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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz]

Beim Niederschreiben dieses sonderbaren Gesprächs
nach dem Gedächtniß habe ich Mühe zu glauben, daß
wir uns nicht beiderseits lächerlich vorkamen, als
dieses Kirchthurmrennen von Artigkeiten in so wenig
anständiger Umgebung vor sich ging. Die fremde
Sprache mag die Erklärung dafür abgeben. Jn der
That sagt man in der französischen Unterhaltung in
der ungezwungensten Weise eine Menge Dinge, die
sich im Deutschen nur allzu geziert und verschroben aus-
nehmen würden. Ohnehin benahmen mir schon die
ersten Phrasen, welche aus ihrem Munde kamen, je-
den Zweifel darüber, daß hier mehr als bloßer Bil-
dungsfirniß vorhanden sey, und daß ich mich einem
Frauenzimmer gegenüber befand, welches eine nicht ge-
wöhnliche Stellung eingenommen haben mußte.

Als ich ihr zu verstehen gab, daß der Genuß ei-
ner so unerwarteten Begegnung nur zum kleinen Theil
die Verstimmung aufwiege, welche das augenscheinlich
Unbefriedigende ihrer jetzigen Lage mir verursache, sagte
sie seufzend: "Sie werden sehr viel Räthselhaftes in
meinen Schicksalen finden; doch hoffe ich täglich, daß
mein Glücksstern wieder aufgeht und meine Feinde
ihren Lohn davon tragen. Jch habe von jeher das
hohe Spiel geliebt und dem Zufall vertraut; es wird
mich einmal ganz unerwartet wieder herausreißen und
dahin tragen, wo mein Platz von Rechts wegen ist."

Was mit diesen Worten gemeint seyn sollte, war
mehr, als mein Ahnungsvermögen herauszuklügeln ver-
mochte; es waren mir indeß schon zu häufig Personen
begegnet, die, von einem plötzlichen Glückswechsel heim-
gesucht, mit ihren Ansprüchen an das Leben dort ste-
hen geblieben waren, wo dieses Leben eine unerfreu-
liche Wendung genommen hatte, als daß ich nicht an
eine ähnliche Geistesverfassung bei meinem schönen
Visavis hätte glauben sollen. Was man fire Jdee
nennt, ist ja im Grunde nichts anderes, als das An-
klammern des Schiffsbrüchigen an der letzten mit ihm
versinkenden Planke seines Wracks. Jch suchte daher
jeden Schein neugierigen Ausforschens zu vermeiden,
und versichert, daß sie, gleich allen gestürzten Größen,
nicht unterlassen werde mich von ihrem erloschenen
Glanze zu unterhalten, lenkte ich das Gespräch wieder
auf ihre gegenwärtige Rolle.

"Jch glaube verstanden zu haben," sagte ich, "daß
Jhnen die deutsche Sprache halbe Muttersprache ist;
in diesem Fall werden Sie ohne Zweifel selbst als
Schauspielerin in Wirksamkeit seyn." -- "Allerdings,"
antwortete sie, "und zwar nicht wider Willen. Jch
habe früher häufig auf Liebhabertheatern gespielt und
war im Besitze einer gewissen Fertigkeit, als mein Un-
glück mich zwang, aus der Noth eine Tugend zu machen."

[Spaltenumbruch]

"Und in welchem Fache wirken Sie?" fragte ich
wieder. "Was können Sie diesem früh zu Bette ge-
henden Publikum bieten?" -- "Auf das Publikum
habe ich niemals Rücksicht genommen," gab sie zur
Antwort. "Steht man über ihm, so soll man sich
wohl vorsehen, sich nicht zu ihm zu erniedrigen. Nur
wenn es fortwährend sich des Abstandes bewußt bleibt,
läßt es sich imponiren." -- "Aber wenn Sie nicht
durch tüchtige Kräfte unterstützt werden," warf ich ein,
"was wollen Sie als Einzelne machen? So viel ich
bemerkt zu haben glaube, ist der Herr im Nebenzim-
mer der Sprache -- der deutschen, meine ich -- kaum
mächtig."

