Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.[Abbildung]
Renaissance innerlicher Kultur. Von Dr. Bruno Wille, Friedrichshagen. Auf einer Wanderung durch die Neckarlandschaft fand ich in einem Welch ein Gegensatz zwischen einem Großstädter und etwa einem indischen "Jm Waldesschatten voller Duft, Jn kühler Höhle felsenhart, Da will ich baden quellenkalt, Da will ich wandeln ganz allein. Einsam zufrieden, ohne Freund, Vom großem Walde nur begrüßt, Sehn' ich mich nach der Seelenruh, Wo alles Wähnen ist versiegt." [Abbildung]
Renaissance innerlicher Kultur. Von Dr. Bruno Wille, Friedrichshagen. Auf einer Wanderung durch die Neckarlandschaft fand ich in einem Welch ein Gegensatz zwischen einem Großstädter und etwa einem indischen „Jm Waldesschatten voller Duft, Jn kühler Höhle felsenhart, Da will ich baden quellenkalt, Da will ich wandeln ganz allein. Einsam zufrieden, ohne Freund, Vom großem Walde nur begrüßt, Sehn' ich mich nach der Seelenruh, Wo alles Wähnen ist versiegt.“ <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0011" n="347"/> <figure/><lb/> <div type="jArticle" n="1"> <head> <hi rendition="#fr">Renaissance innerlicher Kultur.</hi><lb/> <bibl>Von <author><hi rendition="#aq">Dr</hi>. <hi rendition="#g">Bruno Wille</hi></author>, Friedrichshagen.</bibl> </head><lb/> <p>Auf einer Wanderung durch die Neckarlandschaft fand ich in einem<lb/> Waldgrunde eine Grube nebst Mauer= und Balkenresten und vernahm, hier<lb/> habe vor Zeiten ein Eremit gehaust. Dieser Mensch — so bedachte ich, hatte<lb/> sich damals von einer Lebensweise, die man gewöhnlich „Kultur“ nennt, völlig<lb/> losgesagt und zu einer Verachtung aller Äußerlichkeit bekehrt, so daß er nicht<lb/> mehr nach Geld und Gut, Geselligkeit und Ehre, nach behaglicher Wohnung,<lb/> feiner Kleidung und sinnlichem Vergnügen trachtete, sondern wesentlich nach<lb/> dem Heile seines innerlichen Lebens, wie er es verstand. Seltsam! Ganz<lb/> spärlich sind heutzutage solche nach innen gekehrten Naturen, und verständnislos<lb/> steht ihnen der moderne Massenmensch gegenüber.</p><lb/> <p>Welch ein Gegensatz zwischen einem Großstädter und etwa einem indischen<lb/> Einsiedler! Der Großstädter hat sein Leben abhängig gemacht von einer ver-<lb/> wickelten Menge äußerer Dinge und Einrichtungen, von vermeintlichen Bequem-<lb/> lichkeiten, von Mode und Luxus. Je zivilisierter er sich dünkt, desto unfähiger<lb/> ist er gewöhnlich, ohne Sprungfederbett seine Nachtruhe zu finden, desto dring-<lb/> licher bedarf er des Odols und der Pomade, desto unwürdiger und haltloser<lb/> kommt er sich vor, falls ein boshafter Zufall es fügt, daß er ohne gewisse<lb/> repräsentative Toilettestücke die „gute Gesellschaft“ aufsucht, z. B. seine Hand-<lb/> schuhe vergessen hat, oder ohne Hemdenkragen auf die Straße gerät. Bei<lb/> einem Generalstreik der Arbeiter in Genua erlebte ich, daß der moderne Reisende<lb/> hilflos wie ein kleines Kind dasteht, sobald die Eisenbahn und Straßenbahn,<lb/> die öffentliche Beleuchtung und das gewohnte Dienstpersonal plötzlich versagt.<lb/> Schier unzertrennlich ist der zivilisierte Europäer eben verwachsen mit seinem<lb/> Kulturrüstzeug, mit Bahnen und Drähten, Behörden und Banken, Hotels und<lb/> Restaurants, Droschken und Bediensteten. Für den buddhistischen Mönch in-<lb/> dessen ist solche Weltlichkeit nichts als der Kultus eines Wahns, der den<lb/> Menschen von wahrer Freiheit ablenkt. Jn einer Sammlung buddhistischer<lb/> Lieder heißt es:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Jm Waldesschatten voller Duft,</l><lb/> <l>Jn kühler Höhle felsenhart,</l><lb/> <l>Da will ich baden quellenkalt,</l><lb/> <l>Da will ich wandeln ganz allein.</l><lb/> <l>Einsam zufrieden, ohne Freund,</l><lb/> <l>Vom großem Walde nur begrüßt,</l><lb/> <l>Sehn' ich mich nach der Seelenruh,</l><lb/> <l>Wo alles Wähnen ist versiegt.“</l> </lg><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [347/0011]
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Renaissance innerlicher Kultur.
