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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Eduard Bernstein: Die Reichslokomotive und ihr Kurs.
bemerkt wurde, in parlamentarisch regierten Ländern sofort die Abstimmung
zu einer ausschlaggebenden für oder wider diese ganze Politik gestempelt hätte.
Wieso und warum es im Reichstag nicht dazu kam, ward bereits an dieser Stelle
erörtert und soll uns heute nicht weiter beschäftigen. Dagegen hat das Pro-
gramm selbst auf einige weitere Bemerkungen Anspruch.

Nach Posadowsky treibt das Reich Sozialpolitik, "um von dem Teil der
Arbeiter, der im politischen und wirtschaftlichen Kampf leider das Vertrauen
zu der Regierung verloren hat, dieses Vertrauen zu der bürgerlichen Gesell-
schaft und der Regierung wieder zu erwecken".

Das ist ein legitimer Zweck, wenn auch keine ausreichende sozialpolitische
Begründung. Allerdings hatte es vorher noch geheißen: "Wir erkennen an,
daß mit der gesteigerten Volksbildung der Massen diese Massen auch berechtigt
sind, höhere Ansprüche an ihre Lebenshaltung zu stellen. Wir wollen Sozial-
politik treiben, indem wir dem Arbeiter eine wirtschaftlich vollkommen gleich-
berechtigte Stellung mit allen anderen Erwerbsklassen einräumen." Aber, so
vielversprechend das klingt, so kommt es doch sehr auf den greifbaren Jnhalt
an, der diesen Formeln gegeben wird, bevor man sagen kann, daß sie auch viel
bedeuten. Vorläufig sind sie nur vieldeutig. Was heißt das, eine wirtschaft-
lich vollkommen gleichberechtigte Stellung mit allen anderen Erwerbsklassen?
Jn seiner Art erkennt der verhärtetste Manchestermann die dem Arbeiter auch
zu -- ja, er gerade vor allen anderen vertritt das Prinzip der vollen wirtschaft-
lichen Gleichberechtigung. Wir wissen aber, wie sich in der Praxis diese Gleich-
berechtigung bewährt, so lange sie formal bleibt. Der Arbeiter kann je nach-
dem bei ihr gleichberechtigt verhungern. Verhungern, auch wenn es für ge-
rechtfertigt erklärt wird -- was wieder selbst der starrste Manchestermann
unterschreibt --, daß die Volksmassen mit gesteigerter Volksbildung höhere
Ansprüche an ihre Lebenshaltung stellen. Die Frage ist doch, wie, durch welche
Mittel und in welchem Maße sollen diese Ansprüche erfüllt werden? Wir
wollen gern glauben, daß Posadowsky, als er die Worte sprach, an irgend
welche materielle Aufbesserung gedacht hat. Aber vorläufig hat derselbe Posa-
dowsky mit dem neuen Zolltarif und den auf ihn basierten Handelsverträgen
ein wirtschaftspolitisches Gesetzwerk ins Leben setzen helfen, das -- darüber
kann nicht der mindeste Streit sein -- für die große Volksmasse, die Lohn-
arbeiter, Kleinindustriellen, Beamten u. s. w., eine sehr erhebliche Schmäle-
rung ihrer Einkommen, statt einer Erhöhung eine Verschlechterung ihrer
Lebenshaltung bedeutet.

Selbst wer der Ansicht ist, daß bei Zöllen häufig das Ausland einen
Teil des Zolles trägt, wird sich nicht dem Wahn hingeben, daß das nun auch
für die Zollerhöhungen gilt, die der neue Vertragstarif gegenüber dem bis-
herigen in Bezug auf Brotkorn, Fleischwaren und andere Lebensmittel fest-
setzt. Diese Aufschläge wird das Ausland in den wenigsten Fällen tragen,
und sie machen bei Brotkorn allein für die fünfköpfige Familie eine Mehr-
ausgabe von 15 bis 20 Mark im Jahr aus. Jnsgesamt wird es kaum zu hoch
gegriffen sein, wenn wir die Erhöhung der Kosten für die notwendigen und
die gewohnheitsmäßigen Lebensmittel des Volkes durch den neuen Vertrags-
tarif auf rund 40 Mark pro Jahr und Familie veranschlagen. Mit andern
Worten, der Realwert des Geldeinkommens der Volksmasse wird um einen

Eduard Bernstein: Die Reichslokomotive und ihr Kurs.
bemerkt wurde, in parlamentarisch regierten Ländern sofort die Abstimmung
zu einer ausschlaggebenden für oder wider diese ganze Politik gestempelt hätte.
Wieso und warum es im Reichstag nicht dazu kam, ward bereits an dieser Stelle
erörtert und soll uns heute nicht weiter beschäftigen. Dagegen hat das Pro-
gramm selbst auf einige weitere Bemerkungen Anspruch.

