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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Dr. A. Kalthoff: Der Intellekt in der Religion.
eben deshalb ist alle echte Religiosität und alle erlebte Weltanschauung etwas
so Persönliches, daß man sagen darf: so viel Köpfe, soviel Religionen und
Weltanschauungen; wo aber Religion und Weltanschauung als Gemeinschafts-
bewegung auftritt, da hat sie sich zu einer oberflächlichen Form ausgeprägt,
einer Moral, sei es zu einem Dogmen= und Zeremoniendienst, sei es auch zu
einem politisch=sozialen System. Wir haben es dann mit veräußerlichter Kultur
zu tun, die unfähig ist, das zu leisten, wonach der Schatzgräber innerlicher
Kultur verlangt -- ich meine lebendige, aus der Persönlichkeit gezeugte, daher
überzeugende Deutung des Welt=Sinnes.

Weil also die Lebensfrage innerlicher Kultur im Arcanum des Menschen
wurzelt, das in seiner tiefsten Eigenart allen Mitmenschen ein Buch mit sieben
Siegeln bleibt, darum ist die zentrale Lebenskraft innerlicher Kultur -- Mystik,
ein Erlebnis allerpersönlichster Art, das alle Oberflächenform, alles Jntellektuelle
derart abgestreift hat, daß es sich kaum noch, allenfalls in künstlerischen,
gefühlvollen Sinnbildern, mitteilen läßt. Jch weiß, daß dies Zurückgehen auf
die Mystik für manchen Leser die von mir empfohlene innerliche Kultur be-
sonders verdächtig macht. Die moderne Verständigkeit sieht auf die Mystik
herab wie auf eine Blase religiösen Jrrsinns. Die moderne Verständigkeit hat
eben vor lauter Sozialsinn jenen tiefern Jndividualismus verloren, der die
Freiheit nicht bloß auf dem Gebiete der äußern Lebensführung respektiert,
sondern im gestaltenden Urgrunde der Persönlichkeit. Vielleicht ist das Stutzen
des Lesers vor der äußersten Konsequenz meiner Ausführungen geeignet, ihm
die Schroffheit zu veranschaulichen, mit der die innerliche Kultur unserer äußer-
lichen gegenübersteht. Horch, was der "cherubinische Wandersmann" drüben singt:

"Mensch, in dem Ursprung ist das Wasser rein und klar;
Trinkst du nicht aus dem Quell, so stehst du in Gefahr."
[Abbildung]
Der Intellekt in der Religion.
Von Pastor Dr. A. Kalthoff, Bremen.

Das Problem des heutigen Menschen ist das Genie, die schöpferische Per-
sönlichkeit. Während noch bis in die Zeit Schillers und Goethes das Genie als
eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Menschlichen galt und die Vor-
stellung einer überragenden Größe in sich schloß, ist mit der Aufwärtsbewegung
der Masse ein neuer Maßstab für den Menschen gesunden, der allen die Mög-
lichkeit zur Größe zuerkennt und von allen eine eigene produktive Kraft fordert.
Dabei handelt es sich nicht darum, möglichst zahlreiche Kopien von dem Genie
alten Stils herzustellen, die, wie alle Kopien, doch nur die Äußerlichkeiten

Dr. A. Kalthoff: Der Intellekt in der Religion.
eben deshalb ist alle echte Religiosität und alle erlebte Weltanschauung etwas
so Persönliches, daß man sagen darf: so viel Köpfe, soviel Religionen und
Weltanschauungen; wo aber Religion und Weltanschauung als Gemeinschafts-
bewegung auftritt, da hat sie sich zu einer oberflächlichen Form ausgeprägt,
einer Moral, sei es zu einem Dogmen= und Zeremoniendienst, sei es auch zu
einem politisch=sozialen System. Wir haben es dann mit veräußerlichter Kultur
zu tun, die unfähig ist, das zu leisten, wonach der Schatzgräber innerlicher
Kultur verlangt — ich meine lebendige, aus der Persönlichkeit gezeugte, daher
überzeugende Deutung des Welt=Sinnes.

