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Mährisches Tagblatt. Nr. 18, Olmütz, 24.01.1898.

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[Spaltenumbruch]
daf

gens hätten maßgebende Factoren erklärt, daß ihre
Bestrebungen nützlich seien und daß die Tschechen
nicht bloß für Böhmen, sondern für die gesammte
Monarchie kämpfen. (Beifall rechts.)

Abg. Strache sagte, es dürfe nicht über-
raschen, wenn die Entrüstung der Deutschen sich
steigere, dadurch, daß ein Mann, welcher erklärte,
daß er nicht bereue, was er als Vicepräsident des
Abgeordnetenhauses gethan habe, und daß er be-
reit wäre, die deutsche Linke hinauswerfen zu
lassen, als Sprecher für die Freiheit auftrete und
die Erklärung des Statthalters als überflüssige Ent-
schuldigung bezeichne. Die Erklärung des Statthalters
habe dargelegt, daß Das, was thatsächlich geschehen ist,
über die Anliegen der Deutschen hinausgehe. Der
Redner wies die Behauptung zurück, daß der Abg.
Wolf der Führer der Deutschen sei. Er gehöre dem
Club nicht an, sondern wohne nur den gemeinsamen
Versammlungen an und seine Anträge werden
wie die eines anderen Mitgliedes angenommen.
Die Führung aber sei erfahrenen Mitgliedern
anvertraut. Die Deutschen bedanken sich für das
ihnen vom Vorredner empfohlene autonomistische
Princip; denn sie können im centralistischen
Staate ihre gemeinsamen Angelegenheiten fest-
halten, was den Slaven nicht möglich ist. Alle
Deutschen von der radicalen bis zur conser-
vativen Seite seien darüber einig, daß die
Sprachenverordnungen aufgehoben werden müssen.
Sie bekämpfen nicht nur diese Sprachenverord-
nungen, sondern auch die Stremayr'sche Ver-
ordnung. Es gibt für sie, sagte der Redner,
keine Wiederauferstehung. Die Verordnungen
müssen Gesetzen weichen. Sie beharren unbedingt
auf der Zweitheilung. Die Deutschen bringen
den Regierungserklärungen kein Vertrauen ent-
gegen. Der Redner schloß: Das deutsche Volk
werde fortbestehen, selbst wenn sich das Geschick
gegen die Deutschen in Böhmen kehren sollte.
Entweder, es wird ein einheitliches Oesterreich
erhalten oder, es wird nicht sein.

Der Antrag auf Zuweisung des
Antrages Schlesinger
und Genossen an
eine 24gliedrige Commission wurde mit 114
gegen 54 Stimmen abgelehnt. Der Oberst-
landmarschall
erklärte, daß der meretorische
Antrag Schlefinger im Sinne des Beschlusses
über den Antrag Buquoy der für den letzteren
Antrag zu wählenden Commission werde zuge-
wiesen werden.




Das "Geständniß" Dreyfus' in
der Kammer.


In der heutigen Sitzung der französischen
Kammer gelangte die Interpellation des früheren
Kriegsministers Cavaignac zur Verhandlung, die
[Spaltenumbruch] sich darauf stützt, daß Dreyfus, angeblich nach
seiner Degradation, den Hauptmann der Muni-
zipalgarde Lebrun-Renault ein Geständniß ab-
gelegt, und daß dieses Geständniß actenmäßig
dem Ministerium mitgetheilt wurde. Die Sache
hat folgende Vorgeschichte: Unmittelbar nach der
Verurtheilung des Capitäns Dreyfus im Jahre
1894 wurde von Pariser Blättern die Nachricht
verbreitet, Dreyfus hätte vor seiner Degradirung
in der Militärschule, während er sich mit dem
Capitän Lebrun-Renault in einem Zimmer
befand, das Geständniß seiner Schuld abgelegt.
Dreyfus soll gesagt haben, er sei unschuldig, und
wenn er militärische Geständnisse an das Ausland
verrathen hätte, so würde er dies nur in dem
Bestreben gethan haben, um dafür für Frank-
reich werthvollere Geheimnisse einzutauschen.
Capitän Lebrun-Renault soll diese Aeußerung des
Verurthelten zu Protokoll gegeben haben und
der Act im Kriegsministerium deponirt worden
sein. Am 6. Jänner 1895, also am Tage nach
der Degradirung, brachte jedoch der "Figaro"
aus der Feder eines Gelegenheitsberichterstatters,
Namens Eugene Clisson, eine Darstellung, die
jenen angeblichen Geständnissen ein ganz anderes
Gesicht verlieh. Der Hauptmann der Munizipal-
garde Lebrun-Renault, der Dreyfus am 5. Jänner
aus dem Gefängniß abgeholt und bis zum
Augenblicke der Degradirung persönlich bewacht
hatte, hatte Folgendes erzählt: Dreyfus habe
einmal über das andere seine Unschuld betheuert
und Lebrun-Renault darauf schließlich erwidert:
"Nun, haben Sie denn niemals an Selbstmord
gedacht?" -- "Jawohl", hatte die Antwort gelautet,
"aber nur am Tage meiner Verurtheilung; dann
habe ich mir gesagt, daß ich dazu kein Recht
habe, weil ich unschuldig bin. In drei Jahren
wird meine Unschuld zu Tage treten." -- "Sie
sind also wirklich unschuldig?" fragte darauf der
Wärter mit wachsendem Erstaunen. Und nun
entspann sich ein längeres Zwiegespräch, in dem
Dreyfus die ganze Geschichte mit dem Bordereau
und dem Schriftsachverständigen -- die damals
noch völlig unbekannt war -- klarlegte, die bet
dem Proceß beobachtete Heimlichkeit aufs tiefste
beklagte und nähere Angaben über Dinge machte,
die ihm während der Verhandlungen zu Ohren
gekommen waren. "Auge im Auge," so schloß
er seine Erzählung und sah dabei dem Haupt-
mann Renault frei ins Gesicht, versichere ich Sie,
daß ich völlig unschuldig bin." Und dieses "Ge-
ständniß", das einzige, das er je abgelegt hat,
wiederholte er dann auf dem Hofe der Militär-
schule, als er rund um das von den Soldaten
gebildete Viereck geführt wurde: "Ich bin un-
schuldig, ich schwöre es bei dem Haupte meiner
Frau und meiner Kinder!" Die Sache war schon
längst in Vergessenheit gerathen, bis vor einigen
Tagen der Deputirte Cavaignac, der einige Zeit
[Spaltenumbruch] nach General Mercier, unter dessen Amtsführung
Dreyfus verurtheilt worden war, Kriegsminister
gewesen ist, die Sache in der Kammer zur Sprache
brachte und der Regierung nahelegte, daß sie
allen Zweifeln über die gerechte Verurtheilung
des Capitäns Dreyfus durch die Bekannt-
gabe des Protocolls, das mit Capitän Lebrun-
Renault aufgenommen wurde, ein Ende machen
könnte. Das Ministerium lehnte dies jedoch mit
der B[e]rufung auf das einmal gegen Dreyfus
geschöpfte Urtheil ab, worauf Cavaignac seine
Anfrage in eine Interpellation verwa[nd]e[l]te und
deren sofortige Beantwortung und Discussion
verlangte. Es ge[l]ang indes Herrn Meline, die
Vertagung der Inte pellation bis Samstag durch-
zusetz u. Cavargnac brach[t]e nun seine Interpella-
tion heute e[i]n; die Ve[r]handlung schildert nach-
folgende Depesche:

