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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Dr. Sigmund Kaff: Das Erzhaus.
Jahre 1848 des Thrones verlustig erklärten und welches nunmehr mit den
Nachkommen der Rebellen, die es im Jahre 1849 hängen ließ, oder doch
hängen lassen wollte, paktieren muß. Das ist ein Ereignis, welches man gar
nicht würdigen kann, weil man es eben miterlebt, obzwar es nicht weniger
historisch ist, wie die Flucht Kossuths des Vaters aus seinem geliebten Vater-
lande. Die richtige Perspektive wird ja auch erst die Geschichte verleihen und
dann wird man erkennen, daß der Vorgang nur ein Glied in der langen
Kette der Entwicklung ist, die sich in dem Doppelstaate an der Donau
vollzieht.

Das Erzhaus Habsburg, es muß das tun, was Bismarck prophezeite:
seinen Schwerpunkt nach Budapest verlegen. Es bleibt ihm nichts anderes
übrig, wenigstens insolange als in den cisleithanischen Länderkomplexen der
Wirrwar andauert. Soll man das bedauern? Soll man es begrüßen? Weder
das Eine noch das Andere: man muß die Sache begreifen. Ungarn ist national
ebenso wenig ein homogener Staat wie Österreich; aber die Magyaren, der
herrschende Stamm, sind ein politisch geschultes und energisch=selbstbewußtes
Volk, was von den Deutschen in Österreich nicht behauptet werden kann. Sie
werden also die übrigen in Ungarn seßhaften Nationalitäten -- Slovaken,
Serben, Rumänen, Siebenbürger Sachsen und Kroaten -- eine geraume Zeit
hindurch noch unter ihren Fokos zwingen, bis das nationale Bewußtsein dieser
Volkssplitter entsprechend entfacht und durch die in Ungarn sich vorbereitende
wirtschaftliche Umwälzung -- Verdrängung des Ackerbaus durch die Jndustrie
-- die proletarische Bewegung so erstarkt sein wird, daß auch das stolze
Magyarentum kapitulieren muß.

Vorläufig aber und bis auf weiteres ist es obenauf. Sein anerkannter
Repräsentant ist wieder ein Kossuth, nicht so revolutionär wie sein Vater,
aber vorsichtig=diplomatisch, wie es moderne Volksführer sein müssen. Und
auch der ungarische König ist mittlerweile ein alter Herr geworden. Politische
und häusliche Schicksale haben diesen einst so stolzen Herrscher mürbe gemacht,
und wenn auch sein präsumtiver Thronfolger die Hoffnung der alten, noch
lange nicht ausgemärzten ultraklerikalen Nichts=als=Österreicher bildet, die in
ihrem schwarzgelben Optimismus Österreich=Ungarn als ein vom Papst ver-
liehenes Fideikommiß des Hauses Habsburg ansehen: der Kaiser weiß, daß
man sich damit blos Königgrätze holt, auch wenn die Repetiergewehre, mit
welchen die österreichischen Regimenter ausgerüstet sind, nach dem allerneuesten
Modell verfertigt sein sollten. Der Kaiser wird also, soweit es auf ihn an-
kommt, die letzten Entscheidungen hinauszuschieben trachten.

Sein nächster Neffe und Thronfolger ist bis jetzt bekannt als Protektor
der klerikalen Bestrebungen, als genauer Wirtschafter und als eigenwilliger
Charakter. Obgleich er sich große Zurückhaltung auferlegt, weiß man doch,
daß er politisch sehr interessiert ist und daß er die Vorgänge mit Aufmerksam-
keit verfolgt. Näheres über ihn weiß man nicht; die einen behaupten, daß er
am liebsten dem Jagdvergnügen huldige und das Leben eines Grandseigneurs
dem eines Herrschers vorziehen würde. Das ist möglich, aber nicht allzu-
wahrscheinlich. Dafür spricht höchstens seine Körperkonstitution, die nach den
Krankheiten seiner Jünglingsjahre zu schließen, nicht sonderlich robust seiu
mag. Anderseits läßt der Umstand, daß er eine nicht ebenbürtige Gräfin
heiratete, die Möglichkeit eines Verzichtes auf die Thronfolge immerhin offen.

