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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 7. Burg/Berlin, 1836.

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101 Conversations=Blatt. 102
[Spaltenumbruch]
Herr! Sie sind ein Spitzbube.
Eine heitere Erzählung
von
Heinrich Smidt.
(Beschluß.)

"Wir sind nun am Ende, Vater!" sagte Gret-
chen, "das heißt in soweit der Wegweiser reicht,
aber es sind, wie der Aufseher eben sagt, noch ein
Paar neue Wachsbilder hinzugekommen, und die Er-
klärung derselben ist hinten hineingeschrieben!" Sie blät-
terte hin und her und vor Staunen aufschreiend, rief
sie: "Ach Vater, so hört doch nur, was hier steht:
"No. 33. Herr Amandus Gottlieb Marder, Amtmann
auf dem Borwerke Protz unweit Wangersleben, einer
der ersten Oekonomen unserer Zeit."

"Was sagst du, Kind? Jch stelle eine Wachs-
figur vor und bin sammt Kaiser und Königen nebst
allerlei anderm Volk für Geld zu sehen?" rief der
Amtmann. "Die Leute erzeigen mir eine große Ehre;
ich muß eine Gelegenheit suchen, um mich dankbar zu
beweisen. Aber geschwind, Gretchen, laß uns das
Bild besehen, und du bedenke, wie dein Vater aus-
gezeichnet wird vor allem Volke, und hege mir hübsch
vornehme Gesinnungen." -

Man trat zu der Gruppe, und sah einen blü-
hend schönen Mann in ländlicher Tracht, der einen
Band von Thaers Annalen der Landwirthschaft in
Händen hielt. Der Amtmann begaffte sich von unten
bis oben, und wollte sich durchaus nicht ähnlich fin-
den. "Was thut's?" setzte er bald darauf hinzu,
"wenn es mir auch nicht ganz gleicht, so ist es doch
immer eine Ehre, die mir widerfährt, und die Oeko-
nomen des Landes mögen sich daran spiegeln." -

Der Amtmann ließ endlich ab von der Be-
schauung jener Figur, die sein Jch repräsentiren sollte,
und fragte, was es weiter gebe. Bisher waren der
Amtmann und Gretchen fast ganz allein im Kunstkabi-
net gewesen, jetzt wurde es lebhafter, und eine ziem-
llche Menschenmenge befand sich in der Nähe unserer
beiden Freunde.

"Geschwind, Gretchen, geschwind, was kommt
nun?" fragte der Amtmann.

Gretchen schlug ihren Wegweiser auf und las:
"No. 34. Der lahme Peter, ein Wilddieb, Schleich-
händler, auch muthmaßlicher Mörder und Straßen-
räuber, der sich seit einiger Zeit in dem Wangersleber
Forst furchtbar zu machen beginnt."

"Ja wohl! Ja wohl!" seufzte der Amtmann,
"und den Kerl haben sie hier in Wachs? Das ist
herrlich, den muß ich gleich sehen, den Kerl kenne ich
ja! -"

"Der Herr da kennt den langen Peter!" schrieen
mehre Umstehende und drängten hinter dem Amtmann
und Gretchen her, die sich nach dem äußersten Ende
der Bude begaben, wo die Gruppe No. 34. aufgestellt
war. Aber wie prallte der Erstere zurück, als er
seine Augen zu dem Konterfei des berüchtigten Spitz-
buben aufschlug und sich selbst von Kopf bis zu den
Zehen erblickte. Das Buch entsank den Händen des
[Spaltenumbruch] laut aufschreienden Mädchens, und der Amtmann zit-
terte an allen Gliedern vor Zorn, Wuth und Angst.
Die Umstehenden wurden aufmerksam und drängten
näher; sie erkannten bald die außerordentliche Aehnlich-
keit zwischen der Wachsfigur und dem lebendigen Men-
schen und erhuben ein lautes Geschrei.

"Hier ist der Spitzbube! Hier ist der lahme Pe-
ter! Laßt ihn nicht entwischen!" erscholl es von allen
Seiten, und die Menge drängte immer mehr auf den
Amtmann ein, der sich vor Angst nicht zu lassen
wußte, und vergebens zu Worte zu kommen suchte.
Da sprang der Lohnbediente auf einen Sessel, der in
der Nähe stand, und schrie über die Andern hinweg:
"Ja, es hat seine Richtigkeit! Er ist in den Gasthof
gekommen und hat auch nicht das geringste Papier zu
seiner Legitimation bei sich gehabt, wer sich aber nicht
legitimiren kann, bleibt verdächtig." Und zu dem
Amtmann, der sich verantworten wollte, gekehrt,
schrie er laut auf: " Herr! Sie sind ein Spitz-
bube!
"

" Herr! Sie sind ein Spitzbube! " brüllte
die aufgeregte Menge von allen Seiten, und Einige
liefen hin, um die Wache herbeizuholen, während die
Uebrigen die Thür sperrten; es war ein fürchterlicher
Lärmen und die Geschichte drohte einen ernsthaften
Charakter anzunehmen. Da erblickte Gretchen, die
sich ängstlich umherschaute, den Förster Anton, der
sich zu ihr durcharbeitete, und rief ihn mit lauter
Stimme herbei. Kaum hörte der Amtmann den Na-
men eines befreundeten Menschen, als er noch zehnmal
ärger schrie, und den Förster, der ihn jetzt eben er-
reichte, an seine Brust schloß.

