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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Max Schippel: Vereitelter Landarbeitertrutz in Preussen.
Sack geschlagen werden sollte. Es stellte sich jedoch sofort heraus, daß die für
den agrarischen Unternehmer fühlbarste Art des vertragswidrigen Arbeitswechsels:
der Uebergang von der landwirtschaftlichen zur gewerblichen Beschäftigung,
die Abwanderung von den ländlichen nach den industriellen Bezirken damit in
keiner Weise getroffeu werden kann -- nach dem maßgebenden Reichsrecht
nicht einmal getroffen werden darf. Die "Begründung" selber führte plötzlich,
in offenem Widerspruch zu dem Wortlaut des Gesetzentwurfes, aus: Der
gewerbliche Unternehmer sei nach § 41 der Gewerbeordnung in der Wahl
seines Arbeits= und Hilfspersonals nur den durch die Gewerbeordnung selbst
festgestellten Beschränkungen unterworfen. Die Landesgesetzgebung könne daher
einem gewerblichen Betriebsleiter die Einstellung kontraktbrüchiger landwirt-
schaftlicher Arbeiter nicht verbieten. Deshalb beschränke sich der Entwurf
darauf, "denjenigen unter Strafe zu stellen, der Gesinde oder einen landwirt-
schaftlichen Arbeiter als solche in Dienst nimmt."

Vorausgesetzt, das eine spätere Rechtsprechung sich dieser, lediglich in den
Motiven ausgesprochenen Beschränkung stets erinnert, so schrumpft hiermit die
reale Bedeutung des ganzen Vorgehens wesentlich zusammen, sehr zum Verdruß
der reaktionären Heißsporne, die diese Attacke einleiteten. Der eine agrarische
Unternehmer mag nach solchen Strafbestimmungen in Zukunft seine Arbeiter
leichter festhalten, dem anderen fließen sie dafür nur unter vermehrten Hemm-
nissen zu. Jnsoweit ist für die Landwirtschaft als Ganzes diese Art der
Gesetzmacherei vollkommen gleichgültig. Sie schafft lediglich vermehrte An-
lässe zu den bösesten Klagen und Prozessen zwischen guten Freunden und ge-
treuen Nachbarn auf dem Lande, und dafür brauchte eine "aufgeklärte, weit-
schauende Agrarpolitik", wie sie uns in Aussicht gestellt ist, wahrlich nicht zu
sorgen.

Sie eröffnet allerdings weiter eine neue Quelle der gehässigsten Denun-
ziationen und Verfolgungen gegen einzelne mißliebige Arbeiter. Denn obwohl
der Arbeiter selber nicht unmittelbar gestraft würde, so wenden sich solche
Drohungen und Maßnahmen in letzter Linie gegen seine Lebenslaufbahn und
sein Fortkommen.

Der frühere Arbeitgeber kann seinen Nachfolger vor das Gericht zitieren,
wenn dieser "bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt wissen mußte", daß
ein Arbeiter, ein Knecht oder eine Magd eigentlich noch dem alten Herrn
dienstpflichtig war! Man muß dabei im Auge behalten, trotz welcher triftigen
und triftigsten Gründe zum Abbruch aller Arbeitsbeziehungen die Frage der
fortbestehenden Vertragsgebundenheit formell strittig bleiben kann -- wohl-
gemerkt: auf dem Lande, wo die rechtliche Bewegungsfreiheit, die der gewerb-
liche Arbeiter schon lange besitzt, erst ihrer Verwirklichung harrt. Die Abgeord-
neten Stadthagen und Haase-Königsberg haben dem Reichstage im Laufe
der Jahre massenhaft Fälle unglaublichster Art unterbreitet, wo Arbeiter für
vertragsbrüchig erklärt wurden, deren gutes inneres Recht für jedes menschliche
Empfinden außer Zweifel zu stehen schien. Die Gründe, wegen deren ein
gewerblicher Geselle und Gehülfe sofort, vor Ablauf der vertragsmäßigen
Zeit und ohne jede Aufkündigung die Arbeit verlassen darf ( Leistungsunfähigkeit,
erlittene grobe Beleidigungen und Tätlichkeiten, wider die Gesetze und die guten
Sitten verstoßende Zumutungen, Uebervorteilungen, Gesundheitsgefährdungen
u. s. w. ) sind für das Landproletariat bei seiner heutigen Rechtsrückständigkeit