Weil also die Lebensfrage innerlicher Kultur im Arcanum des Menschen
wurzelt, das in seiner tiefsten Eigenart allen Mitmenschen ein Buch mit sieben
Siegeln bleibt, darum ist die zentrale Lebenskraft innerlicher Kultur — Mystik,
ein Erlebnis allerpersönlichster Art, das alle Oberflächenform, alles Jntellektuelle
derart abgestreift hat, daß es sich kaum noch, allenfalls in künstlerischen,
gefühlvollen Sinnbildern, mitteilen läßt. Jch weiß, daß dies Zurückgehen auf
die Mystik für manchen Leser die von mir empfohlene innerliche Kultur be-
sonders verdächtig macht. Die moderne Verständigkeit sieht auf die Mystik
herab wie auf eine Blase religiösen Jrrsinns. Die moderne Verständigkeit hat
eben vor lauter Sozialsinn jenen tiefern Jndividualismus verloren, der die
Freiheit nicht bloß auf dem Gebiete der äußern Lebensführung respektiert,
sondern im gestaltenden Urgrunde der Persönlichkeit. Vielleicht ist das Stutzen
des Lesers vor der äußersten Konsequenz meiner Ausführungen geeignet, ihm
die Schroffheit zu veranschaulichen, mit der die innerliche Kultur unserer äußer-
lichen gegenübersteht. Horch, was der „cherubinische Wandersmann“ drüben singt:

„Mensch, in dem Ursprung ist das Wasser rein und klar;
Trinkst du nicht aus dem Quell, so stehst du in Gefahr.“
[Abbildung]
Der Intellekt in der Religion.
Von Pastor Dr. A. Kalthoff, Bremen.

Das Problem des heutigen Menschen ist das Genie, die schöpferische Per-
sönlichkeit. Während noch bis in die Zeit Schillers und Goethes das Genie als
eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Menschlichen galt und die Vor-
stellung einer überragenden Größe in sich schloß, ist mit der Aufwärtsbewegung
der Masse ein neuer Maßstab für den Menschen gesunden, der allen die Mög-
lichkeit zur Größe zuerkennt und von allen eine eigene produktive Kraft fordert.
Dabei handelt es sich nicht darum, möglichst zahlreiche Kopien von dem Genie
alten Stils herzustellen, die, wie alle Kopien, doch nur die Äußerlichkeiten

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[353/0017] Dr. A. Kalthoff: Der Intellekt in der Religion. eben deshalb ist alle echte Religiosität und alle erlebte Weltanschauung etwas so Persönliches, daß man sagen darf: so viel Köpfe, soviel Religionen und Weltanschauungen; wo aber Religion und Weltanschauung als Gemeinschafts- bewegung auftritt, da hat sie sich zu einer oberflächlichen Form ausgeprägt, einer Moral, sei es zu einem Dogmen= und Zeremoniendienst, sei es auch zu einem politisch=sozialen System. Wir haben es dann mit veräußerlichter Kultur zu tun, die unfähig ist, das zu leisten, wonach der Schatzgräber innerlicher Kultur verlangt — ich meine lebendige, aus der Persönlichkeit gezeugte, daher überzeugende Deutung des Welt=Sinnes. Weil also die Lebensfrage innerlicher Kultur im Arcanum des Menschen wurzelt, das in seiner tiefsten Eigenart allen Mitmenschen ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, darum ist die zentrale Lebenskraft innerlicher Kultur — Mystik, ein Erlebnis allerpersönlichster Art, das alle Oberflächenform, alles Jntellektuelle derart abgestreift hat, daß es sich kaum noch, allenfalls in künstlerischen, gefühlvollen Sinnbildern, mitteilen läßt. Jch weiß, daß dies Zurückgehen auf die Mystik für manchen Leser die von mir empfohlene innerliche Kultur be- sonders verdächtig macht. Die moderne Verständigkeit sieht auf die Mystik herab wie auf eine Blase religiösen Jrrsinns. Die moderne Verständigkeit hat eben vor lauter Sozialsinn jenen tiefern Jndividualismus verloren, der die Freiheit nicht bloß auf dem Gebiete der äußern Lebensführung respektiert, sondern im gestaltenden Urgrunde der Persönlichkeit. Vielleicht ist das Stutzen des Lesers vor der äußersten Konsequenz meiner Ausführungen geeignet, ihm die Schroffheit zu veranschaulichen, mit der die innerliche Kultur unserer äußer- lichen gegenübersteht. Horch, was der „cherubinische Wandersmann“ drüben singt: „Mensch, in dem Ursprung ist das Wasser rein und klar; Trinkst du nicht aus dem Quell, so stehst du in Gefahr.“ [Abbildung] Der Intellekt in der Religion. Von Pastor Dr. A. Kalthoff, Bremen. Das Problem des heutigen Menschen ist das Genie, die schöpferische Per- sönlichkeit. Während noch bis in die Zeit Schillers und Goethes das Genie als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Menschlichen galt und die Vor- stellung einer überragenden Größe in sich schloß, ist mit der Aufwärtsbewegung der Masse ein neuer Maßstab für den Menschen gesunden, der allen die Mög- lichkeit zur Größe zuerkennt und von allen eine eigene produktive Kraft fordert. Dabei handelt es sich nicht darum, möglichst zahlreiche Kopien von dem Genie alten Stils herzustellen, die, wie alle Kopien, doch nur die Äußerlichkeiten

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/17>, abgerufen am 23.11.2024.