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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Eduard Bernstein: Das Moskauer Attentat.
leben der Nation einschneiden, um so sicherer der Ausbruch der Revolution.
Nikolaus hat da kaum noch die Wahl. Es mag sogar überhaupt schon zu
spät sein, schon jetzt heißen: ob Krieg, ob Frieden, die Revolution auf jeden
Fall.

Jst es aber noch nicht zu spät, ist noch eine Entwicklung schrittweise zu
vollziehender Reform möglich, dann kann man sagen, daß das Moskauer Atten-
tat nicht nur dem russischen Volke, sondern Nikolaus II. selbst sehr gelegen,
auch ihm als eine "Befreiung" gekommen ist. Der getötete Großfürst war
dem Zaren fast noch gefährlicher als dem Volk. Er hat sein Redliches dazu
beigetragen, den Zaren verhaßt zu machen. Daß man ihn tötete, statt den
Zaren, wird zunächst wahrscheinlich die Wirkung haben, den Haß von diesem
wieder etwas abzulenken. An einen Plan, den Zaren und seine ganze männ-
liche Familie auszurotten, wie es eine Weile hieß, denkt schwerlich jemand im
Ernst. Die russischen Revolutionäre haben in ihrer Attentatstaktik stets sich
auf das Mindestmaß von Opfern beschränkt, und fast immer mit scharfem Blick
den Mann herausgeholt, der der gefährlichste Gegner freiheitlicher Entwick-
lung, der brutalste Unterdrücker war.

Auch aus diesem Grunde kann man über ihre Attentate nicht ethisch ab-
urteilen. Rußland kennt keine freie Presse, kein Versammlungsrecht, keine
politische Vertretung -- keine Möglichkeit gesetzlicher Demonstration, und
die ungesetzliche wird niedergeschlagen. Jn solcher Lage ist die Zuflucht zum
Attentat unvermeidlich, hat noch überall das Wort des Dichters gegolten:

"Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht.
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben."

Auch die Achtung vor dem Menschenleben -- das höchste Gut der Zivi-
lisation -- ist bedingt durch den allgemeinen Kulturzustand. Wird dieser von
oben künstlich niedergehalten, so ist es bloß die naturnotwendige Folge, wenn
der Unterdrückte schneller als anderswo zum Schwert -- heute zum Dyna-
mit -- greift. Wie niedrig von oben in Rußland das Menschenleben gewertet
wird, zeigt unter anderem die Massenabschlachterei in Ostasien. Auch die
Leichtigkeit, mit der die russischen Revolutionäre ihr eigenes Leben in die
Schanze schlagen, ist ein Gradmesser dafür, wie niedrig in ihrem Lande noch
der Mensch in Kurs steht. Die brutaleren Naturen schätzen das Leben der
anderen, die edleren das eigene Leben gering ein, weil die Freiheit noch
fehlt, die dem Leben erst seinen vollen Wert verleiht. Für sie kämpft heute
die Revolution, im Kampf für sie ward am 17. Februar in Moskau die Bombe
geworfen. Sie tötete einen gefürsteten Verbrecher, den Anstifter eines Krie-
ges, dem vielleicht schon hunderttausende von Menschen in der einen oder
anderen Weise zum Opfer gefallen sind. Sie tat aber mehr: sie beseitigte den
mächtigsten, geschworenen Feind der politischen Emanzipation des russischen
Volkes, der überall bereit war, zu metzeln oder metzeln zu lassen, wo nur das
Volk sich erhob. Segen ihr und dem, der sie geworfen!



Eduard Bernstein: Das Moskauer Attentat.
leben der Nation einschneiden, um so sicherer der Ausbruch der Revolution.
Nikolaus hat da kaum noch die Wahl. Es mag sogar überhaupt schon zu
spät sein, schon jetzt heißen: ob Krieg, ob Frieden, die Revolution auf jeden
Fall.

Jst es aber noch nicht zu spät, ist noch eine Entwicklung schrittweise zu
vollziehender Reform möglich, dann kann man sagen, daß das Moskauer Atten-
tat nicht nur dem russischen Volke, sondern Nikolaus II. selbst sehr gelegen,
auch ihm als eine „Befreiung“ gekommen ist. Der getötete Großfürst war
dem Zaren fast noch gefährlicher als dem Volk. Er hat sein Redliches dazu
beigetragen, den Zaren verhaßt zu machen. Daß man ihn tötete, statt den
Zaren, wird zunächst wahrscheinlich die Wirkung haben, den Haß von diesem
wieder etwas abzulenken. An einen Plan, den Zaren und seine ganze männ-
liche Familie auszurotten, wie es eine Weile hieß, denkt schwerlich jemand im
Ernst. Die russischen Revolutionäre haben in ihrer Attentatstaktik stets sich
auf das Mindestmaß von Opfern beschränkt, und fast immer mit scharfem Blick
den Mann herausgeholt, der der gefährlichste Gegner freiheitlicher Entwick-
lung, der brutalste Unterdrücker war.