"Herzensmann!" rief er aus, "Sie kennen
mich, erlösen Sie mich aus der Trübsal, Sie können
es! Aber nur geschwind, ich muß sonst umkommen."

"Jetzt können Sie fein höflich sein, mein Herr!"
zischelte der Förster ihm zu, "aber wenn ich, wie
damals, als ich um Jhre Tochter anhielt, zu Jhnen
kam, waren Sie über alle Begriffe unartig."

"Jch will mich ändern," betheuerte der Amt-
mann, dem das Weinen nahe war, "ich will mich
wahrhaftig ändern, und wenn ich je wieder in den
Fall kommen sollte, eine Werbung von Jhnen entge-
gen zu nehmen, so dürften Sie eines günstigen Er-
folges gewiß sein." -

"Darf ich mich darauf verlassen?" fragte der
Förster. Der Amtmann nickte mit dem Kopfe. -

"Nun," fuhr der Förster fort, "so möge das
Ungewöhnliche des Augenblicks die Seltsamkeit meines
Benehmens entschuldigen. Meine Herren Umstehenden,
dieser Herr verlobt mich mit seiner Tochter und bittet
Sie, Zeuge dieser Handlung zu sein. Jch bin völlig
legitimirt, heiße Anton und bin Förster im Wangers-
leber Walde." -

"Ja, ja! ich kenne ihn," rief der Lohnbe-
diente, "er logirt bei uns." -

Mehre lachten, Andere riefen: "Halt! Ein
Spitzbube darf nicht einen öffentlichen Akt vollziehen,

101 Conversations=Blatt. 102
[Spaltenumbruch]
Herr! Sie sind ein Spitzbube.
Eine heitere Erzählung
von
Heinrich Smidt.
(Beschluß.)

„Wir sind nun am Ende, Vater!“ sagte Gret-
chen, „das heißt in soweit der Wegweiser reicht,
aber es sind, wie der Aufseher eben sagt, noch ein
Paar neue Wachsbilder hinzugekommen, und die Er-
klärung derselben ist hinten hineingeschrieben!“ Sie blät-
terte hin und her und vor Staunen aufschreiend, rief
sie: „Ach Vater, so hört doch nur, was hier steht:
„No. 33. Herr Amandus Gottlieb Marder, Amtmann
auf dem Borwerke Protz unweit Wangersleben, einer
der ersten Oekonomen unserer Zeit.“

„Was sagst du, Kind? Jch stelle eine Wachs-
figur vor und bin sammt Kaiser und Königen nebst
allerlei anderm Volk für Geld zu sehen?“ rief der
Amtmann. „Die Leute erzeigen mir eine große Ehre;
ich muß eine Gelegenheit suchen, um mich dankbar zu
beweisen. Aber geschwind, Gretchen, laß uns das
Bild besehen, und du bedenke, wie dein Vater aus-
gezeichnet wird vor allem Volke, und hege mir hübsch
vornehme Gesinnungen.“ –

Man trat zu der Gruppe, und sah einen blü-
hend schönen Mann in ländlicher Tracht, der einen
Band von Thaers Annalen der Landwirthschaft in
Händen hielt. Der Amtmann begaffte sich von unten
bis oben, und wollte sich durchaus nicht ähnlich fin-
den. „Was thut's?“ setzte er bald darauf hinzu,
„wenn es mir auch nicht ganz gleicht, so ist es doch
immer eine Ehre, die mir widerfährt, und die Oeko-
nomen des Landes mögen sich daran spiegeln.“ –

Der Amtmann ließ endlich ab von der Be-
schauung jener Figur, die sein Jch repräsentiren sollte,
und fragte, was es weiter gebe. Bisher waren der
Amtmann und Gretchen fast ganz allein im Kunstkabi-
net gewesen, jetzt wurde es lebhafter, und eine ziem-
llche Menschenmenge befand sich in der Nähe unserer
beiden Freunde.

„Geschwind, Gretchen, geschwind, was kommt
nun?“ fragte der Amtmann.

Gretchen schlug ihren Wegweiser auf und las:
„No. 34. Der lahme Peter, ein Wilddieb, Schleich-
händler, auch muthmaßlicher Mörder und Straßen-
räuber, der sich seit einiger Zeit in dem Wangersleber
Forst furchtbar zu machen beginnt.“

„Ja wohl! Ja wohl!“ seufzte der Amtmann,
„und den Kerl haben sie hier in Wachs? Das ist
herrlich, den muß ich gleich sehen, den Kerl kenne ich
ja! –“

„Der Herr da kennt den langen Peter!“ schrieen
mehre Umstehende und drängten hinter dem Amtmann
und Gretchen her, die sich nach dem äußersten Ende
der Bude begaben, wo die Gruppe No. 34. aufgestellt
war. Aber wie prallte der Erstere zurück, als er
seine Augen zu dem Konterfei des berüchtigten Spitz-
buben aufschlug und sich selbst von Kopf bis zu den
Zehen erblickte. Das Buch entsank den Händen des
[Spaltenumbruch] laut aufschreienden Mädchens, und der Amtmann zit-
terte an allen Gliedern vor Zorn, Wuth und Angst.
Die Umstehenden wurden aufmerksam und drängten
näher; sie erkannten bald die außerordentliche Aehnlich-
keit zwischen der Wachsfigur und dem lebendigen Men-
schen und erhuben ein lautes Geschrei.

