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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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J. Michelet's Ligue und Heinrich IV. [Beginn Spaltensatz]

Von J. Michelet, welcher seit vielen Jahren un-
ter verschiedenen Titeln, wie la Renaissance, la Re-
formation, les guerres de Religion
eine Reihe von
Büchern herausgibt, die einmal eine complete Geschichte
Frankreichs ausmachen werden, ist vor einigen Tagen
ein neues Buch dieser Reihenfolge erschienen. Es ist
betitelt: la Ligue et Henri IV. und umfaßt den Zeit-
raum von der Bartholomäusnacht excl. bis zum Ueber-
tritt des hugenottischen Königs zur katholischen Religion.

Wir haben dieses Buch mit großem Jnteresse in
die Hand genommen. Werden wir darin dem alten
Michelet begegnen? oder hat die Entfernung vom Col-
lege de France
, das er als ehrenwerther Charakter ver-
lassen, auf den Schriftsteller günstig gewirkt und die bösen
Gewohnheiten, deren Ursprung man mit Recht in diesem
Collegium suchen durfte, geschwächt oder gänzlich vertilgt?
Diese letzte Frage bedarf einer Erklärung. Das Col-
lege de France
ist eine der merkwürdigsten Lehranstal-
ten Europas; es ist vielleicht einzig in seiner Art unter
allen höheren Jnstituten. Das College de France ist
das eigentlichste College francais, eine ächteste Frucht
des Nationalcharakters. Sein Zweck scheint nicht zu
seyn, den Schülern solide Kenntnisse beizubringen, son-
dern das Solide, das der Schüler aus ernsthafteren
Lehrsälen mitgebracht, mit einer pikanten oder süßen
Sauce zu begießen. Es gibt dem Glanzlosen, Beschei-
denen die Politur; es leckt die wissenschaftlichen Bären;
es zieht dem Schüler die spanischen Stiefeln der Logik
ab und gibt ihm glanzlederne Tanzschuhe; es macht
das Tiefe seicht und das Hohe oberflächlich: mit Einem
Wort, es gibt das zu jedem Metier, zu jedem Fort-
kommen als nothwendig Anerkannte, die Charlatanerie.
Das College de France ist das Feuilleton der Sor-
bonne. Auf Methode und Wissenschaftlichkeit kommt
es da nicht an; die Vorlesungen bestehen aus großen
und pomphaften Wendungen, aus lyrischen Ergüssen,
Pointen, Witzen, satirischen Anspielungen, Tagesten-
denzphrasen und Geistmacherei. Das Publikum, das
zischt oder applaudirt, besteht neben den Studenten aus
allerlei Müßiggängern, aus Töchtern gebildeter Her-
kunft und aus künftigen und vergangenen Gouvernan-
ten und allerlei Blaustrümpfen, welche im College de
France
auch vor den anderswo trockensten Wissenschaf-
ten, wie Nationalökonomie und Geometrie, nicht er-
schrecken und sich am Ende der Vorlesung über ihr
eigenes Wissen verwundern und erstaunt sind, daß man
[Spaltenumbruch] dergleichen Wissenschaften als schwer zu bewältigend
und gar als langweilig verschrieen hat. Sie haben sich
so gut amusirt und Alles, Alles verstanden. Bedeu-
tendere Professoren haben das College de France nie-
mals ernst genommen und es meist als eine Sinecure
betrachtet. Sie haben entweder nie selbst gelesen, wie
Guizot, oder nur selten, wie Ampere. An diesem Colle-
gium lehrte der große Dichter und sonderbare Schwär-
mer, der Pole Mizkiewiecz, seinen Messianismus und
sein traumhaftes Slaventhum und lehrt noch heute
Philarete Chasles, der größte und frechste Jgnorant
des literarischen Demi=Monde, der in einer Schulstunde
mehr Unsinn zusammenspricht, als er in einem Schul-
jahre verantworten kann. Der poetische Träumer auf
der einen, der unwissende, freche Hanswurst auf der
andern Seite sind die charakteristischen, die beiden Pole
des Collegiums bezeichnenden Lehrer. Zwischen diesen bei-
den gibt es viel Ehrenwerthes, viel Bedeutendes, das
aber selten lange ungestraft in dieser Atmosphäre ver-
weilt.

