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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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August Strindberg: Der Quarantänemeister.

Aber Christel ging nie! Doch, einmal war sie bis nach der Dampfer-
brücke hinunter gekommen, aber kehrte um und ging in den Wald, wo der
Doktor sie holen mußte.

Der einzige Umgang des Doktors war der Postmeister auf Heiterbucht,
ein alter Studiengenosse, der jeden einzigen Samstagabend herüberkam, wo die
beiden Gesellen bis über Mitternacht zechten und schwatzten; und immer blieb
der Postmeister noch bis zum Sonntagmorgen.

Sie sahen allerdings das Leben und die Menschen nicht vom selben Ge-
sichtspunkt an, denn der Postmeister war ein entschiedener Mann der Linken,
und der Quarantänemeister war ein Zweifler, aber sie konnten so gut mit ein-
ander plaudern, daß die Unterhaltung wie ein Wechselgesang wurde oder eine
zweistimmige Musik, wo die Stimmen allerdings auf einander los gingen, aber
doch einen Einklang bildeten. Der weitere Blick des Quarantänemeisters fand
zuweilen seinen Ausdruck in einer Mißbilligung, etwa so: -- Jhr Parteimänner
seid wie einäugige Katzen. Welche sehen nur mit dem linken Auge, andere nur
mit dem rechten, und darum könnt ihr niemals stereoskopisch sehen, sondern Jhr
seht immer platt und einseitig!

Sie waren beide große Zeitungsleser und sie verfolgten alle Fragen mit
Eifer. Die brennendste war jedoch die religiöse, denn die politischen wurden ja
einmal durch Abstimmung im Reichstag entschieden und nahmen ein Ende, aber
die religiöse hatte kein Ende. Der Postmeister haßte Pietisten und Tem-
perenzler.

"Warum zum Teufel haßt du die Pietisten?" sagte der Quarantänemeister
gewöhnlich. "Was haben sie dir Böses getan? Laß sie ihr Job haben, mich
geht es nichts an!"

"Sie sind alle Heuchler", fertigte der Postmeister die Frage ab.

"Nein", antwortete der Doktor. "Du kannst darüber nicht urteilen, weil
du nicht Pietist gewesen bist; aber ich bin es gewesen, und ich war, hol' mich
der Teufel, kein Heuchler. Aber ich tue es nicht wieder! Das heißt -- das
weiß man niemals, denn das kommt über einen, oder kommt nicht, das hängt
davon ab..."

"Wovon?"

"Schwer zu sagen! Der Pietismus ist übrigens eine Art europäischer
Buddhismus. Beide betrachten die Welt als eine unreine Materie, in welcher
die Seele gepeinigt wird. Darum suchen sie der Materie entgegenzuwirken, und
da haben sie nicht so unrecht. Daß es ihnen nicht glückt, ist ja klar, aber der
Kampf selbst ist achtungswert. Daß sie als Heuchler erscheinen, liegt darin, daß
sie niemals zu ihren Zielen oder Lehren hinaufreichen, so daß das Leben immer
hinter der Lehre zurückbleibt. Und daß die Priester der Kirche sie hassen, ist
klar, denn unsere verheirateten Meier, Kartenspieler und Dinierer werden natürlich
diese Apostel nicht lieben, die ihre Überflüssigkeit und ihre Mängel beweisen.
Du kennst ja unsere Geistlichen hier draußen auf den Jnseln. Jch brauche
nicht über sie zu klatschen, da du sie kennst! Da hast du die Heuchler, besonders
unter den Unglücklichen, die nach dem Examen den Glauben an alle Lehren
verloren haben."

"Ja, aber die Pietisten sind kulturfeindlich!"

"Nein, das kann ich nicht finden. Als ich nach dieser Jnsel kam, wurde
sie von dreihundert versoffenen Wilden bewohnt, die ein Leben führten -- ein

August Strindberg: Der Quarantänemeister.

Aber Christel ging nie! Doch, einmal war sie bis nach der Dampfer-
brücke hinunter gekommen, aber kehrte um und ging in den Wald, wo der
Doktor sie holen mußte.

Der einzige Umgang des Doktors war der Postmeister auf Heiterbucht,
ein alter Studiengenosse, der jeden einzigen Samstagabend herüberkam, wo die
beiden Gesellen bis über Mitternacht zechten und schwatzten; und immer blieb
der Postmeister noch bis zum Sonntagmorgen.

Sie sahen allerdings das Leben und die Menschen nicht vom selben Ge-
sichtspunkt an, denn der Postmeister war ein entschiedener Mann der Linken,
und der Quarantänemeister war ein Zweifler, aber sie konnten so gut mit ein-
ander plaudern, daß die Unterhaltung wie ein Wechselgesang wurde oder eine
zweistimmige Musik, wo die Stimmen allerdings auf einander los gingen, aber
doch einen Einklang bildeten. Der weitere Blick des Quarantänemeisters fand
zuweilen seinen Ausdruck in einer Mißbilligung, etwa so: — Jhr Parteimänner
seid wie einäugige Katzen. Welche sehen nur mit dem linken Auge, andere nur
mit dem rechten, und darum könnt ihr niemals stereoskopisch sehen, sondern Jhr
seht immer platt und einseitig!

Sie waren beide große Zeitungsleser und sie verfolgten alle Fragen mit
Eifer. Die brennendste war jedoch die religiöse, denn die politischen wurden ja
einmal durch Abstimmung im Reichstag entschieden und nahmen ein Ende, aber
die religiöse hatte kein Ende. Der Postmeister haßte Pietisten und Tem-
perenzler.