Die beutige Sitzung der Kammer beginnt
unter großem Andrang und lebhaster Bewegung.
Depurirter Cavaignac begründet seine Inter-
p[e]llation und behauptet, daß die Erklärungen
des Capitäns Lebrun-Renand über das Geständ-
niß Dreyfus' durch zwe[i] Documente bestätigt
werden. Redner tadelt die Re[gi]e[r]ung wegen ihres
Stillschweigens, das es gestattet, eine abgeurtheilte
Sache zu erörtern, und macht ihr den Vorwurf,
neuerlich einen Proceß eröffnet zu haben. Wenn
die Regierung dafür halte, daß die Veröffent-
lichung des Namens der in dem Bericht enthal-
tenen Macht eine Gefahr involvite, so werde
niemand auf der Nennung des Namens bestehen.
Cavaignac verlangt schließlich, daß sich die Re-
gierung klar ausspreche. (Be[i]fall auf der Linken.)

Ministerpräsident Meline erklärt, er sei
nicht in der Lage, den Bericht des Capitäns
Lebrun-Renault zu veröffentlichen, der jedoch,
wie eine Note der "Agence Havas" berichtet
hat, existirt. Die Regierung glaubte aber,
den Bericht deshalb nicht zu veröffent-
lichen zu sollen, weil sie der Ansicht ist, daß
eine parlamentarische Discussion den juridischen
Character der Sache ändern würde, denn wenn
einmal die Discussion eröffnet wäre, könnte man
sie nicht mehr schließen und die Kammer würde
eine Revision des Processes vornehmen. Ein
anderer gegen die Veröffentlichung sprechender
Grund ist derselbe, aus dem die Verhandlung
geheim durchgeführt wurde Diese Ursache hat
nichts außerordentlich Bedenkliches an sich, da es
üblich ist, Spionage-Affairen geheim zu verhan-
deln. Der Ministerpräsident bezeichnet die Cam-
pagne in der Affaire Dreyfus als bedauerlich
(Beifall) und sagt, ein berühmter Schriftsteller
lieh seine Feder dazu, um die Armee zu entehren.
(Langanhaltender Beifall im Centrum und auf
der Rechten; heftige Unterbrechungen auf der
äußersten Linken.) -- Meline tade[l]t jene Jour-
nalisten, die die Campagne Dreifus führen und




[Spaltenumbruch]
ff

lichen Kerle hab' ich nischt gegeben -- ohrfeigen
könnt' ich mich!"

Jeder "Künstler", der Breslau passirte,
konnte sich bei Holtei einen Händedruck, der in
Gestalt eines harten Thalers sichtbar blieb,
holen und ein paar freundliche Worte gab's noch
obendrein. Mir hat er sogar einmal zwei Thaler
per Post geschickt, gänzlich ungebeten, nur in der
nicht unberechtigten Annahme, daß die Glücks-
güter eines wandernden Comödianten immer
aufbesserungsbedürftig seien. "Ein Gläschen
Wein auf gut Glück in Görlitz" war die zart-
sinnige Aufschrift des kleinen Couverts, welches
die Liebesgabe umschloß. Ach! Zu solch'
edler Verwendung kam der Inhalt
leider nicht -- der Schuster, der ihn nahm,
wird wohl auch nur Bier getrunken haben, aber
große Freude war mir's doch. -- Die zwei Thaler
wandern wohl noch immer, denn daß Holtei sie
nicht zurücknahm, als ich ihn später als "ran-
girter Künstler" wieder aufsuchte, brauche ich
nicht zu sagen. Ich sollte sie nur "weitergeben".
Das habe ich denn unter derselben Bedingung
gethan und die Wanderung dieses vagabondiren-
den Legates bis zum vierten oder fünften Be-
sitzer auch verfolgt, doch "schnell war seine Spur
verloren". Vielleicht sind die beiden Thaler an
einen gekommen, der sie nicht mehr weitergeben
konnte und haben so Ruhe gefunden: "die Ruhe
eines Kirchhofs". --

