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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Die Reichslokomotive und ihr Kurs.
Von Eduard Bernstein, M. d. R.

Bei den diesjährigen Debatten über den Etat des Reichsamts des Jnnern
ist die Sozialpolitik des Deutschen Reichs wiederholt mit einem Eisenbahnzug
verglichen worden. Es ging im Reichstag wie auch sonst in der Welt. Ein
Redner -- der Zentrumsabgeordnete Trimborn -- nannte den Minister Grafen
Posadowsky den Lokomotivführer der deutschen Sozialreform, und ihm fol-
gende Redner nutzten das Bild weiter aus. Verehrer Tardes haben ein Bei-
spiel mehr für dessen Jmitationstheorie. Ehedem bot der Karren, der mit
dem Straßenkot zu kämpfen hat, den nächstliegenden Vergleich, jetzt sprach
man von Bummel= und Expreßzug, von Bremsern und dergleichen.

Es stand und steht indes nicht nur das Tempo der Reichs=Sozialpolitik
in Frage, sondern es handelt sich nicht minder um ihre Richtung -- um beim
Bilde zu bleiben -- den Kurs des Eisenbahnzuges. Hier spielt der Lokomotiv-
führer Posadowsky, wie man weiß, eine Doppelrolle. Jnbezug auf den Ar-
beiterschutz und was mit ihm zusammenhängt, gilt er -- und wohl mit Recht
-- als der Antreiber im Rate der Regierung, als der Vertreter eines beschleu-
nigten Tempos, für das freilich die Ausdrücke "Schnell" oder "Expreß" arge
Hyperbeln sein würden. Von Beschleunigung ist nur jenen Elementen gegen-
über zu reden, die in diesem Punkt am liebsten von der Lokomotive zum
Karren zurückkehrten. Jmmerhin zeigt hier der Fahrplan Posadowskys ein-
heitlich nach vorwärts. Anders in den Fragen der Sozialpolitik im weiteren
Sinne, da, wo sie mit der Wirtschaftspolitik zusammenfällt. Dort ist auch
bei ihm von Einheitlichkeit nicht mehr die Rede. Wohl ist er zu sehr Sach-
kenner, um sich auf die plump reaktionären Heilmittel der Zünftler und
Bauernbündler einzuschwören, und findet gelegentlich treffende Worte gegen
deren vorsintflutliche Tendenzen. Aber doch nur, um bei nächster Gelegenheit
wieder im Jnteresse des Bestehenden selbst zu bremsen oder auch die Maschine
in ein Geleise einzulenken, wo es durchaus nicht mehr nach vorwärts geht.
Wie das von einem Reichsminister, der gleichzeitig preußischer Staatsminister
ist, auch gar nicht anders erwartet werden kann.

Die für seine Doppelrolle bezeichnendsten Aeußerungen Posadowskys
waren, soweit die letzte Zeit in Betracht kommt, seine Ausführungen in der
Reichstagssitzung vom 22. Februar dieses Jahres über den Zusammenhang der
Agrarpolitik und der Sozialpolitik des Reiches. Ohne prinzipiell Neues zu
sagen, faßte der theoretisierende Graf da die wirtschaftspolitischen Tendenzen
der derzeitigen Reichspolitik doch so prägnant zusammen, daß seine Rede den
Charakter eines Programms erhielt und als solches, wie in voriger Nummer


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Die Reichslokomotive und ihr Kurs.
Von Eduard Bernstein, M. d. R.

Bei den diesjährigen Debatten über den Etat des Reichsamts des Jnnern
ist die Sozialpolitik des Deutschen Reichs wiederholt mit einem Eisenbahnzug
verglichen worden. Es ging im Reichstag wie auch sonst in der Welt. Ein
Redner — der Zentrumsabgeordnete Trimborn — nannte den Minister Grafen
Posadowsky den Lokomotivführer der deutschen Sozialreform, und ihm fol-
gende Redner nutzten das Bild weiter aus. Verehrer Tardes haben ein Bei-
spiel mehr für dessen Jmitationstheorie. Ehedem bot der Karren, der mit
dem Straßenkot zu kämpfen hat, den nächstliegenden Vergleich, jetzt sprach
man von Bummel= und Expreßzug, von Bremsern und dergleichen.

Es stand und steht indes nicht nur das Tempo der Reichs=Sozialpolitik
in Frage, sondern es handelt sich nicht minder um ihre Richtung — um beim
Bilde zu bleiben — den Kurs des Eisenbahnzuges. Hier spielt der Lokomotiv-
führer Posadowsky, wie man weiß, eine Doppelrolle. Jnbezug auf den Ar-
beiterschutz und was mit ihm zusammenhängt, gilt er — und wohl mit Recht
— als der Antreiber im Rate der Regierung, als der Vertreter eines beschleu-
nigten Tempos, für das freilich die Ausdrücke „Schnell“ oder „Expreß“ arge
Hyperbeln sein würden. Von Beschleunigung ist nur jenen Elementen gegen-
über zu reden, die in diesem Punkt am liebsten von der Lokomotive zum
Karren zurückkehrten. Jmmerhin zeigt hier der Fahrplan Posadowskys ein-
heitlich nach vorwärts. Anders in den Fragen der Sozialpolitik im weiteren
Sinne, da, wo sie mit der Wirtschaftspolitik zusammenfällt. Dort ist auch
bei ihm von Einheitlichkeit nicht mehr die Rede. Wohl ist er zu sehr Sach-
kenner, um sich auf die plump reaktionären Heilmittel der Zünftler und
Bauernbündler einzuschwören, und findet gelegentlich treffende Worte gegen
deren vorsintflutliche Tendenzen. Aber doch nur, um bei nächster Gelegenheit
wieder im Jnteresse des Bestehenden selbst zu bremsen oder auch die Maschine
in ein Geleise einzulenken, wo es durchaus nicht mehr nach vorwärts geht.
Wie das von einem Reichsminister, der gleichzeitig preußischer Staatsminister
ist, auch gar nicht anders erwartet werden kann.

Die für seine Doppelrolle bezeichnendsten Aeußerungen Posadowskys
waren, soweit die letzte Zeit in Betracht kommt, seine Ausführungen in der
Reichstagssitzung vom 22. Februar dieses Jahres über den Zusammenhang der
Agrarpolitik und der Sozialpolitik des Reiches. Ohne prinzipiell Neues zu
sagen, faßte der theoretisierende Graf da die wirtschaftspolitischen Tendenzen
der derzeitigen Reichspolitik doch so prägnant zusammen, daß seine Rede den
Charakter eines Programms erhielt und als solches, wie in voriger Nummer

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. [339]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/3>, abgerufen am 24.11.2024.