Auch aus diesem Grunde kann man über ihre Attentate nicht ethisch ab-
urteilen. Rußland kennt keine freie Presse, kein Versammlungsrecht, keine
politische Vertretung — keine Möglichkeit gesetzlicher Demonstration, und
die ungesetzliche wird niedergeschlagen. Jn solcher Lage ist die Zuflucht zum
Attentat unvermeidlich, hat noch überall das Wort des Dichters gegolten:

„Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht.
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“

Auch die Achtung vor dem Menschenleben — das höchste Gut der Zivi-
lisation — ist bedingt durch den allgemeinen Kulturzustand. Wird dieser von
oben künstlich niedergehalten, so ist es bloß die naturnotwendige Folge, wenn
der Unterdrückte schneller als anderswo zum Schwert — heute zum Dyna-
mit — greift. Wie niedrig von oben in Rußland das Menschenleben gewertet
wird, zeigt unter anderem die Massenabschlachterei in Ostasien. Auch die
Leichtigkeit, mit der die russischen Revolutionäre ihr eigenes Leben in die
Schanze schlagen, ist ein Gradmesser dafür, wie niedrig in ihrem Lande noch
der Mensch in Kurs steht. Die brutaleren Naturen schätzen das Leben der
anderen, die edleren das eigene Leben gering ein, weil die Freiheit noch
fehlt, die dem Leben erst seinen vollen Wert verleiht. Für sie kämpft heute
die Revolution, im Kampf für sie ward am 17. Februar in Moskau die Bombe
geworfen. Sie tötete einen gefürsteten Verbrecher, den Anstifter eines Krie-
ges, dem vielleicht schon hunderttausende von Menschen in der einen oder
anderen Weise zum Opfer gefallen sind. Sie tat aber mehr: sie beseitigte den
mächtigsten, geschworenen Feind der politischen Emanzipation des russischen
Volkes, der überall bereit war, zu metzeln oder metzeln zu lassen, wo nur das
Volk sich erhob. Segen ihr und dem, der sie geworfen!



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[245/0005] Eduard Bernstein: Das Moskauer Attentat. leben der Nation einschneiden, um so sicherer der Ausbruch der Revolution. Nikolaus hat da kaum noch die Wahl. Es mag sogar überhaupt schon zu spät sein, schon jetzt heißen: ob Krieg, ob Frieden, die Revolution auf jeden Fall. Jst es aber noch nicht zu spät, ist noch eine Entwicklung schrittweise zu vollziehender Reform möglich, dann kann man sagen, daß das Moskauer Atten- tat nicht nur dem russischen Volke, sondern Nikolaus II. selbst sehr gelegen, auch ihm als eine „Befreiung“ gekommen ist. Der getötete Großfürst war dem Zaren fast noch gefährlicher als dem Volk. Er hat sein Redliches dazu beigetragen, den Zaren verhaßt zu machen. Daß man ihn tötete, statt den Zaren, wird zunächst wahrscheinlich die Wirkung haben, den Haß von diesem wieder etwas abzulenken. An einen Plan, den Zaren und seine ganze männ- liche Familie auszurotten, wie es eine Weile hieß, denkt schwerlich jemand im Ernst. Die russischen Revolutionäre haben in ihrer Attentatstaktik stets sich auf das Mindestmaß von Opfern beschränkt, und fast immer mit scharfem Blick den Mann herausgeholt, der der gefährlichste Gegner freiheitlicher Entwick- lung, der brutalste Unterdrücker war. Auch aus diesem Grunde kann man über ihre Attentate nicht ethisch ab- urteilen. Rußland kennt keine freie Presse, kein Versammlungsrecht, keine politische Vertretung — keine Möglichkeit gesetzlicher Demonstration, und die ungesetzliche wird niedergeschlagen. Jn solcher Lage ist die Zuflucht zum Attentat unvermeidlich, hat noch überall das Wort des Dichters gegolten: „Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht. Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“ Auch die Achtung vor dem Menschenleben — das höchste Gut der Zivi- lisation — ist bedingt durch den allgemeinen Kulturzustand. Wird dieser von oben künstlich niedergehalten, so ist es bloß die naturnotwendige Folge, wenn der Unterdrückte schneller als anderswo zum Schwert — heute zum Dyna- mit — greift. Wie niedrig von oben in Rußland das Menschenleben gewertet wird, zeigt unter anderem die Massenabschlachterei in Ostasien. Auch die Leichtigkeit, mit der die russischen Revolutionäre ihr eigenes Leben in die Schanze schlagen, ist ein Gradmesser dafür, wie niedrig in ihrem Lande noch der Mensch in Kurs steht. Die brutaleren Naturen schätzen das Leben der anderen, die edleren das eigene Leben gering ein, weil die Freiheit noch fehlt, die dem Leben erst seinen vollen Wert verleiht. Für sie kämpft heute die Revolution, im Kampf für sie ward am 17. Februar in Moskau die Bombe geworfen. Sie tötete einen gefürsteten Verbrecher, den Anstifter eines Krie- ges, dem vielleicht schon hunderttausende von Menschen in der einen oder anderen Weise zum Opfer gefallen sind. Sie tat aber mehr: sie beseitigte den mächtigsten, geschworenen Feind der politischen Emanzipation des russischen Volkes, der überall bereit war, zu metzeln oder metzeln zu lassen, wo nur das Volk sich erhob. Segen ihr und dem, der sie geworfen!

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/5>, abgerufen am 24.11.2024.