Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
Nehmen wir das auffallendste Beispiel dieses ( Schluß folgt. ) Der Wunderknabe von Bristol. [Beginn Spaltensatz]
Novelle. ( Fortsetzung. ) Zu derselben Zeit, da diese Entschlüsse reisten, "Schönen guten Tag, Herr Lambert!" rief der- Mit diesen Worten präsentirte er eine Schnupf- [Beginn Spaltensatz]
Nehmen wir das auffallendste Beispiel dieses ( Schluß folgt. ) Der Wunderknabe von Bristol. [Beginn Spaltensatz]
Novelle. ( Fortsetzung. ) Zu derselben Zeit, da diese Entschlüsse reisten, „Schönen guten Tag, Herr Lambert!“ rief der- Mit diesen Worten präsentirte er eine Schnupf- <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <pb facs="#f0006" n="1086"/> <fw type="pageNum" place="top">1086</fw> <cb type="start"/> <p>Nehmen wir das auffallendste Beispiel dieses<lb/> Triebs, in jedem volksthümlichen Begriff den Kern der<lb/> Wahrheit zu ergreifen. Der Teufel hat zu allen Zeiten<lb/> in der Mythologie eine wichtige Rolle gespielt. Von<lb/> einem bloßen Wort, dem keine Realität entspricht, wollte<lb/> Goethe nichts wissen. Hier galt es wieder: „Jch habe<lb/> niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht be-<lb/> gangen haben könnte.“ So packt er denn seinen Un-<lb/> hold an der Brust: er soll wirklich, soll modern, soll ein<lb/> Europäer seyn, soll sich kleiden wie ein Herr und seine<lb/> Manieren haben, er soll in den Straßen spazieren ge-<lb/> hen und in das Heidelberger und Wiener Leben vom<lb/> Jahr 1820 vollständig eingeweiht seyn — oder gar nicht<lb/> seyn. Demgemäß zog er ihm das ganze mytholo-<lb/> gische Costüm aus, Hörner, Klauen, den Schweif mit<lb/> der Speerspitze, das blaue Feuer und den Schwefel,<lb/><cb n="2"/> und statt sich nach ihm in Büchern und auf Gemälden<lb/> umzusehen, suchte er ihn in der eigenen Brust, in jedem<lb/> Schatten von Kälte, Selbstsucht und Unglauben, der<lb/> im Gedränge der Welt oder in der Einsamkeit des<lb/> Menschen Sinn verdüstert, und er fand, daß das Con-<lb/> terfei durch alles, was er hinzuthat, und alles, was<lb/> er weg ließ, an Wesenhaftigkeit und Schreckniß ge-<lb/> wann. Er erkannte, daß das Wesen dieser Spuckge-<lb/> stalt, welche die Wohnstätten der Menschen im Dunkel<lb/> umschwebte, seit es Menschen gibt, der bloße Verstand<lb/> ist, der sich — nach der gemeinen Neigung im Men-<lb/> schen — in den Dienst der Sinne begibt, und er warf<lb/> mit seinem Mephistopheles die erste lebenswahre Ge-<lb/> stalt, die seit Menschenaltern geschaffen worden, in die<lb/> Literatur, eine Gestalt, die so lange dauern wird als<lb/> Prometheus.</p><lb/> <cb type="end"/> <p> <hi rendition="#c">( Schluß folgt. )</hi> </p> </div><lb/> <space dim="vertical"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <space dim="vertical"/> <div xml:id="Nov2" type="jArticle" n="1"> <head><hi rendition="#fr">Der Wunderknabe von Bristol.</hi><lb/><hi rendition="#g">Novelle.</hi><lb/> ( Fortsetzung. )<note type="editorial">Die Ausgabe, die den unmittelbar vorhergehenden Teil enthält, fehlt. <ref target="nn_morgenblatt44_1856#Nov1">Die wiederum vorhergehende Ausgabe ist vorhanden.</ref></note></head><lb/> <cb type="start"/> <p>Zu derselben Zeit, da diese Entschlüsse reisten,<lb/> schritt in Bristol ein kleiner, schwarzgekleideter Mann<lb/> von mittleren Jahren nach der Wohnung der Wittwe<lb/> Chatterton in der Pfeilstraße. Es war Toms seithe-<lb/> riger Principal, der Advokat Lambert. Der finstere<lb/> Ernst, welcher auf seiner Stirn lag, wurde noch ver-<lb/> mehrt durch die Blässe seines Gesichts, ein großes<lb/> schwarzes Pflaster, welches einen Theil seiner linken<lb/> Wange bedeckte, und eine riesige blaue Brille von aben-<lb/> teuerlichen Formen, welche fast den ganzen Umkreis<lb/> seiner Augen verbarg. An der Ecke der Pfeilstraße<lb/> sah er sich plötzlich angesprochen durch einen ältlichen<lb/> Mann von hoher, schmaler Statur und vorgebeugter<lb/> Haltung in einem abgetragenen, schnupftabakbraunen<lb/> Anzug, mit einem riesigen Dreimaster auf dem Kopf.