Dr. Sigmund Kaff: Das Erzhaus.
Jahre 1848 des Thrones verlustig erklärten und welches nunmehr mit den
Nachkommen der Rebellen, die es im Jahre 1849 hängen ließ, oder doch
hängen lassen wollte, paktieren muß. Das ist ein Ereignis, welches man gar
nicht würdigen kann, weil man es eben miterlebt, obzwar es nicht weniger
historisch ist, wie die Flucht Kossuths des Vaters aus seinem geliebten Vater-
lande. Die richtige Perspektive wird ja auch erst die Geschichte verleihen und
dann wird man erkennen, daß der Vorgang nur ein Glied in der langen
Kette der Entwicklung ist, die sich in dem Doppelstaate an der Donau
vollzieht.

Das Erzhaus Habsburg, es muß das tun, was Bismarck prophezeite:
seinen Schwerpunkt nach Budapest verlegen. Es bleibt ihm nichts anderes
übrig, wenigstens insolange als in den cisleithanischen Länderkomplexen der
Wirrwar andauert. Soll man das bedauern? Soll man es begrüßen? Weder
das Eine noch das Andere: man muß die Sache begreifen. Ungarn ist national
ebenso wenig ein homogener Staat wie Österreich; aber die Magyaren, der
herrschende Stamm, sind ein politisch geschultes und energisch=selbstbewußtes
Volk, was von den Deutschen in Österreich nicht behauptet werden kann. Sie
werden also die übrigen in Ungarn seßhaften Nationalitäten — Slovaken,
Serben, Rumänen, Siebenbürger Sachsen und Kroaten — eine geraume Zeit
hindurch noch unter ihren Fokos zwingen, bis das nationale Bewußtsein dieser
Volkssplitter entsprechend entfacht und durch die in Ungarn sich vorbereitende
wirtschaftliche Umwälzung — Verdrängung des Ackerbaus durch die Jndustrie
— die proletarische Bewegung so erstarkt sein wird, daß auch das stolze
Magyarentum kapitulieren muß.

Vorläufig aber und bis auf weiteres ist es obenauf. Sein anerkannter
Repräsentant ist wieder ein Kossuth, nicht so revolutionär wie sein Vater,
aber vorsichtig=diplomatisch, wie es moderne Volksführer sein müssen. Und
auch der ungarische König ist mittlerweile ein alter Herr geworden. Politische
und häusliche Schicksale haben diesen einst so stolzen Herrscher mürbe gemacht,
und wenn auch sein präsumtiver Thronfolger die Hoffnung der alten, noch
lange nicht ausgemärzten ultraklerikalen Nichts=als=Österreicher bildet, die in
ihrem schwarzgelben Optimismus Österreich=Ungarn als ein vom Papst ver-
liehenes Fideikommiß des Hauses Habsburg ansehen: der Kaiser weiß, daß
man sich damit blos Königgrätze holt, auch wenn die Repetiergewehre, mit
welchen die österreichischen Regimenter ausgerüstet sind, nach dem allerneuesten
Modell verfertigt sein sollten. Der Kaiser wird also, soweit es auf ihn an-
kommt, die letzten Entscheidungen hinauszuschieben trachten.

Sein nächster Neffe und Thronfolger ist bis jetzt bekannt als Protektor
der klerikalen Bestrebungen, als genauer Wirtschafter und als eigenwilliger
Charakter. Obgleich er sich große Zurückhaltung auferlegt, weiß man doch,
daß er politisch sehr interessiert ist und daß er die Vorgänge mit Aufmerksam-
keit verfolgt. Näheres über ihn weiß man nicht; die einen behaupten, daß er
am liebsten dem Jagdvergnügen huldige und das Leben eines Grandseigneurs
dem eines Herrschers vorziehen würde. Das ist möglich, aber nicht allzu-
wahrscheinlich. Dafür spricht höchstens seine Körperkonstitution, die nach den
Krankheiten seiner Jünglingsjahre zu schließen, nicht sonderlich robust seiu
mag. Anderseits läßt der Umstand, daß er eine nicht ebenbürtige Gräfin
heiratete, die Möglichkeit eines Verzichtes auf die Thronfolge immerhin offen.