Ich war ein ganz junger Secundaner, als
ich dem "olen" Holtei en passant vorgestellt
wurde, hielt mich aber in meiner damals schon
[Spaltenumbruch] regen Kunstbegeisterung für vollkommen berechtigt,
Holtei am nächsten Tage anzufallen und ihn um
eine kleine Soloscene, welche in die Sammlung
seiner Dramen nicht aufgenommen war, zu bitten.
In meiner bald eintretenden großen Verlegenheit
wußte ich nichts Besseres zu thun, als den be-
rühmten Mann an einen Rockknopf zu packen
und ihm denselben halb abzudrehen. Was ich
sonst bei dieser Procedur gesprochen haben mag,
ist mir noch heutigen Tages nicht eingefallen
Den Alten muß wohl diese eigenthümliche Art,
ein Gespräch anzubahnen, amüsirt haben, denn
wenige Tage später erhielt ich ein Billetchen, mich
am Sonnabend in seiner Wohnung einzufinden.
Natürlich stellte ich mich pünktlich ein, nahm das
aus einem verstaubten Winkel hervorgesuchte
Stückchen "Des Schauspielers Morgenstunde"
dankend in Empfang und nach längerem Ver-
weilen beim Abschiede eine größere Gabe: die
Erlaubniß, mich alle Sonnabend Nachmittag zu
einem Plauderstündchen einfinden zu dürfen.

Das wurden herrliche Stunden für den jun-
gen Theater-Enthusiasten. Als ich dem Alten
gestanden hatte, ich wollte "drunter" gehen, da
ging ihm das Herz auf, denn wenn er sich auch
brummend und polternd vom Theaterwesen
zurückgezogen hatte, sein Herz schlug warm für
die Bühne, der er ja die beste Kraft seines Lebens
gewidmet hat.

Ich könnte diesen kleinen Erinnerungen, die
ich dereinst für meinen verehrten Freund Schwartz
in Oldenburg niederschrieb, noch manche andere
hinzufügen, könnte noch eine große Anzahl von
[Spaltenumbruch] wahrhaft liebevollen Briefen mittheilen, mit denen
der Greis in rührendem Wohlwollen jede Mit-
theilung von meiner Seite erwiderte, aber das
hieße, nach bewährtem Schauspieler Recepte, meine
Person so ganz unversehens an die Stelle des-
jenigen rücken, dem die Huldigung gelten soll.

Wenn ich mich trotzdem nicht entschließen
kann, einen der letzten Briefe, die ich von Holteis
Hand besitze, hier zu veröffentlichen, so geschieht
es, weil aus ihm so viel Herzensgüte spricht,
daß ich glaube, er wird auch anderen zu Gemüthe
reden, als dem, der das Glück hatte, ihn zu
empfangen. Das nach Lübeck gerichtete Schrei-
ben lautet:

Breslau, 6. November 1876.

Lieber Freund Grube!

Längst schon hätte ich Ihnen Dank gesagt
für Ihre erfreuliche Zuschrift und Sie zugleich
gebeten, unserem edlen Geibel in meinem Namen
auch zu danken dafür, daß er mein Schreiben
gütig aufgenommen und Sie herzlich empfangen
hat, wenn ich noch schreiben könnte, d. h. wenn
ich nicht nach jeder Zeile, die ich nur mit höchster
Anstrengung aufs Papier bringe, fürchten müßte,
zum so und sovieltestenmale vom Stängel (sic!)
zu fallen. Mein Zustand ist erbarmenerregend;
die letzten Kräfte schwinden, die Augen versagen
den Dienst. Ich habe mich nach einem Schreiber
umgethan, der nicht leicht zu finden war, und
dem ich dictiren kann; bin auch recht zufrieden
mit der getroffenen Wahl, will jedoch Nachstehen-
des lieber selbst kritzeln.


[Spaltenumbruch]
daf

gens hätten maßgebende Factoren erklärt, daß ihre
Beſtrebungen nützlich ſeien und daß die Tſchechen
nicht bloß für Böhmen, ſondern für die geſammte
Monarchie kämpfen. (Beifall rechts.)

Abg. Strache ſagte, es dürfe nicht über-
raſchen, wenn die Entrüſtung der Deutſchen ſich
ſteigere, dadurch, daß ein Mann, welcher erklärte,
daß er nicht bereue, was er als Vicepräſident des
Abgeordnetenhauſes gethan habe, und daß er be-
reit wäre, die deutſche Linke hinauswerfen zu
laſſen, als Sprecher für die Freiheit auftrete und
die Erklärung des Statthalters als überflüſſige Ent-
ſchuldigung bezeichne. Die Erklärung des Statthalters
habe dargelegt, daß Das, was thatſächlich geſchehen iſt,
über die Anliegen der Deutſchen hinausgehe. Der
Redner wies die Behauptung zurück, daß der Abg.
Wolf der Führer der Deutſchen ſei. Er gehöre dem
Club nicht an, ſondern wohne nur den gemeinſamen
Verſammlungen an und ſeine Anträge werden
wie die eines anderen Mitgliedes angenommen.
Die Führung aber ſei erfahrenen Mitgliedern
anvertraut. Die Deutſchen bedanken ſich für das
ihnen vom Vorredner empfohlene autonomiſtiſche
Princip; denn ſie können im centraliſtiſchen
Staate ihre gemeinſamen Angelegenheiten feſt-
halten, was den Slaven nicht möglich iſt. Alle
Deutſchen von der radicalen bis zur conſer-
vativen Seite ſeien darüber einig, daß die
Sprachenverordnungen aufgehoben werden müſſen.
Sie bekämpfen nicht nur dieſe Sprachenverord-
nungen, ſondern auch die Stremayr’ſche Ver-
ordnung. Es gibt für ſie, ſagte der Redner,
keine Wiederauferſtehung. Die Verordnungen
müſſen Geſetzen weichen. Sie beharren unbedingt
auf der Zweitheilung. Die Deutſchen bringen
den Regierungserklärungen kein Vertrauen ent-
gegen. Der Redner ſchloß: Das deutſche Volk
werde fortbeſtehen, ſelbſt wenn ſich das Geſchick
gegen die Deutſchen in Böhmen kehren ſollte.
Entweder, es wird ein einheitliches Oeſterreich
erhalten oder, es wird nicht ſein.