</p><lb/> <p>„Schönen guten Tag, Herr Lambert!“ rief der-<lb/> selbe. „Wie geht's in diesen schlechten, verwerflichen<lb/> Zeiten?“ Lambert schien mit dieser Begegnung nicht<lb/> zufrieden. — „Jch danke Jhnen, Herr Catcott,“ sagte<lb/> er kurz, „es geht mir gut. Jhnen hoffentlich auch? Jch<lb/> habe Eile.“ — „Jch auch,“ versetzte Catcott, „aber eile<lb/><cb n="2"/> mit Weile! Wir haben denselben Weg, gehen wir ihn<lb/> also zusammen! Aber lassen Sie uns erst eine Prise<lb/> aus dem Schuh der Gräfin Donnersmark nehmen.“</p><lb/> <p>Mit diesen Worten präsentirte er eine Schnupf-<lb/> tabaksdose von ungewöhnlicher Form und feiner Arbeit.<lb/> Aus einem schweren, schwarzen und glänzenden Holze<lb/> geschnitzt und mit Silberplättchen eingelegt, hatte die-<lb/> selbe die Form eines schmalen und langen Schuhs. Jhre<lb/> Oeffnung war mit einem kunstreich gearbeiteten, dop-<lb/> pelten Schiebdeckel versehen. „Sie müssen nämlich wis-<lb/> sen,“ fuhr Catcott fort, als Lambert eine Prise ge-<lb/> nommen hatte, „daß diese Dose ein werthvolles, wenn<lb/> auch nicht besonders altes, archäologisches Stück ist,<lb/> welches aus der Zeit Karls <hi rendition="#aq">II</hi>. stammt. Wie Jhnen<lb/> bekannt, waren damals die Sitten ziemlich frei, so daß<lb/> man es sich herausnehmen konnte, nach dem Muster<lb/> des Fußes einer schönen und sehr renommirten Dame —“<lb/> — „Jch kenne die Geschichte dieser Dose vollständig,“<lb/> unterbrach der Advokat. — „Schön! schön! Allein das<lb/> wird Jhnen neu seyn, daß dieses Stück einzig in seiner<lb/> Art geworden ist, da die züchtigeren Nachkommen jener<lb/><cb type="end"/> </p> </div> </body> </text> </TEI> [1086/0006]
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Nehmen wir das auffallendste Beispiel dieses
Triebs, in jedem volksthümlichen Begriff den Kern der
Wahrheit zu ergreifen. Der Teufel hat zu allen Zeiten
in der Mythologie eine wichtige Rolle gespielt. Von
einem bloßen Wort, dem keine Realität entspricht, wollte
Goethe nichts wissen. Hier galt es wieder: „Jch habe
niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht be-
gangen haben könnte.“ So packt er denn seinen Un-
hold an der Brust: er soll wirklich, soll modern, soll ein
Europäer seyn, soll sich kleiden wie ein Herr und seine
Manieren haben, er soll in den Straßen spazieren ge-
hen und in das Heidelberger und Wiener Leben vom
Jahr 1820 vollständig eingeweiht seyn — oder gar nicht
seyn. Demgemäß zog er ihm das ganze mytholo-
gische Costüm aus, Hörner, Klauen, den Schweif mit
der Speerspitze, das blaue Feuer und den Schwefel,
und statt sich nach ihm in Büchern und auf Gemälden
umzusehen, suchte er ihn in der eigenen Brust, in jedem
Schatten von Kälte, Selbstsucht und Unglauben, der
im Gedränge der Welt oder in der Einsamkeit des
Menschen Sinn verdüstert, und er fand, daß das Con-
terfei durch alles, was er hinzuthat, und alles, was
er weg ließ, an Wesenhaftigkeit und Schreckniß ge-
wann. Er erkannte, daß das Wesen dieser Spuckge-
stalt, welche die Wohnstätten der Menschen im Dunkel
umschwebte, seit es Menschen gibt, der bloße Verstand
ist, der sich — nach der gemeinen Neigung im Men-
schen — in den Dienst der Sinne begibt, und er warf
mit seinem Mephistopheles die erste lebenswahre Ge-
stalt, die seit Menschenaltern geschaffen worden, in die
Literatur, eine Gestalt, die so lange dauern wird als
Prometheus.