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[262/0022] Dr. Sigmund Kaff: Das Erzhaus. Jahre 1848 des Thrones verlustig erklärten und welches nunmehr mit den Nachkommen der Rebellen, die es im Jahre 1849 hängen ließ, oder doch hängen lassen wollte, paktieren muß. Das ist ein Ereignis, welches man gar nicht würdigen kann, weil man es eben miterlebt, obzwar es nicht weniger historisch ist, wie die Flucht Kossuths des Vaters aus seinem geliebten Vater- lande. Die richtige Perspektive wird ja auch erst die Geschichte verleihen und dann wird man erkennen, daß der Vorgang nur ein Glied in der langen Kette der Entwicklung ist, die sich in dem Doppelstaate an der Donau vollzieht. Das Erzhaus Habsburg, es muß das tun, was Bismarck prophezeite: seinen Schwerpunkt nach Budapest verlegen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, wenigstens insolange als in den cisleithanischen Länderkomplexen der Wirrwar andauert. Soll man das bedauern? Soll man es begrüßen? Weder das Eine noch das Andere: man muß die Sache begreifen. Ungarn ist national ebenso wenig ein homogener Staat wie Österreich; aber die Magyaren, der herrschende Stamm, sind ein politisch geschultes und energisch=selbstbewußtes Volk, was von den Deutschen in Österreich nicht behauptet werden kann. Sie werden also die übrigen in Ungarn seßhaften Nationalitäten — Slovaken, Serben, Rumänen, Siebenbürger Sachsen und Kroaten — eine geraume Zeit hindurch noch unter ihren Fokos zwingen, bis das nationale Bewußtsein dieser Volkssplitter entsprechend entfacht und durch die in Ungarn sich vorbereitende wirtschaftliche Umwälzung — Verdrängung des Ackerbaus durch die Jndustrie — die proletarische Bewegung so erstarkt sein wird, daß auch das stolze Magyarentum kapitulieren muß. Vorläufig aber und bis auf weiteres ist es obenauf. Sein anerkannter Repräsentant ist wieder ein Kossuth, nicht so revolutionär wie sein Vater, aber vorsichtig=diplomatisch, wie es moderne Volksführer sein müssen. Und auch der ungarische König ist mittlerweile ein alter Herr geworden. Politische und häusliche Schicksale haben diesen einst so stolzen Herrscher mürbe gemacht, und wenn auch sein präsumtiver Thronfolger die Hoffnung der alten, noch lange nicht ausgemärzten ultraklerikalen Nichts=als=Österreicher bildet, die in ihrem schwarzgelben Optimismus Österreich=Ungarn als ein vom Papst ver- liehenes Fideikommiß des Hauses Habsburg ansehen: der Kaiser weiß, daß man sich damit blos Königgrätze holt, auch wenn die Repetiergewehre, mit welchen die österreichischen Regimenter ausgerüstet sind, nach dem allerneuesten Modell verfertigt sein sollten. Der Kaiser wird also, soweit es auf ihn an- kommt, die letzten Entscheidungen hinauszuschieben trachten. Sein nächster Neffe und Thronfolger ist bis jetzt bekannt als Protektor der klerikalen Bestrebungen, als genauer Wirtschafter und als eigenwilliger Charakter. Obgleich er sich große Zurückhaltung auferlegt, weiß man doch, daß er politisch sehr interessiert ist und daß er die Vorgänge mit Aufmerksam- keit verfolgt. Näheres über ihn weiß man nicht; die einen behaupten, daß er am liebsten dem Jagdvergnügen huldige und das Leben eines Grandseigneurs dem eines Herrschers vorziehen würde. Das ist möglich, aber nicht allzu- wahrscheinlich. Dafür spricht höchstens seine Körperkonstitution, die nach den Krankheiten seiner Jünglingsjahre zu schließen, nicht sonderlich robust seiu mag. Anderseits läßt der Umstand, daß er eine nicht ebenbürtige Gräfin heiratete, die Möglichkeit eines Verzichtes auf die Thronfolge immerhin offen.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/22>, abgerufen am 22.11.2024.