Der Antrag auf Zuweiſung des
Antrages Schleſinger
und Genoſſen an
eine 24gliedrige Commiſſion wurde mit 114
gegen 54 Stimmen abgelehnt. Der Oberſt-
landmarſchall
erklärte, daß der meretoriſche
Antrag Schlefinger im Sinne des Beſchluſſes
über den Antrag Buquoy der für den letzteren
Antrag zu wählenden Commiſſion werde zuge-
wieſen werden.




Das „Geſtändniß“ Dreyfus’ in
der Kammer.


In der heutigen Sitzung der franzöſiſchen
Kammer gelangte die Interpellation des früheren
Kriegsminiſters Cavaignac zur Verhandlung, die
[Spaltenumbruch] ſich darauf ſtützt, daß Dreyfus, angeblich nach
ſeiner Degradation, den Hauptmann der Muni-
zipalgarde Lebrun-Renault ein Geſtändniß ab-
gelegt, und daß dieſes Geſtändniß actenmäßig
dem Miniſterium mitgetheilt wurde. Die Sache
hat folgende Vorgeſchichte: Unmittelbar nach der
Verurtheilung des Capitäns Dreyfus im Jahre
1894 wurde von Pariſer Blättern die Nachricht
verbreitet, Dreyfus hätte vor ſeiner Degradirung
in der Militärſchule, während er ſich mit dem
Capitän Lebrun-Renault in einem Zimmer
befand, das Geſtändniß ſeiner Schuld abgelegt.
Dreyfus ſoll geſagt haben, er ſei unſchuldig, und
wenn er militäriſche Geſtändniſſe an das Ausland
verrathen hätte, ſo würde er dies nur in dem
Beſtreben gethan haben, um dafür für Frank-
reich werthvollere Geheimniſſe einzutauſchen.
Capitän Lebrun-Renault ſoll dieſe Aeußerung des
Verurthelten zu Protokoll gegeben haben und
der Act im Kriegsminiſterium deponirt worden
ſein. Am 6. Jänner 1895, alſo am Tage nach
der Degradirung, brachte jedoch der „Figaro“
aus der Feder eines Gelegenheitsberichterſtatters,
Namens Eugene Cliſſon, eine Darſtellung, die
jenen angeblichen Geſtändniſſen ein ganz anderes
Geſicht verlieh. Der Hauptmann der Munizipal-
garde Lebrun-Renault, der Dreyfus am 5. Jänner
aus dem Gefängniß abgeholt und bis zum
Augenblicke der Degradirung perſönlich bewacht
hatte, hatte Folgendes erzählt: Dreyfus habe
einmal über das andere ſeine Unſchuld betheuert
und Lebrun-Renault darauf ſchließlich erwidert:
„Nun, haben Sie denn niemals an Selbſtmord
gedacht?“ — „Jawohl“, hatte die Antwort gelautet,
„aber nur am Tage meiner Verurtheilung; dann
habe ich mir geſagt, daß ich dazu kein Recht
habe, weil ich unſchuldig bin. In drei Jahren
wird meine Unſchuld zu Tage treten.“ — „Sie
ſind alſo wirklich unſchuldig?“ fragte darauf der
Wärter mit wachſendem Erſtaunen. Und nun
entſpann ſich ein längeres Zwiegeſpräch, in dem
Dreyfus die ganze Geſchichte mit dem Bordereau
und dem Schriftſachverſtändigen — die damals
noch völlig unbekannt war — klarlegte, die bet
dem Proceß beobachtete Heimlichkeit aufs tiefſte
beklagte und nähere Angaben über Dinge machte,
die ihm während der Verhandlungen zu Ohren
gekommen waren. „Auge im Auge,“ ſo ſchloß
er ſeine Erzählung und ſah dabei dem Haupt-
mann Renault frei ins Geſicht, verſichere ich Sie,
daß ich völlig unſchuldig bin.“ Und dieſes „Ge-
ſtändniß“, das einzige, das er je abgelegt hat,
wiederholte er dann auf dem Hofe der Militär-
ſchule, als er rund um das von den Soldaten
gebildete Viereck geführt wurde: „Ich bin un-
ſchuldig, ich ſchwöre es bei dem Haupte meiner
Frau und meiner Kinder!“ Die Sache war ſchon
längſt in Vergeſſenheit gerathen, bis vor einigen
Tagen der Deputirte Cavaignac, der einige Zeit
[Spaltenumbruch] nach General Mercier, unter deſſen Amtsführung
Dreyfus verurtheilt worden war, Kriegsminiſter
geweſen iſt, die Sache in der Kammer zur Sprache
brachte und der Regierung nahelegte, daß ſie
allen Zweifeln über die gerechte Verurtheilung
des Capitäns Dreyfus durch die Bekannt-
gabe des Protocolls, das mit Capitän Lebrun-
Renault aufgenommen wurde, ein Ende machen
könnte. Das Miniſterium lehnte dies jedoch mit
der B[e]rufung auf das einmal gegen Dreyfus
geſchöpfte Urtheil ab, worauf Cavaignac ſeine
Anfrage in eine Interpellation verwa[nd]e[l]te und
deren ſofortige Beantwortung und Discuſſion
verlangte. Es ge[l]ang indes Herrn Méline, die
Vertagung der Inte pellation bis Samſtag durch-
zuſetz u. Cavargnac brach[t]e nun ſeine Interpella-
tion heute e[i]n; die Ve[r]handlung ſchildert nach-
folgende Depeſche:

Die beutige Sitzung der Kammer beginnt
unter großem Andrang und lebhaſter Bewegung.
Depurirter Cavaignac begründet ſeine Inter-
p[e]llation und behauptet, daß die Erklärungen
des Capitäns Lebrun-Renand über das Geſtänd-
niß Dreyfus’ durch zwe[i] Documente beſtätigt
werden. Redner tadelt die Re[gi]e[r]ung wegen ihres
Stillſchweigens, das es geſtattet, eine abgeurtheilte
Sache zu erörtern, und macht ihr den Vorwurf,
neuerlich einen Proceß eröffnet zu haben. Wenn
die Regierung dafür halte, daß die Veröffent-
lichung des Namens der in dem Bericht enthal-
tenen Macht eine Gefahr involvite, ſo werde
niemand auf der Nennung des Namens beſtehen.
Cavaignac verlangt ſchließlich, daß ſich die Re-
gierung klar ausſpreche. (Be[i]fall auf der Linken.)

