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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Dr. Bruno Wille: Renaissance innerlicher Kultur.
wir vor Zerrissenheit und Gebrochenheit nicht zu vollem Heile und voller Kraft
gelangen. Diese trübe Seelenverfassung grassiert heutzutage, weil unsere Kultur
sich noch keine Weltanschauung angeeignet hat, in der Kopf und Herz, Wissen-
schaft und Gemüt, harmonisch wie in einer guten Ehe vermählt sind. Mit der
Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit unserer Kultur hängt eine falsche Schätzung
fachmännischer Spezialisierung zusammen, die vermeintlich das Goethewort be-
herzigt "Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister", in Wahrheit aber
nicht Beschränkung, sondern Beschränktheit groß zieht. Das ist eine Fach-
simpelei, die unsere Lebensgebiete nicht als innerlich verbundene Zusammen-
gehörigkeiten, sondern als Schubfächer mit starren Grenzen betrachtet. Unsere
widerspruchsvolle Kultur läßt den Theologen vor Schülern und Studenten
feierlich behaupten, Wasser könne durch priesterliche Weihe in Blut verwandelt
werden, einem Kandidaten der Chemie aber, der diese Behauptung in seiner
Fach=Prüfung beherzigen wollte, würde sie das Diplom verweigern.

Jhrer Logik rühmt sich unsere Kultur. Doch sie beherzigt sehr wenig
jene tiefere Logik, die ich den Logos der Persönlichkeit nennen möchte. Das
griechische Wort "Logos", das zu Beginn des Johannes=Evangeliums eine Rolle
spielt ( "Jm Anfang war der Logos" ) , bedeutet weit mehr als "Wort" ( wie
Luther übersetzt ) . Logos ist die Logik der Weltentwicklung, der schöpferische
Sinn. Wenn das Weltall nicht sinnlos ist, wenn es vielmehr einen kosmischen
Sinn gibt, so muß er sich auch in dem bedeutsamen Gliede des Weltalls be-
tätigen, das wir als unsere Persönlichkeit erleben. Eine unsinnige Verfassung,
der Fluch der Konfusion, wäre unserer Persönlichkeit zugefügt, wenn sie not-
wendig mit sich selbst zerfallen bliebe, wenn Kopf und Herz, Realismus und
Jdealismus unverträglich neben einander hergehen müßten. Jndem ich der
Persönlichkeit empfehle, wenigstens hypothetisch einen Weltsinn gelten zu lassen
und den Logos als ihren Lebensgrund zu betrachten, möchte ich sie zur Wider-
spruchslosigkeit, zur Übereinstimmung mit sich selbst anleiten, zur Harmonie von
Verstand und Gemüt.

Was Goethe an dem materialistisch = mechanistischen Systeme de la nature
aussetzt, die einseitig sinnliche und verständige Betrachtungsweise, die den anderen
Kräften unserer Persönlichkeit einen Dämpfer aufsetzt, ist ein charakteristischer
Zug der äußerlichen Kultur. Sinnlichkeit und Verständigkeit bilden jene Ober-
fläche des Erlebens, bei der es die äußerliche Kultur gern bewenden läßt.
Wer hingegen, wie Goethe, den Standpunkt des Künstlers, des fühlenden und
wollenden Gemüts zur Geltung bringt, reagiert mit seiner Tiefe und sucht
innerliche Kultur. Daher ruft Goethe der bloß physischen und verständigen
Betrachtung, die sich auf die "äußere Schale" der Natur beschränkt, anzüglich zu:

"Dich prüse du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist."

Und für die Kleinmütigen, die vor ihrer Nase den Kern der Natur ver-
schlossen wähnen, bemerkt er noch:

"Jst nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?"