„Warum zum Teufel haßt du die Pietisten?“ sagte der Quarantänemeister
gewöhnlich. „Was haben sie dir Böses getan? Laß sie ihr Job haben, mich
geht es nichts an!“

„Sie sind alle Heuchler“, fertigte der Postmeister die Frage ab.

„Nein“, antwortete der Doktor. „Du kannst darüber nicht urteilen, weil
du nicht Pietist gewesen bist; aber ich bin es gewesen, und ich war, hol' mich
der Teufel, kein Heuchler. Aber ich tue es nicht wieder! Das heißt — das
weiß man niemals, denn das kommt über einen, oder kommt nicht, das hängt
davon ab...“

„Wovon?“

„Schwer zu sagen! Der Pietismus ist übrigens eine Art europäischer
Buddhismus. Beide betrachten die Welt als eine unreine Materie, in welcher
die Seele gepeinigt wird. Darum suchen sie der Materie entgegenzuwirken, und
da haben sie nicht so unrecht. Daß es ihnen nicht glückt, ist ja klar, aber der
Kampf selbst ist achtungswert. Daß sie als Heuchler erscheinen, liegt darin, daß
sie niemals zu ihren Zielen oder Lehren hinaufreichen, so daß das Leben immer
hinter der Lehre zurückbleibt. Und daß die Priester der Kirche sie hassen, ist
klar, denn unsere verheirateten Meier, Kartenspieler und Dinierer werden natürlich
diese Apostel nicht lieben, die ihre Überflüssigkeit und ihre Mängel beweisen.
Du kennst ja unsere Geistlichen hier draußen auf den Jnseln. Jch brauche
nicht über sie zu klatschen, da du sie kennst! Da hast du die Heuchler, besonders
unter den Unglücklichen, die nach dem Examen den Glauben an alle Lehren
verloren haben.“

„Ja, aber die Pietisten sind kulturfeindlich!“

„Nein, das kann ich nicht finden. Als ich nach dieser Jnsel kam, wurde
sie von dreihundert versoffenen Wilden bewohnt, die ein Leben führten — ein

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[280/0040] August Strindberg: Der Quarantänemeister. Aber Christel ging nie! Doch, einmal war sie bis nach der Dampfer- brücke hinunter gekommen, aber kehrte um und ging in den Wald, wo der Doktor sie holen mußte. Der einzige Umgang des Doktors war der Postmeister auf Heiterbucht, ein alter Studiengenosse, der jeden einzigen Samstagabend herüberkam, wo die beiden Gesellen bis über Mitternacht zechten und schwatzten; und immer blieb der Postmeister noch bis zum Sonntagmorgen. Sie sahen allerdings das Leben und die Menschen nicht vom selben Ge- sichtspunkt an, denn der Postmeister war ein entschiedener Mann der Linken, und der Quarantänemeister war ein Zweifler, aber sie konnten so gut mit ein- ander plaudern, daß die Unterhaltung wie ein Wechselgesang wurde oder eine zweistimmige Musik, wo die Stimmen allerdings auf einander los gingen, aber doch einen Einklang bildeten. Der weitere Blick des Quarantänemeisters fand zuweilen seinen Ausdruck in einer Mißbilligung, etwa so: — Jhr Parteimänner seid wie einäugige Katzen. Welche sehen nur mit dem linken Auge, andere nur mit dem rechten, und darum könnt ihr niemals stereoskopisch sehen, sondern Jhr seht immer platt und einseitig! Sie waren beide große Zeitungsleser und sie verfolgten alle Fragen mit Eifer. Die brennendste war jedoch die religiöse, denn die politischen wurden ja einmal durch Abstimmung im Reichstag entschieden und nahmen ein Ende, aber die religiöse hatte kein Ende. Der Postmeister haßte Pietisten und Tem- perenzler. „Warum zum Teufel haßt du die Pietisten?“ sagte der Quarantänemeister gewöhnlich. „Was haben sie dir Böses getan? Laß sie ihr Job haben, mich geht es nichts an!“ „Sie sind alle Heuchler“, fertigte der Postmeister die Frage ab. „Nein“, antwortete der Doktor. „Du kannst darüber nicht urteilen, weil du nicht Pietist gewesen bist; aber ich bin es gewesen, und ich war, hol' mich der Teufel, kein Heuchler. Aber ich tue es nicht wieder! Das heißt — das weiß man niemals, denn das kommt über einen, oder kommt nicht, das hängt davon ab...“ „Wovon?“ „Schwer zu sagen! Der Pietismus ist übrigens eine Art europäischer Buddhismus. Beide betrachten die Welt als eine unreine Materie, in welcher die Seele gepeinigt wird. Darum suchen sie der Materie entgegenzuwirken, und da haben sie nicht so unrecht. Daß es ihnen nicht glückt, ist ja klar, aber der Kampf selbst ist achtungswert. Daß sie als Heuchler erscheinen, liegt darin, daß sie niemals zu ihren Zielen oder Lehren hinaufreichen, so daß das Leben immer hinter der Lehre zurückbleibt. Und daß die Priester der Kirche sie hassen, ist klar, denn unsere verheirateten Meier, Kartenspieler und Dinierer werden natürlich diese Apostel nicht lieben, die ihre Überflüssigkeit und ihre Mängel beweisen. Du kennst ja unsere Geistlichen hier draußen auf den Jnseln. Jch brauche nicht über sie zu klatschen, da du sie kennst! Da hast du die Heuchler, besonders unter den Unglücklichen, die nach dem Examen den Glauben an alle Lehren verloren haben.“ „Ja, aber die Pietisten sind kulturfeindlich!“ „Nein, das kann ich nicht finden. Als ich nach dieser Jnsel kam, wurde sie von dreihundert versoffenen Wilden bewohnt, die ein Leben führten — ein

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/40>, abgerufen am 22.11.2024.