Eine flüchtige Röthe überflog ihr Gesicht. Sie
hatte eine Antwort auf den Lippen, deren Sinn das
plötzliche Aufflackern ihres Auges verrieth, ohne daß
die Worte selbst ihrem Munde entschlüpften. -- "Die
andern zählen nur für Statisten, wenn ich spiele,"
sagte sie dann, ihre Lage verändernd und mit der
rechten Hand nach einem Bücherbrett über ihrem Di-
van langend. " Voyez," setzte sie hinzu, mir ein halbes
Dutzend Bücher hinüber reichend und sich selbst so weit
aufrichtend, daß sie einen Einblick in die eben von mir
aufgeschlagenen Seiten hatte. "Hier ist zum Beispiel
Cabale und Liebe. Jch bin fast die einzige redende
Person von Anfang bis zu Ende. Ferdinands Rolle
habe ich, um sie nicht ganz ausfallen zu lassen, zu-
sammengestrichen und den Rest in's Französische über-
setzt. Auf diese Weise wird der Platz wenigstens, so
weit nöthig, ausgefüllt und zugleich hat die Herunter-
drückung dieser Partie für mich den Vortheil, daß un-
gelenkes Spiel mich in meiner Hauptrolle nicht stört
und beschränkt. Wollten wir den Ferdinand mit unsern
Kräften deutsch reden lassen, es wäre nicht auszuhalten.
Jeder könnte über die Verstöße und Fehlgriffe sich so-
fort ein Urtheil bilden und wir würden ausgepfiffen
werden, ehe der Vorhang fiele. Die fremde Sprache
aber besticht die Leute. Einige unter ihnen geben sich
das Ansehen, das Gesprochene zu verstehen, andere
sind wirklich im Stande, dieses oder jenes Wort zu
übersetzen, und finden darin eine Art Befriedigung; wie-
der andere betrachten es als phonologische Studie -- que
sais-je
? -- und der Rest endlich richtet sich nach dem
Beispiel einer dieser drei Kategorien. -- Um Jhnen einen
Begriff zu geben, wie wir spielen," setzte sie hinzu,
indem sie das Buch aus meiner Hand nahm, "hören
Sie hier eine Stelle: -- Louise. Jch bitte dich, höre
auf! Jch glaube an keine glücklichen Tage mehr. Alle
meine Hoffnungen sind gesunken. -- Ferdinand.
Mes actions sont a la hausse! -- Und dann lege ich mir
selbst in den Mund, was Ferdinand zu sagen hätte.
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Beim Niederschreiben dieses sonderbaren Gesprächs
nach dem Gedächtniß habe ich Mühe zu glauben, daß
wir uns nicht beiderseits lächerlich vorkamen, als
dieses Kirchthurmrennen von Artigkeiten in so wenig
anständiger Umgebung vor sich ging. Die fremde
Sprache mag die Erklärung dafür abgeben. Jn der
That sagt man in der französischen Unterhaltung in
der ungezwungensten Weise eine Menge Dinge, die
sich im Deutschen nur allzu geziert und verschroben aus-
nehmen würden. Ohnehin benahmen mir schon die
ersten Phrasen, welche aus ihrem Munde kamen, je-
den Zweifel darüber, daß hier mehr als bloßer Bil-
dungsfirniß vorhanden sey, und daß ich mich einem
Frauenzimmer gegenüber befand, welches eine nicht ge-
wöhnliche Stellung eingenommen haben mußte.

Als ich ihr zu verstehen gab, daß der Genuß ei-
ner so unerwarteten Begegnung nur zum kleinen Theil
die Verstimmung aufwiege, welche das augenscheinlich
Unbefriedigende ihrer jetzigen Lage mir verursache, sagte
sie seufzend: „Sie werden sehr viel Räthselhaftes in
meinen Schicksalen finden; doch hoffe ich täglich, daß
mein Glücksstern wieder aufgeht und meine Feinde
ihren Lohn davon tragen. Jch habe von jeher das
hohe Spiel geliebt und dem Zufall vertraut; es wird
mich einmal ganz unerwartet wieder herausreißen und
dahin tragen, wo mein Platz von Rechts wegen ist.“

Was mit diesen Worten gemeint seyn sollte, war
mehr, als mein Ahnungsvermögen herauszuklügeln ver-
mochte; es waren mir indeß schon zu häufig Personen
begegnet, die, von einem plötzlichen Glückswechsel heim-
gesucht, mit ihren Ansprüchen an das Leben dort ste-
hen geblieben waren, wo dieses Leben eine unerfreu-
liche Wendung genommen hatte, als daß ich nicht an
eine ähnliche Geistesverfassung bei meinem schönen
Visavis hätte glauben sollen. Was man fire Jdee
nennt, ist ja im Grunde nichts anderes, als das An-
klammern des Schiffsbrüchigen an der letzten mit ihm
versinkenden Planke seines Wracks. Jch suchte daher
jeden Schein neugierigen Ausforschens zu vermeiden,
und versichert, daß sie, gleich allen gestürzten Größen,
nicht unterlassen werde mich von ihrem erloschenen
Glanze zu unterhalten, lenkte ich das Gespräch wieder
auf ihre gegenwärtige Rolle.