Das kernhafte, tief innerliche Erlebnis, die Art, wie unser Herz mit
seinem Jdealismus das sinnliche Wahrnehmen und verständige Erfassen der
Dinge begleitet und zur Einheit ergänzt, ist das eigentümlich Religiöse an aller
Weltanschauung. Und weil es sich hier um eine kernhafte Tätigkeit handelt --

Dr. Bruno Wille: Renaissance innerlicher Kultur.
wir vor Zerrissenheit und Gebrochenheit nicht zu vollem Heile und voller Kraft
gelangen. Diese trübe Seelenverfassung grassiert heutzutage, weil unsere Kultur
sich noch keine Weltanschauung angeeignet hat, in der Kopf und Herz, Wissen-
schaft und Gemüt, harmonisch wie in einer guten Ehe vermählt sind. Mit der
Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit unserer Kultur hängt eine falsche Schätzung
fachmännischer Spezialisierung zusammen, die vermeintlich das Goethewort be-
herzigt „Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“, in Wahrheit aber
nicht Beschränkung, sondern Beschränktheit groß zieht. Das ist eine Fach-
simpelei, die unsere Lebensgebiete nicht als innerlich verbundene Zusammen-
gehörigkeiten, sondern als Schubfächer mit starren Grenzen betrachtet. Unsere
widerspruchsvolle Kultur läßt den Theologen vor Schülern und Studenten
feierlich behaupten, Wasser könne durch priesterliche Weihe in Blut verwandelt
werden, einem Kandidaten der Chemie aber, der diese Behauptung in seiner
Fach=Prüfung beherzigen wollte, würde sie das Diplom verweigern.

Jhrer Logik rühmt sich unsere Kultur. Doch sie beherzigt sehr wenig
jene tiefere Logik, die ich den Logos der Persönlichkeit nennen möchte. Das
griechische Wort „Logos“, das zu Beginn des Johannes=Evangeliums eine Rolle
spielt ( „Jm Anfang war der Logos“ ) , bedeutet weit mehr als „Wort“ ( wie
Luther übersetzt ) . Logos ist die Logik der Weltentwicklung, der schöpferische
Sinn. Wenn das Weltall nicht sinnlos ist, wenn es vielmehr einen kosmischen
Sinn gibt, so muß er sich auch in dem bedeutsamen Gliede des Weltalls be-
tätigen, das wir als unsere Persönlichkeit erleben. Eine unsinnige Verfassung,
der Fluch der Konfusion, wäre unserer Persönlichkeit zugefügt, wenn sie not-
wendig mit sich selbst zerfallen bliebe, wenn Kopf und Herz, Realismus und
Jdealismus unverträglich neben einander hergehen müßten. Jndem ich der
Persönlichkeit empfehle, wenigstens hypothetisch einen Weltsinn gelten zu lassen
und den Logos als ihren Lebensgrund zu betrachten, möchte ich sie zur Wider-
spruchslosigkeit, zur Übereinstimmung mit sich selbst anleiten, zur Harmonie von
Verstand und Gemüt.

Was Goethe an dem materialistisch = mechanistischen Système de la nature
aussetzt, die einseitig sinnliche und verständige Betrachtungsweise, die den anderen
Kräften unserer Persönlichkeit einen Dämpfer aufsetzt, ist ein charakteristischer
Zug der äußerlichen Kultur. Sinnlichkeit und Verständigkeit bilden jene Ober-
fläche des Erlebens, bei der es die äußerliche Kultur gern bewenden läßt.
Wer hingegen, wie Goethe, den Standpunkt des Künstlers, des fühlenden und
wollenden Gemüts zur Geltung bringt, reagiert mit seiner Tiefe und sucht
innerliche Kultur. Daher ruft Goethe der bloß physischen und verständigen
Betrachtung, die sich auf die „äußere Schale“ der Natur beschränkt, anzüglich zu:

„Dich prüse du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.“

Und für die Kleinmütigen, die vor ihrer Nase den Kern der Natur ver-
schlossen wähnen, bemerkt er noch:

„Jst nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?“

Das kernhafte, tief innerliche Erlebnis, die Art, wie unser Herz mit
seinem Jdealismus das sinnliche Wahrnehmen und verständige Erfassen der
Dinge begleitet und zur Einheit ergänzt, ist das eigentümlich Religiöse an aller
Weltanschauung. Und weil es sich hier um eine kernhafte Tätigkeit handelt —