Der Leser wird nach dieser kurzen Schilderung des
College de France schon ahnen, was die oben aufge-
worfene Frage zu bedeuten hat. Michelet war einer
der ehrenwerthesten und interessantesten Professoren des
Collegiums, aber eitel, applaus= und popularitätssüch-
tig hat er sich ganz dem dort herrschenden Geist und Ton
mit um so größerer Leichtigkeit hingegeben, als er Be-
redtsamkeit, ächtes und falsches Pathos, Witz und pa-
radoxen Geist, kurz alle die Mittel besaß, die im
College de France großen Ruhm erwerben. Er wurde
der effektreichste Professor, ein Coulissenreißer der Wis-
senschaft, ein großer Mime der Lehrkanzel, und bald
war er im Buche, was er im Collegium geworden. Sein
neuestes Buch, la Ligue et Henri IV., beweist uns,
daß ihn seine beinahe fünfjährige Zurückgezogenheit nicht
purificirt hat.

J. Michelet ist der eigenthümlichste Schriftsteller
der Welt. Obwohl er eigene und gründliche Studien
macht, selbst an die Quellen, und an unzählige und
verborgene zurück geht, obwohl er eigene Anschauungen
hat, viel Falsches in's wahre Licht setzt, eingewurzelte
Vorurtheile vernichtet und Neues vorbringt, verhält er
sich doch in vieler Beziehung zum eigentlichen Geschicht-
schreiber wie der Virtuos zum eigentlichen Musiker. Er
nimmt ein Thema vor und fängt an es zu variiren, und
bald sind die Variationen die Hauptsache. Dur und
[Ende Spaltensatz]


J. Michelet's Ligue und Heinrich IV. [Beginn Spaltensatz]

Von J. Michelet, welcher seit vielen Jahren un-
ter verschiedenen Titeln, wie la Renaissance, la Re-
formation, les guerres de Religion
eine Reihe von
Büchern herausgibt, die einmal eine complete Geschichte
Frankreichs ausmachen werden, ist vor einigen Tagen
ein neues Buch dieser Reihenfolge erschienen. Es ist
betitelt: la Ligue et Henri IV. und umfaßt den Zeit-
raum von der Bartholomäusnacht excl. bis zum Ueber-
tritt des hugenottischen Königs zur katholischen Religion.

Wir haben dieses Buch mit großem Jnteresse in
die Hand genommen. Werden wir darin dem alten
Michelet begegnen? oder hat die Entfernung vom Col-
lège de France
, das er als ehrenwerther Charakter ver-
lassen, auf den Schriftsteller günstig gewirkt und die bösen
Gewohnheiten, deren Ursprung man mit Recht in diesem
Collegium suchen durfte, geschwächt oder gänzlich vertilgt?
Diese letzte Frage bedarf einer Erklärung. Das Col-
lège de France
ist eine der merkwürdigsten Lehranstal-
ten Europas; es ist vielleicht einzig in seiner Art unter
allen höheren Jnstituten. Das Collège de France ist
das eigentlichste Collège français, eine ächteste Frucht
des Nationalcharakters. Sein Zweck scheint nicht zu
seyn, den Schülern solide Kenntnisse beizubringen, son-
dern das Solide, das der Schüler aus ernsthafteren
Lehrsälen mitgebracht, mit einer pikanten oder süßen
Sauce zu begießen. Es gibt dem Glanzlosen, Beschei-
denen die Politur; es leckt die wissenschaftlichen Bären;
es zieht dem Schüler die spanischen Stiefeln der Logik
ab und gibt ihm glanzlederne Tanzschuhe; es macht
das Tiefe seicht und das Hohe oberflächlich: mit Einem
Wort, es gibt das zu jedem Metier, zu jedem Fort-
kommen als nothwendig Anerkannte, die Charlatanerie.
Das Collège de France ist das Feuilleton der Sor-
bonne. Auf Methode und Wissenschaftlichkeit kommt
es da nicht an; die Vorlesungen bestehen aus großen
und pomphaften Wendungen, aus lyrischen Ergüssen,
Pointen, Witzen, satirischen Anspielungen, Tagesten-
denzphrasen und Geistmacherei. Das Publikum, das
zischt oder applaudirt, besteht neben den Studenten aus
allerlei Müßiggängern, aus Töchtern gebildeter Her-
kunft und aus künftigen und vergangenen Gouvernan-
ten und allerlei Blaustrümpfen, welche im Collège de
France
auch vor den anderswo trockensten Wissenschaf-
ten, wie Nationalökonomie und Geometrie, nicht er-
schrecken und sich am Ende der Vorlesung über ihr
eigenes Wissen verwundern und erstaunt sind, daß man
[Spaltenumbruch] dergleichen Wissenschaften als schwer zu bewältigend
und gar als langweilig verschrieen hat. Sie haben sich
so gut amusirt und Alles, Alles verstanden. Bedeu-
tendere Professoren haben das Collège de France nie-
mals ernst genommen und es meist als eine Sinecure
betrachtet. Sie haben entweder nie selbst gelesen, wie
Guizot, oder nur selten, wie Ampère. An diesem Colle-
gium lehrte der große Dichter und sonderbare Schwär-
mer, der Pole Mizkiewiecz, seinen Messianismus und
sein traumhaftes Slaventhum und lehrt noch heute
Philarète Chasles, der größte und frechste Jgnorant
des literarischen Demi=Monde, der in einer Schulstunde
mehr Unsinn zusammenspricht, als er in einem Schul-
jahre verantworten kann. Der poetische Träumer auf
der einen, der unwissende, freche Hanswurst auf der
andern Seite sind die charakteristischen, die beiden Pole
des Collegiums bezeichnenden Lehrer. Zwischen diesen bei-
den gibt es viel Ehrenwerthes, viel Bedeutendes, das
aber selten lange ungestraft in dieser Atmosphäre ver-
weilt.