Von Dr. Bruno Wille, Friedrichshagen.
Auf einer Wanderung durch die Neckarlandschaft fand ich in einem
Waldgrunde eine Grube nebst Mauer= und Balkenresten und vernahm, hier
habe vor Zeiten ein Eremit gehaust. Dieser Mensch — so bedachte ich, hatte
sich damals von einer Lebensweise, die man gewöhnlich „Kultur“ nennt, völlig
losgesagt und zu einer Verachtung aller Äußerlichkeit bekehrt, so daß er nicht
mehr nach Geld und Gut, Geselligkeit und Ehre, nach behaglicher Wohnung,
feiner Kleidung und sinnlichem Vergnügen trachtete, sondern wesentlich nach
dem Heile seines innerlichen Lebens, wie er es verstand. Seltsam! Ganz
spärlich sind heutzutage solche nach innen gekehrten Naturen, und verständnislos
steht ihnen der moderne Massenmensch gegenüber.
Welch ein Gegensatz zwischen einem Großstädter und etwa einem indischen
Einsiedler! Der Großstädter hat sein Leben abhängig gemacht von einer ver-
wickelten Menge äußerer Dinge und Einrichtungen, von vermeintlichen Bequem-
lichkeiten, von Mode und Luxus. Je zivilisierter er sich dünkt, desto unfähiger
ist er gewöhnlich, ohne Sprungfederbett seine Nachtruhe zu finden, desto dring-
licher bedarf er des Odols und der Pomade, desto unwürdiger und haltloser
kommt er sich vor, falls ein boshafter Zufall es fügt, daß er ohne gewisse
repräsentative Toilettestücke die „gute Gesellschaft“ aufsucht, z. B. seine Hand-
schuhe vergessen hat, oder ohne Hemdenkragen auf die Straße gerät. Bei
einem Generalstreik der Arbeiter in Genua erlebte ich, daß der moderne Reisende
hilflos wie ein kleines Kind dasteht, sobald die Eisenbahn und Straßenbahn,
die öffentliche Beleuchtung und das gewohnte Dienstpersonal plötzlich versagt.
Schier unzertrennlich ist der zivilisierte Europäer eben verwachsen mit seinem
Kulturrüstzeug, mit Bahnen und Drähten, Behörden und Banken, Hotels und
Restaurants, Droschken und Bediensteten. Für den buddhistischen Mönch in-
dessen ist solche Weltlichkeit nichts als der Kultus eines Wahns, der den
Menschen von wahrer Freiheit ablenkt. Jn einer Sammlung buddhistischer
Lieder heißt es:
„Jm Waldesschatten voller Duft,
Jn kühler Höhle felsenhart,
Da will ich baden quellenkalt,
Da will ich wandeln ganz allein.
Einsam zufrieden, ohne Freund,
Vom großem Walde nur begrüßt,
Sehn' ich mich nach der Seelenruh,
Wo alles Wähnen ist versiegt.“
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