Max Schippel: Vereitelter Landarbeitertrutz in Preussen.
Sack geschlagen werden sollte. Es stellte sich jedoch sofort heraus, daß die für
den agrarischen Unternehmer fühlbarste Art des vertragswidrigen Arbeitswechsels:
der Uebergang von der landwirtschaftlichen zur gewerblichen Beschäftigung,
die Abwanderung von den ländlichen nach den industriellen Bezirken damit in
keiner Weise getroffeu werden kann — nach dem maßgebenden Reichsrecht
nicht einmal getroffen werden darf. Die „Begründung“ selber führte plötzlich,
in offenem Widerspruch zu dem Wortlaut des Gesetzentwurfes, aus: Der
gewerbliche Unternehmer sei nach § 41 der Gewerbeordnung in der Wahl
seines Arbeits= und Hilfspersonals nur den durch die Gewerbeordnung selbst
festgestellten Beschränkungen unterworfen. Die Landesgesetzgebung könne daher
einem gewerblichen Betriebsleiter die Einstellung kontraktbrüchiger landwirt-
schaftlicher Arbeiter nicht verbieten. Deshalb beschränke sich der Entwurf
darauf, „denjenigen unter Strafe zu stellen, der Gesinde oder einen landwirt-
schaftlichen Arbeiter als solche in Dienst nimmt.“

Vorausgesetzt, das eine spätere Rechtsprechung sich dieser, lediglich in den
Motiven ausgesprochenen Beschränkung stets erinnert, so schrumpft hiermit die
reale Bedeutung des ganzen Vorgehens wesentlich zusammen, sehr zum Verdruß
der reaktionären Heißsporne, die diese Attacke einleiteten. Der eine agrarische
Unternehmer mag nach solchen Strafbestimmungen in Zukunft seine Arbeiter
leichter festhalten, dem anderen fließen sie dafür nur unter vermehrten Hemm-
nissen zu. Jnsoweit ist für die Landwirtschaft als Ganzes diese Art der
Gesetzmacherei vollkommen gleichgültig. Sie schafft lediglich vermehrte An-
lässe zu den bösesten Klagen und Prozessen zwischen guten Freunden und ge-
treuen Nachbarn auf dem Lande, und dafür brauchte eine „aufgeklärte, weit-
schauende Agrarpolitik“, wie sie uns in Aussicht gestellt ist, wahrlich nicht zu
sorgen.

Sie eröffnet allerdings weiter eine neue Quelle der gehässigsten Denun-
ziationen und Verfolgungen gegen einzelne mißliebige Arbeiter. Denn obwohl
der Arbeiter selber nicht unmittelbar gestraft würde, so wenden sich solche
Drohungen und Maßnahmen in letzter Linie gegen seine Lebenslaufbahn und
sein Fortkommen.

Der frühere Arbeitgeber kann seinen Nachfolger vor das Gericht zitieren,
wenn dieser „bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt wissen mußte“, daß
ein Arbeiter, ein Knecht oder eine Magd eigentlich noch dem alten Herrn
dienstpflichtig war! Man muß dabei im Auge behalten, trotz welcher triftigen
und triftigsten Gründe zum Abbruch aller Arbeitsbeziehungen die Frage der
fortbestehenden Vertragsgebundenheit formell strittig bleiben kann — wohl-
gemerkt: auf dem Lande, wo die rechtliche Bewegungsfreiheit, die der gewerb-
liche Arbeiter schon lange besitzt, erst ihrer Verwirklichung harrt. Die Abgeord-
neten Stadthagen und Haase-Königsberg haben dem Reichstage im Laufe
der Jahre massenhaft Fälle unglaublichster Art unterbreitet, wo Arbeiter für
vertragsbrüchig erklärt wurden, deren gutes inneres Recht für jedes menschliche
Empfinden außer Zweifel zu stehen schien. Die Gründe, wegen deren ein
gewerblicher Geselle und Gehülfe sofort, vor Ablauf der vertragsmäßigen
Zeit und ohne jede Aufkündigung die Arbeit verlassen darf ( Leistungsunfähigkeit,
erlittene grobe Beleidigungen und Tätlichkeiten, wider die Gesetze und die guten
Sitten verstoßende Zumutungen, Uebervorteilungen, Gesundheitsgefährdungen
u. s. w. ) sind für das Landproletariat bei seiner heutigen Rechtsrückständigkeit