( Schluß folgt. )
Der Wunderknabe von Bristol.
Novelle.
( Fortsetzung. )
Zu derselben Zeit, da diese Entschlüsse reisten,
schritt in Bristol ein kleiner, schwarzgekleideter Mann
von mittleren Jahren nach der Wohnung der Wittwe
Chatterton in der Pfeilstraße. Es war Toms seithe-
riger Principal, der Advokat Lambert. Der finstere
Ernst, welcher auf seiner Stirn lag, wurde noch ver-
mehrt durch die Blässe seines Gesichts, ein großes
schwarzes Pflaster, welches einen Theil seiner linken
Wange bedeckte, und eine riesige blaue Brille von aben-
teuerlichen Formen, welche fast den ganzen Umkreis
seiner Augen verbarg. An der Ecke der Pfeilstraße
sah er sich plötzlich angesprochen durch einen ältlichen
Mann von hoher, schmaler Statur und vorgebeugter
Haltung in einem abgetragenen, schnupftabakbraunen
Anzug, mit einem riesigen Dreimaster auf dem Kopf.
„Schönen guten Tag, Herr Lambert!“ rief der-
selbe. „Wie geht's in diesen schlechten, verwerflichen
Zeiten?“ Lambert schien mit dieser Begegnung nicht
zufrieden. — „Jch danke Jhnen, Herr Catcott,“ sagte
er kurz, „es geht mir gut. Jhnen hoffentlich auch? Jch
habe Eile.“ — „Jch auch,“ versetzte Catcott, „aber eile
mit Weile! Wir haben denselben Weg, gehen wir ihn
also zusammen! Aber lassen Sie uns erst eine Prise
aus dem Schuh der Gräfin Donnersmark nehmen.“
Mit diesen Worten präsentirte er eine Schnupf-
tabaksdose von ungewöhnlicher Form und feiner Arbeit.
Aus einem schweren, schwarzen und glänzenden Holze
geschnitzt und mit Silberplättchen eingelegt, hatte die-
selbe die Form eines schmalen und langen Schuhs. Jhre
Oeffnung war mit einem kunstreich gearbeiteten, dop-
pelten Schiebdeckel versehen. „Sie müssen nämlich wis-
sen,“ fuhr Catcott fort, als Lambert eine Prise ge-
nommen hatte, „daß diese Dose ein werthvolles, wenn
auch nicht besonders altes, archäologisches Stück ist,
welches aus der Zeit Karls II. stammt. Wie Jhnen
bekannt, waren damals die Sitten ziemlich frei, so daß
man es sich herausnehmen konnte, nach dem Muster
des Fußes einer schönen und sehr renommirten Dame —“
— „Jch kenne die Geschichte dieser Dose vollständig,“
unterbrach der Advokat. — „Schön! schön! Allein das
wird Jhnen neu seyn, daß dieses Stück einzig in seiner
Art geworden ist, da die züchtigeren Nachkommen jener
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