Miniſterpräſident Méline erklärt, er ſei
nicht in der Lage, den Bericht des Capitäns
Lebrun-Renault zu veröffentlichen, der jedoch,
wie eine Note der „Agence Havas“ berichtet
hat, exiſtirt. Die Regierung glaubte aber,
den Bericht deshalb nicht zu veröffent-
lichen zu ſollen, weil ſie der Anſicht iſt, daß
eine parlamentariſche Discuſſion den juridiſchen
Character der Sache ändern würde, denn wenn
einmal die Discuſſion eröffnet wäre, könnte man
ſie nicht mehr ſchließen und die Kammer würde
eine Reviſion des Proceſſes vornehmen. Ein
anderer gegen die Veröffentlichung ſprechender
Grund iſt derſelbe, aus dem die Verhandlung
geheim durchgeführt wurde Dieſe Urſache hat
nichts außerordentlich Bedenkliches an ſich, da es
üblich iſt, Spionage-Affairen geheim zu verhan-
deln. Der Miniſterpräſident bezeichnet die Cam-
pagne in der Affaire Dreyfus als bedauerlich
(Beifall) und ſagt, ein berühmter Schriftſteller
lieh ſeine Feder dazu, um die Armee zu entehren.
(Langanhaltender Beifall im Centrum und auf
der Rechten; heftige Unterbrechungen auf der
äußerſten Linken.) — Méline tade[l]t jene Jour-
naliſten, die die Campagne Dreifus führen und




[Spaltenumbruch]
ff

lichen Kerle hab’ ich niſcht gegeben — ohrfeigen
könnt’ ich mich!“

Jeder „Künſtler“, der Breslau paſſirte,
konnte ſich bei Holtei einen Händedruck, der in
Geſtalt eines harten Thalers ſichtbar blieb,
holen und ein paar freundliche Worte gab’s noch
obendrein. Mir hat er ſogar einmal zwei Thaler
per Poſt geſchickt, gänzlich ungebeten, nur in der
nicht unberechtigten Annahme, daß die Glücks-
güter eines wandernden Comödianten immer
aufbeſſerungsbedürftig ſeien. „Ein Gläschen
Wein auf gut Glück in Görlitz“ war die zart-
ſinnige Aufſchrift des kleinen Couverts, welches
die Liebesgabe umſchloß. Ach! Zu ſolch’
edler Verwendung kam der Inhalt
leider nicht — der Schuſter, der ihn nahm,
wird wohl auch nur Bier getrunken haben, aber
große Freude war mir’s doch. — Die zwei Thaler
wandern wohl noch immer, denn daß Holtei ſie
nicht zurücknahm, als ich ihn ſpäter als „ran-
girter Künſtler“ wieder aufſuchte, brauche ich
nicht zu ſagen. Ich ſollte ſie nur „weitergeben“.
Das habe ich denn unter derſelben Bedingung
gethan und die Wanderung dieſes vagabondiren-
den Legates bis zum vierten oder fünften Be-
ſitzer auch verfolgt, doch „ſchnell war ſeine Spur
verloren“. Vielleicht ſind die beiden Thaler an
einen gekommen, der ſie nicht mehr weitergeben
konnte und haben ſo Ruhe gefunden: „die Ruhe
eines Kirchhofs“. —

Ich war ein ganz junger Secundaner, als
ich dem „olen“ Holtei en passant vorgeſtellt
wurde, hielt mich aber in meiner damals ſchon
[Spaltenumbruch] regen Kunſtbegeiſterung für vollkommen berechtigt,
Holtei am nächſten Tage anzufallen und ihn um
eine kleine Soloſcene, welche in die Sammlung
ſeiner Dramen nicht aufgenommen war, zu bitten.
In meiner bald eintretenden großen Verlegenheit
wußte ich nichts Beſſeres zu thun, als den be-
rühmten Mann an einen Rockknopf zu packen
und ihm denſelben halb abzudrehen. Was ich
ſonſt bei dieſer Procedur geſprochen haben mag,
iſt mir noch heutigen Tages nicht eingefallen
Den Alten muß wohl dieſe eigenthümliche Art,
ein Geſpräch anzubahnen, amüſirt haben, denn
wenige Tage ſpäter erhielt ich ein Billetchen, mich
am Sonnabend in ſeiner Wohnung einzufinden.
Natürlich ſtellte ich mich pünktlich ein, nahm das
aus einem verſtaubten Winkel hervorgeſuchte
Stückchen „Des Schauſpielers Morgenſtunde“
dankend in Empfang und nach längerem Ver-
weilen beim Abſchiede eine größere Gabe: die
Erlaubniß, mich alle Sonnabend Nachmittag zu
einem Plauderſtündchen einfinden zu dürfen.

Das wurden herrliche Stunden für den jun-
gen Theater-Enthuſiaſten. Als ich dem Alten
geſtanden hatte, ich wollte „drunter“ gehen, da
ging ihm das Herz auf, denn wenn er ſich auch
brummend und polternd vom Theaterweſen
zurückgezogen hatte, ſein Herz ſchlug warm für
die Bühne, der er ja die beſte Kraft ſeines Lebens
gewidmet hat.

