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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Prof. Dr. A. Forel: Das Recht der Kinder.
Mann, egoistische, polygamische Triebe haben mag. Wir verkennen keineswegs,
daß es viele Ausnahmen gibt und geben muß, und daß für diese gesorgt
werden soll. Am allerwenigsten verkennen wir, daß besonders verdorbene
soziale Sitten unnatürliche Verhältnisse schaffen, bei welchen die Eltern sich
schmählich gegen ihre Kinder benehmen, dieselben wirtschaftlich ausbeuten, der
Prostitution und dem Verbrechen zuführen, mißhandeln, martern usw. Nicht
selten sogar werden unbequeme Kinder in unauffälliger Weise durch langsame
Martern dem Tode zugeführt. Für alle diese Ausnahmefälle müssen be-
sondere gesetzliche Bestimmungen aufgestellt werden, die die Kinder von der
elterlichen Gewalt befreien oder wenigstens gegen den Mißbrauch derselben
schützen. Jch empfehle zur Beachtung und Nachahmung besonders die neueren
Anregungen, die für den Rechtsschutz des Kindes in Oesterreich, infolge der
Jnitiative des Fräulein Lydia von Wolfring, für die Gesetzgebung gemacht
worden sind.*) Man soll vernachlässigte oder verlassene Kinder durch den
Staat oder durch wohltätige Stiftungen aufziehen lassen, nachdem man sie
unwürdigen Eltern entzogen hat, die jedoch von ihren Erhaltungspflichten da-
durch keineswegs befreit werden. Am besten tut man nach dem Vorbild der
genannten Autorin, dieselben gruppenweise braven, kinderlosen Ehepaaren
unter Oberaufsicht zur Erziehung zu übergeben, denn dort finden sie gerade
wieder das ihnen fehlende Familienleben. Aus pädagogischen Gründen sollen
solche künstliche Familien, die natürlichen imitierend, Kinder beiderlei Ge-
schlechts und verschiedenen Alters enthalten. So wird die Regel gerade durch
diese Ausnahme am besten bestätigt.

Das Normale aber ist und bleibt, daß die Eltern, und zwar beide, für
die Aufziehung ihrer Kinder sorgen. Freilich muß hier der Staat vor allem
durch die Schulen helfend und sogar zwingend eingreifen, denn sie auf eine
gewisse Höhe der Kultur zu heben, ist die Gesellschaft ihren Kindern schuldig,
und hier darf die elterliche Gewalt nicht hemmend dazwischen treten. Der
obligatorische und unentgeltliche Schulunterricht gehört somit zu den übrigens
bereits fast überall, wenn auch oft noch mangelhaft durchgeführten Pflichten
des Staates. Der Staat soll ferner die Kinder dadurch schützen, daß er der
elterlichen Gewalt gewisse engere Grenzen zieht, als es heute noch der Fall
ist. Das Kind darf nicht ein Nutzgegenstand für die Eltern sein. Es hat auch
das Recht, gegen schädliche, launenhafte Züchtigungen geschützt zu werden,
besonders wenn sie den Charakter der Mißhandlung an sich tragen. Daß die
heute noch vielfach bestehende Gestattung der Prügelstrafe und dergleichen in
Schulen eine unbedingt abzuschaffende barbarische Roheit ist, ist selbstver-
ständlich.

Vor allem aber muß der Staat streng an der Alimentationspflicht beider
Geschlechter für die von ihnen erzeugten Kinder festhalten. Es darf kein
Vater ( und auch keine Mutter ) , ob er reich oder arm und ob das Kind ehelich
oder unehelich sei, sich dieser Pflicht entziehen. Bei unseren unvollkommenen

*) Lydia v. Wolfring: Wie schützt man die Kinder vor Mißhandlung und Ver-
brechen, 1899; Kindermißhandlungen, 1902; Aberkennung der väterlichen Gewalt, 1902.
Wien, bei Deutike. Ferner: Dieselbe; Beschränkung der Zivilrechte bei Gewohnheits-
trinkern, Wiener Gerichtszeitung, 1903; Landwirtschaftlich gewerbliche Kinderkolonien.
Verlag des Pestalozzibundes, Wien, 1904.