„Jch glaube verstanden zu haben,“ sagte ich, „daß
Jhnen die deutsche Sprache halbe Muttersprache ist;
in diesem Fall werden Sie ohne Zweifel selbst als
Schauspielerin in Wirksamkeit seyn.“ — „Allerdings,“
antwortete sie, „und zwar nicht wider Willen. Jch
habe früher häufig auf Liebhabertheatern gespielt und
war im Besitze einer gewissen Fertigkeit, als mein Un-
glück mich zwang, aus der Noth eine Tugend zu machen.“

[Spaltenumbruch]

„Und in welchem Fache wirken Sie?“ fragte ich
wieder. „Was können Sie diesem früh zu Bette ge-
henden Publikum bieten?“ — „Auf das Publikum
habe ich niemals Rücksicht genommen,“ gab sie zur
Antwort. „Steht man über ihm, so soll man sich
wohl vorsehen, sich nicht zu ihm zu erniedrigen. Nur
wenn es fortwährend sich des Abstandes bewußt bleibt,
läßt es sich imponiren.“ — „Aber wenn Sie nicht
durch tüchtige Kräfte unterstützt werden,“ warf ich ein,
„was wollen Sie als Einzelne machen? So viel ich
bemerkt zu haben glaube, ist der Herr im Nebenzim-
mer der Sprache — der deutschen, meine ich — kaum
mächtig.“

Eine flüchtige Röthe überflog ihr Gesicht. Sie
hatte eine Antwort auf den Lippen, deren Sinn das
plötzliche Aufflackern ihres Auges verrieth, ohne daß
die Worte selbst ihrem Munde entschlüpften. — „Die
andern zählen nur für Statisten, wenn ich spiele,“
sagte sie dann, ihre Lage verändernd und mit der
rechten Hand nach einem Bücherbrett über ihrem Di-
van langend. » Voyez,« setzte sie hinzu, mir ein halbes
Dutzend Bücher hinüber reichend und sich selbst so weit
aufrichtend, daß sie einen Einblick in die eben von mir
aufgeschlagenen Seiten hatte. „Hier ist zum Beispiel
Cabale und Liebe. Jch bin fast die einzige redende
Person von Anfang bis zu Ende. Ferdinands Rolle
habe ich, um sie nicht ganz ausfallen zu lassen, zu-
sammengestrichen und den Rest in's Französische über-
setzt. Auf diese Weise wird der Platz wenigstens, so
weit nöthig, ausgefüllt und zugleich hat die Herunter-
drückung dieser Partie für mich den Vortheil, daß un-
gelenkes Spiel mich in meiner Hauptrolle nicht stört
und beschränkt. Wollten wir den Ferdinand mit unsern
Kräften deutsch reden lassen, es wäre nicht auszuhalten.
Jeder könnte über die Verstöße und Fehlgriffe sich so-
fort ein Urtheil bilden und wir würden ausgepfiffen
werden, ehe der Vorhang fiele. Die fremde Sprache
aber besticht die Leute. Einige unter ihnen geben sich
das Ansehen, das Gesprochene zu verstehen, andere
sind wirklich im Stande, dieses oder jenes Wort zu
übersetzen, und finden darin eine Art Befriedigung; wie-
der andere betrachten es als phonologische Studie — que
sais-je
? — und der Rest endlich richtet sich nach dem
Beispiel einer dieser drei Kategorien. — Um Jhnen einen
Begriff zu geben, wie wir spielen,“ setzte sie hinzu,
indem sie das Buch aus meiner Hand nahm, „hören
Sie hier eine Stelle: — Louise. Jch bitte dich, höre
auf! Jch glaube an keine glücklichen Tage mehr. Alle
meine Hoffnungen sind gesunken. — Ferdinand.
Mes actions sont à la hausse! — Und dann lege ich mir
selbst in den Mund, was Ferdinand zu sagen hätte.
[Ende Spaltensatz]

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[702/0006] 702 Beim Niederschreiben dieses sonderbaren Gesprächs nach dem Gedächtniß habe ich Mühe zu glauben, daß wir uns nicht beiderseits lächerlich vorkamen, als dieses Kirchthurmrennen von Artigkeiten in so wenig anständiger Umgebung vor sich ging. Die fremde Sprache mag die Erklärung dafür abgeben. Jn der That sagt man in der französischen Unterhaltung in der ungezwungensten Weise eine Menge Dinge, die sich im Deutschen nur allzu geziert und verschroben aus- nehmen würden. Ohnehin benahmen mir schon die ersten Phrasen, welche aus ihrem Munde kamen, je- den Zweifel darüber, daß hier mehr als bloßer Bil- dungsfirniß vorhanden sey, und daß ich mich einem Frauenzimmer gegenüber befand, welches eine nicht ge- wöhnliche Stellung eingenommen haben mußte. 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Ferdinands Rolle habe ich, um sie nicht ganz ausfallen zu lassen, zu- sammengestrichen und den Rest in's Französische über- setzt. Auf diese Weise wird der Platz wenigstens, so weit nöthig, ausgefüllt und zugleich hat die Herunter- drückung dieser Partie für mich den Vortheil, daß un- gelenkes Spiel mich in meiner Hauptrolle nicht stört und beschränkt. Wollten wir den Ferdinand mit unsern Kräften deutsch reden lassen, es wäre nicht auszuhalten. Jeder könnte über die Verstöße und Fehlgriffe sich so- fort ein Urtheil bilden und wir würden ausgepfiffen werden, ehe der Vorhang fiele. Die fremde Sprache aber besticht die Leute. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/6>, abgerufen am 21.11.2024.