Ich könnte dieſen kleinen Erinnerungen, die
ich dereinſt für meinen verehrten Freund Schwartz
in Oldenburg niederſchrieb, noch manche andere
hinzufügen, könnte noch eine große Anzahl von
[Spaltenumbruch] wahrhaft liebevollen Briefen mittheilen, mit denen
der Greis in rührendem Wohlwollen jede Mit-
theilung von meiner Seite erwiderte, aber das
hieße, nach bewährtem Schauſpieler Recepte, meine
Perſon ſo ganz unverſehens an die Stelle des-
jenigen rücken, dem die Huldigung gelten ſoll.

Wenn ich mich trotzdem nicht entſchließen
kann, einen der letzten Briefe, die ich von Holteis
Hand beſitze, hier zu veröffentlichen, ſo geſchieht
es, weil aus ihm ſo viel Herzensgüte ſpricht,
daß ich glaube, er wird auch anderen zu Gemüthe
reden, als dem, der das Glück hatte, ihn zu
empfangen. Das nach Lübeck gerichtete Schrei-
ben lautet:

Breslau, 6. November 1876.

Lieber Freund Grube!

Längſt ſchon hätte ich Ihnen Dank geſagt
für Ihre erfreuliche Zuſchrift und Sie zugleich
gebeten, unſerem edlen Geibel in meinem Namen
auch zu danken dafür, daß er mein Schreiben
gütig aufgenommen und Sie herzlich empfangen
hat, wenn ich noch ſchreiben könnte, d. h. wenn
ich nicht nach jeder Zeile, die ich nur mit höchſter
Anſtrengung aufs Papier bringe, fürchten müßte,
zum ſo und ſovielteſtenmale vom Stängel (sic!)
zu fallen. Mein Zuſtand iſt erbarmenerregend;
die letzten Kräfte ſchwinden, die Augen verſagen
den Dienſt. Ich habe mich nach einem Schreiber
umgethan, der nicht leicht zu finden war, und
dem ich dictiren kann; bin auch recht zufrieden
mit der getroffenen Wahl, will jedoch Nachſtehen-
des lieber ſelbſt kritzeln.