„Hier ist der Spitzbube! Hier ist der lahme Pe-
ter! Laßt ihn nicht entwischen!“ erscholl es von allen
Seiten, und die Menge drängte immer mehr auf den
Amtmann ein, der sich vor Angst nicht zu lassen
wußte, und vergebens zu Worte zu kommen suchte.
Da sprang der Lohnbediente auf einen Sessel, der in
der Nähe stand, und schrie über die Andern hinweg:
„Ja, es hat seine Richtigkeit! Er ist in den Gasthof
gekommen und hat auch nicht das geringste Papier zu
seiner Legitimation bei sich gehabt, wer sich aber nicht
legitimiren kann, bleibt verdächtig.“ Und zu dem
Amtmann, der sich verantworten wollte, gekehrt,
schrie er laut auf: „ Herr! Sie sind ein Spitz-
bube!

Herr! Sie sind ein Spitzbube! “ brüllte
die aufgeregte Menge von allen Seiten, und Einige
liefen hin, um die Wache herbeizuholen, während die
Uebrigen die Thür sperrten; es war ein fürchterlicher
Lärmen und die Geschichte drohte einen ernsthaften
Charakter anzunehmen. Da erblickte Gretchen, die
sich ängstlich umherschaute, den Förster Anton, der
sich zu ihr durcharbeitete, und rief ihn mit lauter
Stimme herbei. Kaum hörte der Amtmann den Na-
men eines befreundeten Menschen, als er noch zehnmal
ärger schrie, und den Förster, der ihn jetzt eben er-
reichte, an seine Brust schloß.

„Herzensmann!“ rief er aus, „Sie kennen
mich, erlösen Sie mich aus der Trübsal, Sie können
es! Aber nur geschwind, ich muß sonst umkommen.“

„Jetzt können Sie fein höflich sein, mein Herr!“
zischelte der Förster ihm zu, „aber wenn ich, wie
damals, als ich um Jhre Tochter anhielt, zu Jhnen
kam, waren Sie über alle Begriffe unartig.“

„Jch will mich ändern,“ betheuerte der Amt-
mann, dem das Weinen nahe war, „ich will mich
wahrhaftig ändern, und wenn ich je wieder in den
Fall kommen sollte, eine Werbung von Jhnen entge-
gen zu nehmen, so dürften Sie eines günstigen Er-
folges gewiß sein.“ –

„Darf ich mich darauf verlassen?“ fragte der
Förster. Der Amtmann nickte mit dem Kopfe. –

„Nun,“ fuhr der Förster fort, „so möge das
Ungewöhnliche des Augenblicks die Seltsamkeit meines
Benehmens entschuldigen. Meine Herren Umstehenden,
dieser Herr verlobt mich mit seiner Tochter und bittet
Sie, Zeuge dieser Handlung zu sein. Jch bin völlig
legitimirt, heiße Anton und bin Förster im Wangers-
leber Walde.“ –

„Ja, ja! ich kenne ihn,“ rief der Lohnbe-
diente, „er logirt bei uns.“ –

Mehre lachten, Andere riefen: „Halt! Ein
Spitzbube darf nicht einen öffentlichen Akt vollziehen,

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(Beschluß.)<note type="editorial">Ausgabe 6, die vermutlich den unmittelbar vorangegangenen Teil des Artikels enthält, fehlt. <ref target="nn_conversationsblatt05_1836#Bube2">Ausgabe 5, die einen weiteren vorangegangenen Teil enthält, ist vorhanden.</ref></note></head><lb/>
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Sie sind ein Spitzbube! “ brüllte die aufgeregte Menge von allen Seiten, und Einige liefen hin, um die Wache herbeizuholen, während die Uebrigen die Thür sperrten; es war ein fürchterlicher Lärmen und die Geschichte drohte einen ernsthaften Charakter anzunehmen. Da erblickte Gretchen, die sich ängstlich umherschaute, den Förster Anton, der sich zu ihr durcharbeitete, und rief ihn mit lauter Stimme herbei. Kaum hörte der Amtmann den Na- men eines befreundeten Menschen, als er noch zehnmal ärger schrie, und den Förster, der ihn jetzt eben er- reichte, an seine Brust schloß. „Herzensmann!“ rief er aus, „Sie kennen mich, erlösen Sie mich aus der Trübsal, Sie können es! 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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 7. Burg/Berlin, 1836, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt07_1836/3>, abgerufen am 06.06.2024.