Nach Posadowsky treibt das Reich Sozialpolitik, „um von dem Teil der
Arbeiter, der im politischen und wirtschaftlichen Kampf leider das Vertrauen
zu der Regierung verloren hat, dieses Vertrauen zu der bürgerlichen Gesell-
schaft und der Regierung wieder zu erwecken“.

Das ist ein legitimer Zweck, wenn auch keine ausreichende sozialpolitische
Begründung. Allerdings hatte es vorher noch geheißen: „Wir erkennen an,
daß mit der gesteigerten Volksbildung der Massen diese Massen auch berechtigt
sind, höhere Ansprüche an ihre Lebenshaltung zu stellen. Wir wollen Sozial-
politik treiben, indem wir dem Arbeiter eine wirtschaftlich vollkommen gleich-
berechtigte Stellung mit allen anderen Erwerbsklassen einräumen.“ Aber, so
vielversprechend das klingt, so kommt es doch sehr auf den greifbaren Jnhalt
an, der diesen Formeln gegeben wird, bevor man sagen kann, daß sie auch viel
bedeuten. Vorläufig sind sie nur vieldeutig. Was heißt das, eine wirtschaft-
lich vollkommen gleichberechtigte Stellung mit allen anderen Erwerbsklassen?
Jn seiner Art erkennt der verhärtetste Manchestermann die dem Arbeiter auch
zu — ja, er gerade vor allen anderen vertritt das Prinzip der vollen wirtschaft-
lichen Gleichberechtigung. Wir wissen aber, wie sich in der Praxis diese Gleich-
berechtigung bewährt, so lange sie formal bleibt. Der Arbeiter kann je nach-
dem bei ihr gleichberechtigt verhungern. Verhungern, auch wenn es für ge-
rechtfertigt erklärt wird — was wieder selbst der starrste Manchestermann
unterschreibt —, daß die Volksmassen mit gesteigerter Volksbildung höhere
Ansprüche an ihre Lebenshaltung stellen. Die Frage ist doch, wie, durch welche
Mittel und in welchem Maße sollen diese Ansprüche erfüllt werden? Wir
wollen gern glauben, daß Posadowsky, als er die Worte sprach, an irgend
welche materielle Aufbesserung gedacht hat. Aber vorläufig hat derselbe Posa-
dowsky mit dem neuen Zolltarif und den auf ihn basierten Handelsverträgen
ein wirtschaftspolitisches Gesetzwerk ins Leben setzen helfen, das — darüber
kann nicht der mindeste Streit sein — für die große Volksmasse, die Lohn-
arbeiter, Kleinindustriellen, Beamten u. s. w., eine sehr erhebliche Schmäle-
rung ihrer Einkommen, statt einer Erhöhung eine Verschlechterung ihrer
Lebenshaltung bedeutet.

Selbst wer der Ansicht ist, daß bei Zöllen häufig das Ausland einen
Teil des Zolles trägt, wird sich nicht dem Wahn hingeben, daß das nun auch
für die Zollerhöhungen gilt, die der neue Vertragstarif gegenüber dem bis-
herigen in Bezug auf Brotkorn, Fleischwaren und andere Lebensmittel fest-
setzt. Diese Aufschläge wird das Ausland in den wenigsten Fällen tragen,
und sie machen bei Brotkorn allein für die fünfköpfige Familie eine Mehr-
ausgabe von 15 bis 20 Mark im Jahr aus. Jnsgesamt wird es kaum zu hoch
gegriffen sein, wenn wir die Erhöhung der Kosten für die notwendigen und
die gewohnheitsmäßigen Lebensmittel des Volkes durch den neuen Vertrags-
tarif auf rund 40 Mark pro Jahr und Familie veranschlagen. Mit andern
Worten, der Realwert des Geldeinkommens der Volksmasse wird um einen