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[[3]/0003] daf gens hätten maßgebende Factoren erklärt, daß ihre Beſtrebungen nützlich ſeien und daß die Tſchechen nicht bloß für Böhmen, ſondern für die geſammte Monarchie kämpfen. (Beifall rechts.) Abg. Strache ſagte, es dürfe nicht über- raſchen, wenn die Entrüſtung der Deutſchen ſich ſteigere, dadurch, daß ein Mann, welcher erklärte, daß er nicht bereue, was er als Vicepräſident des Abgeordnetenhauſes gethan habe, und daß er be- reit wäre, die deutſche Linke hinauswerfen zu laſſen, als Sprecher für die Freiheit auftrete und die Erklärung des Statthalters als überflüſſige Ent- ſchuldigung bezeichne. Die Erklärung des Statthalters habe dargelegt, daß Das, was thatſächlich geſchehen iſt, über die Anliegen der Deutſchen hinausgehe. Der Redner wies die Behauptung zurück, daß der Abg. Wolf der Führer der Deutſchen ſei. Er gehöre dem Club nicht an, ſondern wohne nur den gemeinſamen Verſammlungen an und ſeine Anträge werden wie die eines anderen Mitgliedes angenommen. Die Führung aber ſei erfahrenen Mitgliedern anvertraut. Die Deutſchen bedanken ſich für das ihnen vom Vorredner empfohlene autonomiſtiſche Princip; denn ſie können im centraliſtiſchen Staate ihre gemeinſamen Angelegenheiten feſt- halten, was den Slaven nicht möglich iſt. Alle Deutſchen von der radicalen bis zur conſer- vativen Seite ſeien darüber einig, daß die Sprachenverordnungen aufgehoben werden müſſen. Sie bekämpfen nicht nur dieſe Sprachenverord- nungen, ſondern auch die Stremayr’ſche Ver- ordnung. Es gibt für ſie, ſagte der Redner, keine Wiederauferſtehung. Die Verordnungen müſſen Geſetzen weichen. Sie beharren unbedingt auf der Zweitheilung. Die Deutſchen bringen den Regierungserklärungen kein Vertrauen ent- gegen. Der Redner ſchloß: Das deutſche Volk werde fortbeſtehen, ſelbſt wenn ſich das Geſchick gegen die Deutſchen in Böhmen kehren ſollte. Entweder, es wird ein einheitliches Oeſterreich erhalten oder, es wird nicht ſein. Der Antrag auf Zuweiſung des Antrages Schleſinger und Genoſſen an eine 24gliedrige Commiſſion wurde mit 114 gegen 54 Stimmen abgelehnt. Der Oberſt- landmarſchall erklärte, daß der meretoriſche Antrag Schlefinger im Sinne des Beſchluſſes über den Antrag Buquoy der für den letzteren Antrag zu wählenden Commiſſion werde zuge- wieſen werden. Das „Geſtändniß“ Dreyfus’ in der Kammer. Paris, 22. Jänner. In der heutigen Sitzung der franzöſiſchen Kammer gelangte die Interpellation des früheren Kriegsminiſters Cavaignac zur Verhandlung, die ſich darauf ſtützt, daß Dreyfus, angeblich nach ſeiner Degradation, den Hauptmann der Muni- zipalgarde Lebrun-Renault ein Geſtändniß ab- gelegt, und daß dieſes Geſtändniß actenmäßig dem Miniſterium mitgetheilt wurde. Die Sache hat folgende Vorgeſchichte: Unmittelbar nach der Verurtheilung des Capitäns Dreyfus im Jahre 1894 wurde von Pariſer Blättern die Nachricht verbreitet, Dreyfus hätte vor ſeiner Degradirung in der Militärſchule, während er ſich mit dem Capitän Lebrun-Renault in einem Zimmer befand, das Geſtändniß ſeiner Schuld abgelegt. Dreyfus ſoll geſagt haben, er ſei unſchuldig, und wenn er militäriſche Geſtändniſſe an das Ausland verrathen hätte, ſo würde er dies nur in dem Beſtreben gethan haben, um dafür für Frank- reich werthvollere Geheimniſſe einzutauſchen. Capitän Lebrun-Renault ſoll dieſe Aeußerung des Verurthelten zu Protokoll gegeben haben und der Act im Kriegsminiſterium deponirt worden ſein. Am 6. Jänner 1895, alſo am Tage nach der Degradirung, brachte jedoch der „Figaro“ aus der Feder eines Gelegenheitsberichterſtatters, Namens Eugene Cliſſon, eine Darſtellung, die jenen angeblichen Geſtändniſſen ein ganz anderes Geſicht verlieh. Der Hauptmann der Munizipal- garde Lebrun-Renault, der Dreyfus am 5. Jänner aus dem Gefängniß abgeholt und bis zum Augenblicke der Degradirung perſönlich bewacht hatte, hatte Folgendes erzählt: Dreyfus habe einmal über das andere ſeine Unſchuld betheuert und Lebrun-Renault darauf ſchließlich erwidert: „Nun, haben Sie denn niemals an Selbſtmord gedacht?“ — „Jawohl“, hatte die Antwort gelautet, „aber nur am Tage meiner Verurtheilung; dann habe ich mir geſagt, daß ich dazu kein Recht habe, weil ich unſchuldig bin. In drei Jahren wird meine Unſchuld zu Tage treten.“ — „Sie ſind alſo wirklich unſchuldig?“ fragte darauf der Wärter mit wachſendem Erſtaunen. Und nun entſpann ſich ein längeres Zwiegeſpräch, in dem Dreyfus die ganze Geſchichte mit dem Bordereau und dem Schriftſachverſtändigen — die damals noch völlig unbekannt war — klarlegte, die bet dem Proceß beobachtete Heimlichkeit aufs tiefſte beklagte und nähere Angaben über Dinge machte, die ihm während der Verhandlungen zu Ohren gekommen waren. „Auge im Auge,“ ſo ſchloß er ſeine Erzählung und ſah dabei dem Haupt- mann Renault frei ins Geſicht, verſichere ich Sie, daß ich völlig unſchuldig bin.“ Und dieſes „Ge- ſtändniß“, das einzige, das er je abgelegt hat, wiederholte er dann auf dem Hofe der Militär- ſchule, als er rund um das von den Soldaten gebildete Viereck geführt wurde: „Ich bin un- ſchuldig, ich ſchwöre es bei dem Haupte meiner Frau und meiner Kinder!“ Die Sache war ſchon längſt in Vergeſſenheit gerathen, bis vor einigen Tagen der Deputirte Cavaignac, der einige Zeit nach General Mercier, unter deſſen Amtsführung Dreyfus verurtheilt worden war, Kriegsminiſter geweſen iſt, die Sache in der Kammer zur Sprache brachte und der Regierung nahelegte, daß ſie allen Zweifeln über die gerechte Verurtheilung des Capitäns Dreyfus durch die Bekannt- gabe des Protocolls, das mit Capitän Lebrun- Renault aufgenommen wurde, ein Ende machen könnte. Das Miniſterium lehnte dies jedoch mit der Berufung auf das einmal gegen Dreyfus geſchöpfte Urtheil ab, worauf Cavaignac ſeine Anfrage in eine Interpellation verwandelte und deren ſofortige Beantwortung und Discuſſion verlangte. Es gelang indes Herrn Méline, die Vertagung der Inte pellation bis Samſtag durch- zuſetz u. Cavargnac brachte nun ſeine Interpella- tion heute ein; die Verhandlung ſchildert nach- folgende Depeſche: Die beutige Sitzung der Kammer beginnt unter großem Andrang und lebhaſter Bewegung. Depurirter Cavaignac begründet ſeine Inter- pellation und behauptet, daß die Erklärungen des