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[259/0019] Max Schippel: Vereitelter Landarbeitertrutz in Preussen. Sack geschlagen werden sollte. Es stellte sich jedoch sofort heraus, daß die für den agrarischen Unternehmer fühlbarste Art des vertragswidrigen Arbeitswechsels: der Uebergang von der landwirtschaftlichen zur gewerblichen Beschäftigung, die Abwanderung von den ländlichen nach den industriellen Bezirken damit in keiner Weise getroffeu werden kann — nach dem maßgebenden Reichsrecht nicht einmal getroffen werden darf. Die „Begründung“ selber führte plötzlich, in offenem Widerspruch zu dem Wortlaut des Gesetzentwurfes, aus: Der gewerbliche Unternehmer sei nach § 41 der Gewerbeordnung in der Wahl seines Arbeits= und Hilfspersonals nur den durch die Gewerbeordnung selbst festgestellten Beschränkungen unterworfen. Die Landesgesetzgebung könne daher einem gewerblichen Betriebsleiter die Einstellung kontraktbrüchiger landwirt- schaftlicher Arbeiter nicht verbieten. Deshalb beschränke sich der Entwurf darauf, „denjenigen unter Strafe zu stellen, der Gesinde oder einen landwirt- schaftlichen Arbeiter als solche in Dienst nimmt.“ Vorausgesetzt, das eine spätere Rechtsprechung sich dieser, lediglich in den Motiven ausgesprochenen Beschränkung stets erinnert, so schrumpft hiermit die reale Bedeutung des ganzen Vorgehens wesentlich zusammen, sehr zum Verdruß der reaktionären Heißsporne, die diese Attacke einleiteten. Der eine agrarische Unternehmer mag nach solchen Strafbestimmungen in Zukunft seine Arbeiter leichter festhalten, dem anderen fließen sie dafür nur unter vermehrten Hemm- nissen zu. Jnsoweit ist für die Landwirtschaft als Ganzes diese Art der Gesetzmacherei vollkommen gleichgültig. Sie schafft lediglich vermehrte An- lässe zu den bösesten Klagen und Prozessen zwischen guten Freunden und ge- treuen Nachbarn auf dem Lande, und dafür brauchte eine „aufgeklärte, weit- schauende Agrarpolitik“, wie sie uns in Aussicht gestellt ist, wahrlich nicht zu sorgen. Sie eröffnet allerdings weiter eine neue Quelle der gehässigsten Denun- ziationen und Verfolgungen gegen einzelne mißliebige Arbeiter. Denn obwohl der Arbeiter selber nicht unmittelbar gestraft würde, so wenden sich solche Drohungen und Maßnahmen in letzter Linie gegen seine Lebenslaufbahn und sein Fortkommen. Der frühere Arbeitgeber kann seinen Nachfolger vor das Gericht zitieren, wenn dieser „bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt wissen mußte“, daß ein Arbeiter, ein Knecht oder eine Magd eigentlich noch dem alten Herrn dienstpflichtig war! Man muß dabei im Auge behalten, trotz welcher triftigen und triftigsten Gründe zum Abbruch aller Arbeitsbeziehungen die Frage der fortbestehenden Vertragsgebundenheit formell strittig bleiben kann — wohl- gemerkt: auf dem Lande, wo die rechtliche Bewegungsfreiheit, die der gewerb- liche Arbeiter schon lange besitzt, erst ihrer Verwirklichung harrt. Die Abgeord- neten Stadthagen und Haase-Königsberg haben dem Reichstage im Laufe der Jahre massenhaft Fälle unglaublichster Art unterbreitet, wo Arbeiter für vertragsbrüchig erklärt wurden, deren gutes inneres Recht für jedes menschliche Empfinden außer Zweifel zu stehen schien. Die Gründe, wegen deren ein gewerblicher Geselle und Gehülfe sofort, vor Ablauf der vertragsmäßigen Zeit und ohne jede Aufkündigung die Arbeit verlassen darf ( Leistungsunfähigkeit, erlittene grobe Beleidigungen und Tätlichkeiten, wider die Gesetze und die guten Sitten verstoßende Zumutungen, Uebervorteilungen, Gesundheitsgefährdungen u. s. w. ) sind für das Landproletariat bei seiner heutigen Rechtsrückständigkeit

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/19>, abgerufen am 22.11.2024.