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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Dr. Bruno Wille: Renaissance innerlicher Kultur.
Treibhauses verbraucht zu werden, so daß die Menschenwürde im Verbrauchten
nichts mehr gilt. Der Mittelstand fühlt sich nun freilich verhältnismäßig
wohl; er ist genußfähig, gebildet und hoffnungsvoll. Doch ihn stachelt die
Furcht vor der Armut und die Begierde nach Reichtum, so daß er selten
innere Harmonie findet. So pendelt er zwischen den beiden Extremen unserer
Gesellschaft; sinkt er in der sozialen Stufenordnung, so verliert sein Leben in
seinen Augen an Wert; steigt er, so wird er doch gewöhnlich nicht befriedigt,
da er doch noch immer höhere Stufen über sich sieht und schließlich dem
Zustande der Blasiertheit und Unfreiheit verfällt. Scylla hier, Charybdis
dort. Die Mittelstraße des wohlhabenden Privatmannes aber ist gepflastert
mit Langweiligkeit und Philistertum, zuweilen auch noch mit dem beschämenden
Bewußtsein, unproduktio zu vegetieren.

Doch gleichviel welchen sozialen Posten wir einnehmen, ein jeder von uns,
der nicht gedankenlos in den Tag hinein lebt, findet einmal eine Stunde innerer
Einkehr, vielleicht in schlafloser Nacht oder in gefährlicher Krankheit, oder am
Sarge eines lieben Menschen, und dann gesteht er sich wohl: "Da müht man
sich in rastloser Arbeit, da sorgt man, hofft man, begehrt man, da hascht man
nach Genuß und wird so oft schmerzlich enttäuscht; da schwärmt man von
Wahrheit, Schönheit, Freiheit, Recht und weiß doch nicht, ob solche Jdeale
mehr als närrische Jllusionen sind; da hört man allerlei Lehren über den Wert
des Lebens und über das Verhältnis des Einzelnen zum Weltall, doch man
weiß nicht, auf welche von diesen Lehren man sich verlassen darf; da grübelt
man nun selber und schwankt in tausend Zweifeln und Unbegreiflichkeiten; und
während man sich so quält, einen Sinn in dies verworrene Dasein zu bringen,
verrinnt die Zeit, man wird älter, Gefahren lauern ringsum und brechen
tückisch hervor, das Herz verliert seine kindliche Frische und Unschuld, zuweilen
bleibt ihm nur die Wahl zwischen Verzichten und Verzweifeln; endlich bläst
der Tod unser Lichtlein aus und im Grabe werden wir Staub, während droben
die laute Welt in ihrem Lebenstaumel uns vergißt. Welchen Sinn hat das
alles? Urgrund, der du mich geschaffen, der du mich ausgestattet hast mit
Vernunft und heiliger Sehnsucht, hilf mir das bange Rätsel lösen, verbreite
Licht über die Zusammenhänge des Weltalls, daß ich es anschaue und daß ich
sehe, wie ich dem Ganzen eingeordnet bin!" Mit solcher Grübelei verbindet
sich wohl eine Sehnsucht, wie sie Goethe in seinem Nachtliede des ruhelosen
Wanderers ausspricht:

"Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm', ach komm' in meine Brust!"

Vielleicht suchen wir den süßen Frieden in jener Religion, die sich für
die Pförtnerin des Himmels ausgibt. Doch wir finden ihn bei ihr schwerlich,
falls wir uns nicht dazu entschließen, unseren Verstand, bedeutende Errungen-
schaften der Forschung und unsere moralische Selbstbestimmung unter die Auto-
rität der Glaubenssätze zu beugen. Können wir das nicht, und halten wir die

Dr. Bruno Wille: Renaissance innerlicher Kultur.
Treibhauses verbraucht zu werden, so daß die Menschenwürde im Verbrauchten
nichts mehr gilt. Der Mittelstand fühlt sich nun freilich verhältnismäßig
wohl; er ist genußfähig, gebildet und hoffnungsvoll. Doch ihn stachelt die
Furcht vor der Armut und die Begierde nach Reichtum, so daß er selten
innere Harmonie findet. So pendelt er zwischen den beiden Extremen unserer
Gesellschaft; sinkt er in der sozialen Stufenordnung, so verliert sein Leben in
seinen Augen an Wert; steigt er, so wird er doch gewöhnlich nicht befriedigt,
da er doch noch immer höhere Stufen über sich sieht und schließlich dem
Zustande der Blasiertheit und Unfreiheit verfällt. Scylla hier, Charybdis
dort. Die Mittelstraße des wohlhabenden Privatmannes aber ist gepflastert
mit Langweiligkeit und Philistertum, zuweilen auch noch mit dem beschämenden
Bewußtsein, unproduktio zu vegetieren.