Der Leser wird nach dieser kurzen Schilderung des
Collège de France schon ahnen, was die oben aufge-
worfene Frage zu bedeuten hat. Michelet war einer
der ehrenwerthesten und interessantesten Professoren des
Collegiums, aber eitel, applaus= und popularitätssüch-
tig hat er sich ganz dem dort herrschenden Geist und Ton
mit um so größerer Leichtigkeit hingegeben, als er Be-
redtsamkeit, ächtes und falsches Pathos, Witz und pa-
radoxen Geist, kurz alle die Mittel besaß, die im
Collège de France großen Ruhm erwerben. Er wurde
der effektreichste Professor, ein Coulissenreißer der Wis-
senschaft, ein großer Mime der Lehrkanzel, und bald
war er im Buche, was er im Collegium geworden. Sein
neuestes Buch, la Ligue et Henri IV., beweist uns,
daß ihn seine beinahe fünfjährige Zurückgezogenheit nicht
purificirt hat.

J. Michelet ist der eigenthümlichste Schriftsteller
der Welt. Obwohl er eigene und gründliche Studien
macht, selbst an die Quellen, und an unzählige und
verborgene zurück geht, obwohl er eigene Anschauungen
hat, viel Falsches in's wahre Licht setzt, eingewurzelte
Vorurtheile vernichtet und Neues vorbringt, verhält er
sich doch in vieler Beziehung zum eigentlichen Geschicht-
schreiber wie der Virtuos zum eigentlichen Musiker. Er
nimmt ein Thema vor und fängt an es zu variiren, und
bald sind die Variationen die Hauptsache. Dur und
[Ende Spaltensatz]

