte es eines überschauenden
Standpunktes außerhalb des Gedränges und Gemetzels.
Jn dieser Darstellungsweise hat Michelet einige Aehn-
lichkeit mit Thomas Carlyle, nur daß Carlyle in der
Fülle seiner poetischen Seele seinen Reichthum in kur-
zen, gehackten Sätzen herausstottert und oft auf höchst
aufregende Weise wie eine Pythia stammelt, während
Michelet als Franzose im Gegentheil zeitweilige Ar-
muth oder Oberflächlichkeit mit dem Glanze und dem
Faltenwurf einer breiten und weitbauschigen Phrase
bedeckt.

Schade, daß es wahr ist, wahr, daß es schade ist:
Michelet hat so viel Zeug zu einem bedeutenden Histo-
riker in sich, und er macht sich zu einem kanzelklopfenden
Prediger; er könnte ein großer Künstler seyn, und er ver-
letzt die ewige Nothwendigkeit der Form so oft, daß er
[Spaltenumbruch] nach Dilettantismus riecht; er könnte ein wirklicher Ge-
lehrter und Forscher seyn, und er zeigt sein Wissen so
mal à propos und so absichtlich, daß man einen einge-
bildeten Autodidakten vor sich zu haben glaubt; er sagt
eines Weisen würdige Wahrheiten, aber sagt sie auf
eine Weise, daß man einen Schauspieler aus ihm her-
auszuhören meint; er sieht mit klarem und scharfem
Auge in dunkle Fernen, und übersieht das Nächste, das
ihm selbst Noth thut. Man könnte sagen: Michelet hat
die Gabe des zweiten Gesichts, aber das erste fehlt ihm.

Alles Tadelnde, das im Vorhergehenden gesagt ist,
gilt von gewissen Stellen und ganzen Kapiteln des
Buchs über die Ligue nur zum Theil oder gar nicht.
So nicht von dem Kapitel über den Terrorismus der
Ligue, den Michelet schrecklicher und schauderhafter als
den Terrorismus von 1793 und überaus anschaulich
darstellt. Er behauptet und weist es unwiderleglich nach,
daß nicht der dritte Theil des französischen Volks ligui-
stisch gesinnt war, und daß nur der mönchisch=guisardisch-
spanisch combinirte Terrorismus Frankreich scheinbar
liguistisch gemacht und es zu einem geheuchelten Fana-
tismus gezwungen. Ein anderes Kapitel, das wir schon
der Gerechtigkeit wegen hervorheben müssen, da wir
kürzlich in einem Bericht aus Paris behauptet, daß
noch kein Franzose Maria Stuart im wahren Lichte dar-
gestellt, ist das über diese Königin, das sie und die
Wichtigkeit, die sie während ihrer Gefangenschaft gehabt,
und die Jntriguen und Verschwörungen, deren Mittel-
punkt sie gewesen, auf meisterhafte Weise, höchst klar,
vorurtheilsfrei und unparteiisch schildert. An diese Zu-
stände anknüpfend, setzt er mit vielem Geiste die Folgen
der jesuitischen, königsmörderischen Lehren auseinander,
zeigt er den Zwang, der auf Elisabeth gewirkt hat, und
wie alle Attentate, alle Jntriguen, alle Eroberungs-
plane und Träume Philipps, Don Juans, der Medi-
ceerin, der Guisen, Marias wie ein Netz zusammen
hingen, sich kreuzten und Frankreich, Spanien, Jtalien,
die Niederlande und Großbritannien bedeckten. Mit sehr
großem Scharfsinn, mit dem Jnstinkte der Feindschaft,
hier der Feindschaft gegen Jesuiten und spanischen De-
spotismus, entdeckt und verfolgt er die Fäden dieses
Netzes und die unterirdischen Gänge, ob sie nun aus
dem Eskorial, aus dem Vatikan, aus den Seminaren
von Rheims und Douais oder von Paris ausgehen.

Das dritte Kapitel, das wir seines dramatischen
Jnteresses wegen hervorheben, ist die Schilderung der
Ermordung Heinrichs von Guise durch seinen König,
den er zur Verzweiflung gebracht, den er wie einen
Chilperich in's Kloster stecken wollte, und ihn, den Schwäch-
ling, so zu einer blutig energischen That aufreizte, deren
ihn niemand für fähig gehalten hätte. Da das Buch
[Ende Spaltensatz]

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So nicht von dem Kapitel über den Terrorismus der Ligue, den Michelet schrecklicher und schauderhafter als den Terrorismus von 1793 und überaus anschaulich darstellt. Er behauptet und weist es unwiderleglich nach, daß nicht der dritte Theil des französischen Volks ligui- stisch gesinnt war, und daß nur der mönchisch=guisardisch- spanisch combinirte Terrorismus Frankreich scheinbar liguistisch gemacht und es zu einem geheuchelten Fana- tismus gezwungen. Ein anderes Kapitel, das wir schon der Gerechtigkeit wegen hervorheben müssen, da wir kürzlich in einem Bericht aus Paris behauptet, daß noch kein Franzose Maria Stuart im wahren Lichte dar- gestellt, ist das über diese Königin, das sie und die Wichtigkeit, die sie während ihrer Gefangenschaft gehabt, und die Jntriguen und Verschwörungen, deren Mittel- punkt sie gewesen, auf meisterhafte Weise, höchst klar, vorurtheilsfrei und unparteiisch schildert. An diese Zu- stände anknüpfend, setzt er mit vielem Geiste die Folgen der jesuitischen, königsmörderischen Lehren auseinander, zeigt er den Zwang, der auf Elisabeth gewirkt hat, und wie alle Attentate, alle Jntriguen, alle Eroberungs- plane und Träume Philipps, Don Juans, der Medi- ceerin, der Guisen, Marias wie ein Netz zusammen hingen, sich kreuzten und Frankreich, Spanien, Jtalien, die Niederlande und Großbritannien bedeckten. Mit sehr großem Scharfsinn, mit dem Jnstinkte der Feindschaft, hier der Feindschaft gegen Jesuiten und spanischen De- spotismus, entdeckt und verfolgt er die Fäden dieses Netzes und die unterirdischen Gänge, ob sie nun aus dem Eskorial, aus dem Vatikan, aus den Seminaren von Rheims und Douais oder von Paris ausgehen. Das dritte Kapitel, das wir seines dramatischen Jnteresses wegen hervorheben, ist die Schilderung der Ermordung Heinrichs von Guise durch seinen König, den er zur Verzweiflung gebracht, den er wie einen Chilperich in's Kloster stecken wollte, und ihn, den Schwäch- ling, so zu einer blutig energischen That aufreizte, deren ihn niemand für fähig gehalten hätte. Da das Buch

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/14>, abgerufen am 27.11.2024.