Prof. Dr. A. Forel: Das Recht der Kinder.
Mann, egoistische, polygamische Triebe haben mag. Wir verkennen keineswegs,
daß es viele Ausnahmen gibt und geben muß, und daß für diese gesorgt
werden soll. Am allerwenigsten verkennen wir, daß besonders verdorbene
soziale Sitten unnatürliche Verhältnisse schaffen, bei welchen die Eltern sich
schmählich gegen ihre Kinder benehmen, dieselben wirtschaftlich ausbeuten, der
Prostitution und dem Verbrechen zuführen, mißhandeln, martern usw. Nicht
selten sogar werden unbequeme Kinder in unauffälliger Weise durch langsame
Martern dem Tode zugeführt. Für alle diese Ausnahmefälle müssen be-
sondere gesetzliche Bestimmungen aufgestellt werden, die die Kinder von der
elterlichen Gewalt befreien oder wenigstens gegen den Mißbrauch derselben
schützen. Jch empfehle zur Beachtung und Nachahmung besonders die neueren
Anregungen, die für den Rechtsschutz des Kindes in Oesterreich, infolge der
Jnitiative des Fräulein Lydia von Wolfring, für die Gesetzgebung gemacht
worden sind.*) Man soll vernachlässigte oder verlassene Kinder durch den
Staat oder durch wohltätige Stiftungen aufziehen lassen, nachdem man sie
unwürdigen Eltern entzogen hat, die jedoch von ihren Erhaltungspflichten da-
durch keineswegs befreit werden. Am besten tut man nach dem Vorbild der
genannten Autorin, dieselben gruppenweise braven, kinderlosen Ehepaaren
unter Oberaufsicht zur Erziehung zu übergeben, denn dort finden sie gerade
wieder das ihnen fehlende Familienleben. Aus pädagogischen Gründen sollen
solche künstliche Familien, die natürlichen imitierend, Kinder beiderlei Ge-
schlechts und verschiedenen Alters enthalten. So wird die Regel gerade durch
diese Ausnahme am besten bestätigt.

Das Normale aber ist und bleibt, daß die Eltern, und zwar beide, für
die Aufziehung ihrer Kinder sorgen. Freilich muß hier der Staat vor allem
durch die Schulen helfend und sogar zwingend eingreifen, denn sie auf eine
gewisse Höhe der Kultur zu heben, ist die Gesellschaft ihren Kindern schuldig,
und hier darf die elterliche Gewalt nicht hemmend dazwischen treten. Der
obligatorische und unentgeltliche Schulunterricht gehört somit zu den übrigens
bereits fast überall, wenn auch oft noch mangelhaft durchgeführten Pflichten
des Staates. Der Staat soll ferner die Kinder dadurch schützen, daß er der
elterlichen Gewalt gewisse engere Grenzen zieht, als es heute noch der Fall
ist. Das Kind darf nicht ein Nutzgegenstand für die Eltern sein. Es hat auch
das Recht, gegen schädliche, launenhafte Züchtigungen geschützt zu werden,
besonders wenn sie den Charakter der Mißhandlung an sich tragen. Daß die
heute noch vielfach bestehende Gestattung der Prügelstrafe und dergleichen in
Schulen eine unbedingt abzuschaffende barbarische Roheit ist, ist selbstver-
ständlich.

Vor allem aber muß der Staat streng an der Alimentationspflicht beider
Geschlechter für die von ihnen erzeugten Kinder festhalten. Es darf kein
Vater ( und auch keine Mutter ) , ob er reich oder arm und ob das Kind ehelich
oder unehelich sei, sich dieser Pflicht entziehen. Bei unseren unvollkommenen