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[1141/0013] 1141 J. Michelet's Ligue und Heinrich IV. Von J. Michelet, welcher seit vielen Jahren un- ter verschiedenen Titeln, wie la Renaissance, la Re- formation, les guerres de Religion eine Reihe von Büchern herausgibt, die einmal eine complete Geschichte Frankreichs ausmachen werden, ist vor einigen Tagen ein neues Buch dieser Reihenfolge erschienen. Es ist betitelt: la Ligue et Henri IV. und umfaßt den Zeit- raum von der Bartholomäusnacht excl. bis zum Ueber- tritt des hugenottischen Königs zur katholischen Religion. Wir haben dieses Buch mit großem Jnteresse in die Hand genommen. Werden wir darin dem alten Michelet begegnen? oder hat die Entfernung vom Col- lège de France, das er als ehrenwerther Charakter ver- lassen, auf den Schriftsteller günstig gewirkt und die bösen Gewohnheiten, deren Ursprung man mit Recht in diesem Collegium suchen durfte, geschwächt oder gänzlich vertilgt? Diese letzte Frage bedarf einer Erklärung. Das Col- lège de France ist eine der merkwürdigsten Lehranstal- ten Europas; es ist vielleicht einzig in seiner Art unter allen höheren Jnstituten. Das Collège de France ist das eigentlichste Collège français, eine ächteste Frucht des Nationalcharakters. Sein Zweck scheint nicht zu seyn, den Schülern solide Kenntnisse beizubringen, son- dern das Solide, das der Schüler aus ernsthafteren Lehrsälen mitgebracht, mit einer pikanten oder süßen Sauce zu begießen. Es gibt dem Glanzlosen, Beschei- denen die Politur; es leckt die wissenschaftlichen Bären; es zieht dem Schüler die spanischen Stiefeln der Logik ab und gibt ihm glanzlederne Tanzschuhe; es macht das Tiefe seicht und das Hohe oberflächlich: mit Einem Wort, es gibt das zu jedem Metier, zu jedem Fort- kommen als nothwendig Anerkannte, die Charlatanerie. Das Collège de France ist das Feuilleton der Sor- bonne. Auf Methode und Wissenschaftlichkeit kommt es da nicht an; die Vorlesungen bestehen aus großen und pomphaften Wendungen, aus lyrischen Ergüssen, Pointen, Witzen, satirischen Anspielungen, Tagesten- denzphrasen und Geistmacherei. Das Publikum, das zischt oder applaudirt, besteht neben den Studenten aus allerlei Müßiggängern, aus Töchtern gebildeter Her- kunft und aus künftigen und vergangenen Gouvernan- ten und allerlei Blaustrümpfen, welche im Collège de France auch vor den anderswo trockensten Wissenschaf- ten, wie Nationalökonomie und Geometrie, nicht er- schrecken und sich am Ende der Vorlesung über ihr eigenes Wissen verwundern und erstaunt sind, daß man dergleichen Wissenschaften als schwer zu bewältigend und gar als langweilig verschrieen hat. Sie haben sich so gut amusirt und Alles, Alles verstanden. Bedeu- tendere Professoren haben das Collège de France nie- mals ernst genommen und es meist als eine Sinecure betrachtet. Sie haben entweder nie selbst gelesen, wie Guizot, oder nur selten, wie Ampère. An diesem Colle- gium lehrte der große Dichter und sonderbare Schwär- mer, der Pole Mizkiewiecz, seinen Messianismus und sein traumhaftes Slaventhum und lehrt noch heute Philarète Chasles, der größte und frechste Jgnorant des literarischen Demi=Monde, der in einer Schulstunde mehr Unsinn zusammenspricht, als er in einem Schul- jahre verantworten kann. Der poetische Träumer auf der einen, der unwissende, freche Hanswurst auf der andern Seite sind die charakteristischen, die beiden Pole des Collegiums bezeichnenden Lehrer. Zwischen diesen bei- den gibt es viel Ehrenwerthes, viel Bedeutendes, das aber selten lange ungestraft in dieser Atmosphäre ver- weilt. Der Leser wird nach dieser kurzen Schilderung des Collège de France schon ahnen, was die oben aufge- worfene Frage zu bedeuten hat. Michelet war einer der ehrenwerthesten und interessantesten Professoren des Collegiums, aber eitel, applaus= und popularitätssüch- tig hat er sich ganz dem dort herrschenden Geist und Ton mit um so größerer Leichtigkeit hingegeben, als er Be- redtsamkeit, ächtes und falsches Pathos, Witz und pa- radoxen Geist, kurz alle die Mittel besaß, die im Collège de France großen Ruhm erwerben. Er wurde der effektreichste Professor, ein Coulissenreißer der Wis- senschaft, ein großer Mime der Lehrkanzel, und bald war er im Buche, was er im Collegium geworden. Sein neuestes Buch, la Ligue et Henri IV., beweist uns, daß ihn seine beinahe fünfjährige Zurückgezogenheit nicht purificirt hat. J. Michelet ist der eigenthümlichste Schriftsteller der Welt. Obwohl er eigene und gründliche Studien macht, selbst an die Quellen, und an unzählige und verborgene zurück geht, obwohl er eigene Anschauungen hat, viel Falsches in's wahre Licht setzt, eingewurzelte Vorurtheile vernichtet und Neues vorbringt, verhält er sich doch in vieler Beziehung zum eigentlichen Geschicht- schreiber wie der Virtuos zum eigentlichen Musiker. Er nimmt ein Thema vor und fängt an es zu variiren, und bald sind die Variationen die Hauptsache. Dur und

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/13>, abgerufen am 25.06.2024.