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[352/0016] Dr. Bruno Wille: Renaissance innerlicher Kultur. wir vor Zerrissenheit und Gebrochenheit nicht zu vollem Heile und voller Kraft gelangen. Diese trübe Seelenverfassung grassiert heutzutage, weil unsere Kultur sich noch keine Weltanschauung angeeignet hat, in der Kopf und Herz, Wissen- schaft und Gemüt, harmonisch wie in einer guten Ehe vermählt sind. Mit der Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit unserer Kultur hängt eine falsche Schätzung fachmännischer Spezialisierung zusammen, die vermeintlich das Goethewort be- herzigt „Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“, in Wahrheit aber nicht Beschränkung, sondern Beschränktheit groß zieht. Das ist eine Fach- simpelei, die unsere Lebensgebiete nicht als innerlich verbundene Zusammen- gehörigkeiten, sondern als Schubfächer mit starren Grenzen betrachtet. Unsere widerspruchsvolle Kultur läßt den Theologen vor Schülern und Studenten feierlich behaupten, Wasser könne durch priesterliche Weihe in Blut verwandelt werden, einem Kandidaten der Chemie aber, der diese Behauptung in seiner Fach=Prüfung beherzigen wollte, würde sie das Diplom verweigern. Jhrer Logik rühmt sich unsere Kultur. Doch sie beherzigt sehr wenig jene tiefere Logik, die ich den Logos der Persönlichkeit nennen möchte. Das griechische Wort „Logos“, das zu Beginn des Johannes=Evangeliums eine Rolle spielt ( „Jm Anfang war der Logos“ ) , bedeutet weit mehr als „Wort“ ( wie Luther übersetzt ) . Logos ist die Logik der Weltentwicklung, der schöpferische Sinn. Wenn das Weltall nicht sinnlos ist, wenn es vielmehr einen kosmischen Sinn gibt, so muß er sich auch in dem bedeutsamen Gliede des Weltalls be- tätigen, das wir als unsere Persönlichkeit erleben. Eine unsinnige Verfassung, der Fluch der Konfusion, wäre unserer Persönlichkeit zugefügt, wenn sie not- wendig mit sich selbst zerfallen bliebe, wenn Kopf und Herz, Realismus und Jdealismus unverträglich neben einander hergehen müßten. Jndem ich der Persönlichkeit empfehle, wenigstens hypothetisch einen Weltsinn gelten zu lassen und den Logos als ihren Lebensgrund zu betrachten, möchte ich sie zur Wider- spruchslosigkeit, zur Übereinstimmung mit sich selbst anleiten, zur Harmonie von Verstand und Gemüt. Was Goethe an dem materialistisch = mechanistischen Système de la nature aussetzt, die einseitig sinnliche und verständige Betrachtungsweise, die den anderen Kräften unserer Persönlichkeit einen Dämpfer aufsetzt, ist ein charakteristischer Zug der äußerlichen Kultur. Sinnlichkeit und Verständigkeit bilden jene Ober- fläche des Erlebens, bei der es die äußerliche Kultur gern bewenden läßt. Wer hingegen, wie Goethe, den Standpunkt des Künstlers, des fühlenden und wollenden Gemüts zur Geltung bringt, reagiert mit seiner Tiefe und sucht innerliche Kultur. Daher ruft Goethe der bloß physischen und verständigen Betrachtung, die sich auf die „äußere Schale“ der Natur beschränkt, anzüglich zu: „Dich prüse du nur allermeist, Ob du Kern oder Schale seist.“ Und für die Kleinmütigen, die vor ihrer Nase den Kern der Natur ver- schlossen wähnen, bemerkt er noch: „Jst nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?“ Das kernhafte, tief innerliche Erlebnis, die Art, wie unser Herz mit seinem Jdealismus das sinnliche Wahrnehmen und verständige Erfassen der Dinge begleitet und zur Einheit ergänzt, ist das eigentümlich Religiöse an aller Weltanschauung. Und weil es sich hier um eine kernhafte Tätigkeit handelt —

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/16>, abgerufen am 23.11.2024.