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[340/0004] Eduard Bernstein: Die Reichslokomotive und ihr Kurs. bemerkt wurde, in parlamentarisch regierten Ländern sofort die Abstimmung zu einer ausschlaggebenden für oder wider diese ganze Politik gestempelt hätte. Wieso und warum es im Reichstag nicht dazu kam, ward bereits an dieser Stelle erörtert und soll uns heute nicht weiter beschäftigen. Dagegen hat das Pro- gramm selbst auf einige weitere Bemerkungen Anspruch. Nach Posadowsky treibt das Reich Sozialpolitik, „um von dem Teil der Arbeiter, der im politischen und wirtschaftlichen Kampf leider das Vertrauen zu der Regierung verloren hat, dieses Vertrauen zu der bürgerlichen Gesell- schaft und der Regierung wieder zu erwecken“. Das ist ein legitimer Zweck, wenn auch keine ausreichende sozialpolitische Begründung. Allerdings hatte es vorher noch geheißen: „Wir erkennen an, daß mit der gesteigerten Volksbildung der Massen diese Massen auch berechtigt sind, höhere Ansprüche an ihre Lebenshaltung zu stellen. Wir wollen Sozial- politik treiben, indem wir dem Arbeiter eine wirtschaftlich vollkommen gleich- berechtigte Stellung mit allen anderen Erwerbsklassen einräumen.“ Aber, so vielversprechend das klingt, so kommt es doch sehr auf den greifbaren Jnhalt an, der diesen Formeln gegeben wird, bevor man sagen kann, daß sie auch viel bedeuten. Vorläufig sind sie nur vieldeutig. Was heißt das, eine wirtschaft- lich vollkommen gleichberechtigte Stellung mit allen anderen Erwerbsklassen? Jn seiner Art erkennt der verhärtetste Manchestermann die dem Arbeiter auch zu — ja, er gerade vor allen anderen vertritt das Prinzip der vollen wirtschaft- lichen Gleichberechtigung. Wir wissen aber, wie sich in der Praxis diese Gleich- berechtigung bewährt, so lange sie formal bleibt. Der Arbeiter kann je nach- dem bei ihr gleichberechtigt verhungern. Verhungern, auch wenn es für ge- rechtfertigt erklärt wird — was wieder selbst der starrste Manchestermann unterschreibt —, daß die Volksmassen mit gesteigerter Volksbildung höhere Ansprüche an ihre Lebenshaltung stellen. Die Frage ist doch, wie, durch welche Mittel und in welchem Maße sollen diese Ansprüche erfüllt werden? Wir wollen gern glauben, daß Posadowsky, als er die Worte sprach, an irgend welche materielle Aufbesserung gedacht hat. Aber vorläufig hat derselbe Posa- dowsky mit dem neuen Zolltarif und den auf ihn basierten Handelsverträgen ein wirtschaftspolitisches Gesetzwerk ins Leben setzen helfen, das — darüber kann nicht der mindeste Streit sein — für die große Volksmasse, die Lohn- arbeiter, Kleinindustriellen, Beamten u. s. w., eine sehr erhebliche Schmäle- rung ihrer Einkommen, statt einer Erhöhung eine Verschlechterung ihrer Lebenshaltung bedeutet. Selbst wer der Ansicht ist, daß bei Zöllen häufig das Ausland einen Teil des Zolles trägt, wird sich nicht dem Wahn hingeben, daß das nun auch für die Zollerhöhungen gilt, die der neue Vertragstarif gegenüber dem bis- herigen in Bezug auf Brotkorn, Fleischwaren und andere Lebensmittel fest- setzt. Diese Aufschläge wird das Ausland in den wenigsten Fällen tragen, und sie machen bei Brotkorn allein für die fünfköpfige Familie eine Mehr- ausgabe von 15 bis 20 Mark im Jahr aus. Jnsgesamt wird es kaum zu hoch gegriffen sein, wenn wir die Erhöhung der Kosten für die notwendigen und die gewohnheitsmäßigen Lebensmittel des Volkes durch den neuen Vertrags- tarif auf rund 40 Mark pro Jahr und Familie veranschlagen. Mit andern Worten, der Realwert des Geldeinkommens der Volksmasse wird um einen

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/4>, abgerufen am 24.11.2024.