Doch gleichviel welchen sozialen Posten wir einnehmen, ein jeder von uns,
der nicht gedankenlos in den Tag hinein lebt, findet einmal eine Stunde innerer
Einkehr, vielleicht in schlafloser Nacht oder in gefährlicher Krankheit, oder am
Sarge eines lieben Menschen, und dann gesteht er sich wohl: „Da müht man
sich in rastloser Arbeit, da sorgt man, hofft man, begehrt man, da hascht man
nach Genuß und wird so oft schmerzlich enttäuscht; da schwärmt man von
Wahrheit, Schönheit, Freiheit, Recht und weiß doch nicht, ob solche Jdeale
mehr als närrische Jllusionen sind; da hört man allerlei Lehren über den Wert
des Lebens und über das Verhältnis des Einzelnen zum Weltall, doch man
weiß nicht, auf welche von diesen Lehren man sich verlassen darf; da grübelt
man nun selber und schwankt in tausend Zweifeln und Unbegreiflichkeiten; und
während man sich so quält, einen Sinn in dies verworrene Dasein zu bringen,
verrinnt die Zeit, man wird älter, Gefahren lauern ringsum und brechen
tückisch hervor, das Herz verliert seine kindliche Frische und Unschuld, zuweilen
bleibt ihm nur die Wahl zwischen Verzichten und Verzweifeln; endlich bläst
der Tod unser Lichtlein aus und im Grabe werden wir Staub, während droben
die laute Welt in ihrem Lebenstaumel uns vergißt. Welchen Sinn hat das
alles? Urgrund, der du mich geschaffen, der du mich ausgestattet hast mit
Vernunft und heiliger Sehnsucht, hilf mir das bange Rätsel lösen, verbreite
Licht über die Zusammenhänge des Weltalls, daß ich es anschaue und daß ich
sehe, wie ich dem Ganzen eingeordnet bin!“ Mit solcher Grübelei verbindet
sich wohl eine Sehnsucht, wie sie Goethe in seinem Nachtliede des ruhelosen
Wanderers ausspricht:

„Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm', ach komm' in meine Brust!“

Vielleicht suchen wir den süßen Frieden in jener Religion, die sich für
die Pförtnerin des Himmels ausgibt. Doch wir finden ihn bei ihr schwerlich,
falls wir uns nicht dazu entschließen, unseren Verstand, bedeutende Errungen-
schaften der Forschung und unsere moralische Selbstbestimmung unter die Auto-
rität der Glaubenssätze zu beugen. Können wir das nicht, und halten wir die

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[349/0013] Dr. Bruno Wille: Renaissance innerlicher Kultur. Treibhauses verbraucht zu werden, so daß die Menschenwürde im Verbrauchten nichts mehr gilt. Der Mittelstand fühlt sich nun freilich verhältnismäßig wohl; er ist genußfähig, gebildet und hoffnungsvoll. Doch ihn stachelt die Furcht vor der Armut und die Begierde nach Reichtum, so daß er selten innere Harmonie findet. So pendelt er zwischen den beiden Extremen unserer Gesellschaft; sinkt er in der sozialen Stufenordnung, so verliert sein Leben in seinen Augen an Wert; steigt er, so wird er doch gewöhnlich nicht befriedigt, da er doch noch immer höhere Stufen über sich sieht und schließlich dem Zustande der Blasiertheit und Unfreiheit verfällt. Scylla hier, Charybdis dort. Die Mittelstraße des wohlhabenden Privatmannes aber ist gepflastert mit Langweiligkeit und Philistertum, zuweilen auch noch mit dem beschämenden Bewußtsein, unproduktio zu vegetieren. Doch gleichviel welchen sozialen Posten wir einnehmen, ein jeder von uns, der nicht gedankenlos in den Tag hinein lebt, findet einmal eine Stunde innerer Einkehr, vielleicht in schlafloser Nacht oder in gefährlicher Krankheit, oder am Sarge eines lieben Menschen, und dann gesteht er sich wohl: „Da müht man sich in rastloser Arbeit, da sorgt man, hofft man, begehrt man, da hascht man nach Genuß und wird so oft schmerzlich enttäuscht; da schwärmt man von Wahrheit, Schönheit, Freiheit, Recht und weiß doch nicht, ob solche Jdeale mehr als närrische Jllusionen sind; da hört man allerlei Lehren über den Wert des Lebens und über das Verhältnis des Einzelnen zum Weltall, doch man weiß nicht, auf welche von diesen Lehren man sich verlassen darf; da grübelt man nun selber und schwankt in tausend Zweifeln und Unbegreiflichkeiten; und während man sich so quält, einen Sinn in dies verworrene Dasein zu bringen, verrinnt die Zeit, man wird älter, Gefahren lauern ringsum und brechen tückisch hervor, das Herz verliert seine kindliche Frische und Unschuld, zuweilen bleibt ihm nur die Wahl zwischen Verzichten und Verzweifeln; endlich bläst der Tod unser Lichtlein aus und im Grabe werden wir Staub, während droben die laute Welt in ihrem Lebenstaumel uns vergißt. Welchen Sinn hat das alles? Urgrund, der du mich geschaffen, der du mich ausgestattet hast mit Vernunft und heiliger Sehnsucht, hilf mir das bange Rätsel lösen, verbreite Licht über die Zusammenhänge des Weltalls, daß ich es anschaue und daß ich sehe, wie ich dem Ganzen eingeordnet bin!“ Mit solcher Grübelei verbindet sich wohl eine Sehnsucht, wie sie Goethe in seinem Nachtliede des ruhelosen Wanderers ausspricht: „Der du von dem Himmel bist, Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest, Ach, ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede, Komm', ach komm' in meine Brust!“ Vielleicht suchen wir den süßen Frieden in jener Religion, die sich für die Pförtnerin des Himmels ausgibt. Doch wir finden ihn bei ihr schwerlich, falls wir uns nicht dazu entschließen, unseren Verstand, bedeutende Errungen- schaften der Forschung und unsere moralische Selbstbestimmung unter die Auto- rität der Glaubenssätze zu beugen. Können wir das nicht, und halten wir die

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/13>, abgerufen am 27.11.2024.