*) Lydia v. Wolfring: Wie schützt man die Kinder vor Mißhandlung und Ver-
brechen, 1899; Kindermißhandlungen, 1902; Aberkennung der väterlichen Gewalt, 1902.
Wien, bei Deutike. Ferner: Dieselbe; Beschränkung der Zivilrechte bei Gewohnheits-
trinkern, Wiener Gerichtszeitung, 1903; Landwirtschaftlich gewerbliche Kinderkolonien.
Verlag des Pestalozzibundes, Wien, 1904.
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[456/0024] Prof. Dr. A. Forel: Das Recht der Kinder. Mann, egoistische, polygamische Triebe haben mag. Wir verkennen keineswegs, daß es viele Ausnahmen gibt und geben muß, und daß für diese gesorgt werden soll. Am allerwenigsten verkennen wir, daß besonders verdorbene soziale Sitten unnatürliche Verhältnisse schaffen, bei welchen die Eltern sich schmählich gegen ihre Kinder benehmen, dieselben wirtschaftlich ausbeuten, der Prostitution und dem Verbrechen zuführen, mißhandeln, martern usw. Nicht selten sogar werden unbequeme Kinder in unauffälliger Weise durch langsame Martern dem Tode zugeführt. Für alle diese Ausnahmefälle müssen be- sondere gesetzliche Bestimmungen aufgestellt werden, die die Kinder von der elterlichen Gewalt befreien oder wenigstens gegen den Mißbrauch derselben schützen. Jch empfehle zur Beachtung und Nachahmung besonders die neueren Anregungen, die für den Rechtsschutz des Kindes in Oesterreich, infolge der Jnitiative des Fräulein Lydia von Wolfring, für die Gesetzgebung gemacht worden sind. *) Man soll vernachlässigte oder verlassene Kinder durch den Staat oder durch wohltätige Stiftungen aufziehen lassen, nachdem man sie unwürdigen Eltern entzogen hat, die jedoch von ihren Erhaltungspflichten da- durch keineswegs befreit werden. Am besten tut man nach dem Vorbild der genannten Autorin, dieselben gruppenweise braven, kinderlosen Ehepaaren unter Oberaufsicht zur Erziehung zu übergeben, denn dort finden sie gerade wieder das ihnen fehlende Familienleben. Aus pädagogischen Gründen sollen solche künstliche Familien, die natürlichen imitierend, Kinder beiderlei Ge- schlechts und verschiedenen Alters enthalten. So wird die Regel gerade durch diese Ausnahme am besten bestätigt. Das Normale aber ist und bleibt, daß die Eltern, und zwar beide, für die Aufziehung ihrer Kinder sorgen. Freilich muß hier der Staat vor allem durch die Schulen helfend und sogar zwingend eingreifen, denn sie auf eine gewisse Höhe der Kultur zu heben, ist die Gesellschaft ihren Kindern schuldig, und hier darf die elterliche Gewalt nicht hemmend dazwischen treten. Der obligatorische und unentgeltliche Schulunterricht gehört somit zu den übrigens bereits fast überall, wenn auch oft noch mangelhaft durchgeführten Pflichten des Staates. Der Staat soll ferner die Kinder dadurch schützen, daß er der elterlichen Gewalt gewisse engere Grenzen zieht, als es heute noch der Fall ist. Das Kind darf nicht ein Nutzgegenstand für die Eltern sein. Es hat auch das Recht, gegen schädliche, launenhafte Züchtigungen geschützt zu werden, besonders wenn sie den Charakter der Mißhandlung an sich tragen. Daß die heute noch vielfach bestehende Gestattung der Prügelstrafe und dergleichen in Schulen eine unbedingt abzuschaffende barbarische Roheit ist, ist selbstver- ständlich. Vor allem aber muß der Staat streng an der Alimentationspflicht beider Geschlechter für die von ihnen erzeugten Kinder festhalten. Es darf kein Vater ( und auch keine Mutter ) , ob er reich oder arm und ob das Kind ehelich oder unehelich sei, sich dieser Pflicht entziehen. Bei unseren unvollkommenen *) Lydia v. Wolfring: Wie schützt man die Kinder vor Mißhandlung und Ver- brechen, 1899; Kindermißhandlungen, 1902; Aberkennung der väterlichen Gewalt, 1902. Wien, bei Deutike. Ferner: Dieselbe; Beschränkung der Zivilrechte bei Gewohnheits- trinkern, Wiener Gerichtszeitung, 1903; Landwirtschaftlich gewerbliche Kinderkolonien. Verlag des Pestalozzibundes, Wien, 1904.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/24>, abgerufen am 27.11.2024.