Capitäns Lebrun-Renand über das Geſtänd- niß Dreyfus’ durch zwei Documente beſtätigt werden. Redner tadelt die Regierung wegen ihres Stillſchweigens, das es geſtattet, eine abgeurtheilte Sache zu erörtern, und macht ihr den Vorwurf, neuerlich einen Proceß eröffnet zu haben. Wenn die Regierung dafür halte, daß die Veröffent- lichung des Namens der in dem Bericht enthal- tenen Macht eine Gefahr involvite, ſo werde niemand auf der Nennung des Namens beſtehen. Cavaignac verlangt ſchließlich, daß ſich die Re- gierung klar ausſpreche. (Beifall auf der Linken.) Miniſterpräſident Méline erklärt, er ſei nicht in der Lage, den Bericht des Capitäns Lebrun-Renault zu veröffentlichen, der jedoch, wie eine Note der „Agence Havas“ berichtet hat, exiſtirt. Die Regierung glaubte aber, den Bericht deshalb nicht zu veröffent- lichen zu ſollen, weil ſie der Anſicht iſt, daß eine parlamentariſche Discuſſion den juridiſchen Character der Sache ändern würde, denn wenn einmal die Discuſſion eröffnet wäre, könnte man ſie nicht mehr ſchließen und die Kammer würde eine Reviſion des Proceſſes vornehmen. Ein anderer gegen die Veröffentlichung ſprechender Grund iſt derſelbe, aus dem die Verhandlung geheim durchgeführt wurde Dieſe Urſache hat nichts außerordentlich Bedenkliches an ſich, da es üblich iſt, Spionage-Affairen geheim zu verhan- deln. Der Miniſterpräſident bezeichnet die Cam- pagne in der Affaire Dreyfus als bedauerlich (Beifall) und ſagt, ein berühmter Schriftſteller lieh ſeine Feder dazu, um die Armee zu entehren. (Langanhaltender Beifall im Centrum und auf der Rechten; heftige Unterbrechungen auf der äußerſten Linken.) — Méline tadelt jene Jour- naliſten, die die Campagne Dreifus führen und ff lichen Kerle hab’ ich niſcht gegeben — ohrfeigen könnt’ ich mich!“ Jeder „Künſtler“, der Breslau paſſirte, konnte ſich bei Holtei einen Händedruck, der in Geſtalt eines harten Thalers ſichtbar blieb, holen und ein paar freundliche Worte gab’s noch obendrein. Mir hat er ſogar einmal zwei Thaler per Poſt geſchickt, gänzlich ungebeten, nur in der nicht unberechtigten Annahme, daß die Glücks- güter eines wandernden Comödianten immer aufbeſſerungsbedürftig ſeien. „Ein Gläschen Wein auf gut Glück in Görlitz“ war die zart- ſinnige Aufſchrift des kleinen Couverts, welches die Liebesgabe umſchloß. Ach! Zu ſolch’ edler Verwendung kam der Inhalt leider nicht — der Schuſter, der ihn nahm, wird wohl auch nur Bier getrunken haben, aber große Freude war mir’s doch. — Die zwei Thaler wandern wohl noch immer, denn daß Holtei ſie nicht zurücknahm, als ich ihn ſpäter als „ran- girter Künſtler“ wieder aufſuchte, brauche ich nicht zu ſagen. Ich ſollte ſie nur „weitergeben“. Das habe ich denn unter derſelben Bedingung gethan und die Wanderung dieſes vagabondiren- den Legates bis zum vierten oder fünften Be- ſitzer auch verfolgt, doch „ſchnell war ſeine Spur verloren“. Vielleicht ſind die beiden Thaler an einen gekommen, der ſie nicht mehr weitergeben konnte und haben ſo Ruhe gefunden: „die Ruhe eines Kirchhofs“. — Ich war ein ganz junger Secundaner, als ich dem „olen“ Holtei en passant vorgeſtellt wurde, hielt mich aber in meiner damals ſchon regen Kunſtbegeiſterung für vollkommen berechtigt, Holtei am nächſten Tage anzufallen und ihn um eine kleine Soloſcene, welche in die Sammlung ſeiner Dramen nicht aufgenommen war, zu bitten. In meiner bald eintretenden großen Verlegenheit wußte ich nichts Beſſeres zu thun, als den be- rühmten Mann an einen Rockknopf zu packen und ihm denſelben halb abzudrehen. Was ich ſonſt bei dieſer Procedur geſprochen haben mag, iſt mir noch heutigen Tages nicht eingefallen Den Alten muß wohl dieſe eigenthümliche Art, ein Geſpräch anzubahnen, amüſirt haben, denn wenige Tage ſpäter erhielt ich ein Billetchen, mich am Sonnabend in ſeiner Wohnung einzufinden. Natürlich ſtellte ich mich pünktlich ein, nahm das aus einem verſtaubten Winkel hervorgeſuchte Stückchen „Des Schauſpielers Morgenſtunde“ dankend in Empfang und nach längerem Ver- weilen beim Abſchiede eine größere Gabe: die Erlaubniß, mich alle Sonnabend Nachmittag zu einem Plauderſtündchen einfinden zu dürfen. Das wurden herrliche Stunden für den jun- gen Theater-Enthuſiaſten. Als ich dem Alten geſtanden hatte, ich wollte „drunter“ gehen, da ging ihm das Herz auf, denn wenn er ſich auch brummend und polternd vom Theaterweſen zurückgezogen hatte, ſein Herz ſchlug warm für die Bühne, der er ja die beſte Kraft ſeines Lebens gewidmet hat. Ich könnte dieſen kleinen Erinnerungen, die ich dereinſt für meinen verehrten Freund Schwartz in Oldenburg niederſchrieb, noch manche andere hinzufügen, könnte noch eine große Anzahl von wahrhaft liebevollen Briefen mittheilen, mit denen der Greis in rührendem Wohlwollen jede Mit- theilung von meiner Seite erwiderte, aber das hieße, nach bewährtem Schauſpieler Recepte, meine Perſon ſo ganz unverſehens an die Stelle des- jenigen rücken, dem die Huldigung gelten ſoll. Wenn ich mich trotzdem nicht entſchließen kann, einen der letzten Briefe, die ich von Holteis Hand beſitze, hier zu veröffentlichen, ſo geſchieht es, weil aus ihm ſo viel Herzensgüte ſpricht, daß ich glaube, er wird auch anderen zu Gemüthe reden, als dem, der das Glück hatte, ihn zu empfangen. Das nach Lübeck gerichtete Schrei- ben lautet: Breslau, 6. November 1876. Lieber Freund Grube! Längſt ſchon hätte ich Ihnen Dank geſagt für Ihre erfreuliche Zuſchrift und Sie zugleich gebeten, unſerem edlen Geibel in meinem Namen auch zu danken dafür, daß er mein Schreiben gütig aufgenommen und Sie herzlich empfangen hat, wenn ich noch ſchreiben könnte, d. h. wenn ich nicht nach jeder Zeile, die ich nur mit höchſter Anſtrengung aufs Papier bringe, fürchten müßte, zum ſo und ſovielteſtenmale vom Stängel (sic!) zu fallen. Mein Zuſtand iſt erbarmenerregend; die letzten Kräfte ſchwinden, die Augen verſagen den Dienſt. Ich habe mich nach einem Schreiber umgethan, der nicht leicht zu finden war, und dem ich dictiren kann; bin auch recht zufrieden mit der getroffenen Wahl, will jedoch Nachſtehen- des lieber ſelbſt kritzeln.

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 18, Olmütz, 24.01.1898, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches18_1898/3>, abgerufen am 16.04.2024.