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Tübinger Chronik. Nr. 83. [Tübingen (Württemberg)], 11. Juli 1845.

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woch u. Freitag u. kostet hier
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natlich 9 kr. Durch die Post
bezogen halbjährlich 1 fl. Ein-
rückungsgebühr f. 1 Linie aus
gewöhnlicher Schrift 1 kr. Für
Tübingen u. Umgegend abon-
nirt man bei d. Redaction in d.
langen Gasse nächst d. Stifts-
kirche, wo auch Ankündigun-
gen und Aufsätze aller Art
abgegeben werden können.

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Tübinger [Abbildung] Chronik.
[Spaltenumbruch]

Briefkästen sind aufgestellt:
bei Hrn. Messerschmidt Busse
nächst d. Rathhaus, bei Hrn.
Bürstenfabrikant Klein beim
Hirsch, bei Fr. Messrschm[unleserliches Material]Wlh[unleserliches Material]. Fack in d. neuen Straße
bei Hrn. -- -- am
Neckarsthor u. bei Hrn --

-- in der Neckarhalde, in
welche Ankündigungen aller
Art eingelegt werden können.
Diese Briefkästen werden je-
den Tag geleert.

[Ende Spaltensatz]
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 83. Freitag den 11. Juli. 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Louise Dalmar.

Jm Jahr 1831 wohnte in Marseille ein Ban-
kier Namens Granville, der seit einem Jahr mit
einem jungen Mädchen vermählt war, in deren
jugendlichen Zügen, obwohl sie kaum 20 Jahre
zählte, unverkennbarer Schmerz zu lesen war. --
Jhre Wangen hatten nicht mehr die rosige Farbe
der Jugend, ihre durchsichtig blauen Augen besaßen
einen Ausdruck von Milde und Sanftmuth, der sich
unmöglich beschreiben läßt, aber hob sie sie zum
Himmel empor, dann glich sie dem Bilde einer be-
tenden Heiligen. Die Umrisse ihres Gesichtes wa-
ren fein und graziös gezeichnet und wurden von
langen, blonden Locken umgeben, die leicht und
nachlässig auf ihren Hals herabfielen. Sie hieß
Louise. -- Jhre Lebensweise war einfach und regel-
mäßig. Den größten Theil des Tages beschäftigte
sie sich mit weiblichen Handarbeiten an ihrem Fen-
ster, dagegen ging sie fast regelmäßig im Sommer
des Abends, im Winter des Mittags mit ihrem
Gatten spazieren.

Es wurde Jedem, der beide zusammen sah,
schwer, sie als Ehegatten zu betrachten, sie so jung,
so schön, mit blonden Locken, welche der Wind unter
ihrem Strohhut hervorholte, und er, ein ehrwür-
diger Greis, der dreimal so alt war, als sie und
dessen kahler Scheitel kaum noch von einigen weißen
Haaren geschützt wurde. -- Aber die junge Frau
lächelte den Greis aus vollem Herzen an, bewies
ihm so zarte, fromme Sorgfalt, daß der, welcher
sie hätte beklagen wollen, vielleicht sehr unrecht da-
mit gekommen wäre. Wenn man sie so zusammen
sah, wie sich Louise sanft auf den Arm ihres Man-
nes stützte, dann schien der Vogel, der oben in der
freien Luft schwebte, nicht glücklicher, nicht freier
zu seyn, als sie.

Und dabei war der Theil ihres Lebens, den die
Welt nicht betrachten konnte, noch ruhiger und
glücklicher. Das Leben dieses Greises ging unge-
trübt an der Seite eines Engels einem sanften Ende
entgegen. So sah er sie auch oft dankbar an, oder
hörte ihr mit frommer Andacht zu, wenn sie mit
ihrer klangreichen Stimme das Abendgebet sprach,
und wenn sie zu Ende damit war, wenn sie sich
noch ganz begeistert, ganz strahlend erhob, dann
streckte er ihr seine beide Arme entgegen, und indem
[Spaltenumbruch] er ihr den Kuß eines Vaters auf die Stirne drückte,
sagte er:

"Weißt Du, Louise, daß die Jahre unbemerkt
dahinfließen, indem ich Dich sehe und höre, jeden
Tag danke ich dem Himmel, daß er mir am Ende
meines Lebens einen so großen Trost gegeben hat."

Dann legte die junge Frau ihre Arme um den
Hals des Greises und während sie ihren Kopf kind-
lich auf seine Schultern legte, antwortete sie:

"Jch bin so glücklich, dem Manne mein ganzes
Leben widmen zu können, den ich vor Allem auf
der Welt liebe und achte, dem Wohlthäter, der
mir die Hand reichte, als er mich traurig und ver-
lassen sah, der mir so ruhigen und vernünftigen
Trost zusprach, daß sich die Thränen, wie durch
Zauber in meinen Augen trockneten, und Freude
und Ruhe wieder in mein Herz zurückkehrten.

So waren diese Beiden Vater und Tochter,
Frau und Mann; sie lebten still für sich allein, und
das Außenleben hatte nichts mit ihnen zu thun. --
Den Tag über war Hr. Granville in seinem Comp-
toir beschäftigt, um 5 Uhr, wenn das Mittagsbrod
vorüber war, schloß er sich noch eine Stund in sei-
nem Arbeitszimmer ein und dann verbrachte er den
Rest des Tages bei seiner jungen Frau.

Eines Abends begab sich Hr. Granville wider
seine Gewohnheit nicht in sein Kabinet, obgleich es
5 Uhr vorbei war; während der Mahlzeit war er
traurig und unruhig gewesen. -- Das Gesicht des
Bankiers war in der Regel zu heiter, zu ruhig, als
daß Louise die außergewöhnliche Bewegung, welche
sich in ihm aussprach, nicht hätte bemerken sollen.
Sie wurde dadurch beunruhigt, aber sie achtete das
Stillschweigen ihres Mannes, verbarg ihre Unruhe
und verdoppelte aus diesem Grunde ihre Sorgfalt
und Zärtlichkeit für ihn. Nur von Zeit zu Zeit ver-
ließen ihre Augen wider Willen die Arbeit, an wel-
cher sie beschäftigt war, und sie folgte mehr mit
Herzen, als mit den Blicken dieser ungewöhnlichen
Traurigkeit, welche die Stirn des Greises bedeckte.
Sie würde gerne zu ihm gegangen seyn, aber sie
wagte es nicht. So verging ungefähr eine halbe
Stunde, als sie plötzlich die Stimme ihres Mannes
hörte, der ihr das eine Wort: Louise! sagte.

Sie sprang schnell auf und warf ihre Stickerei
zu Boden, denn es lag für sie in dem Klange dieses
Wortes ein ganzer Gedanke. Es schien ihr als wenn
die Stimme, welche ihren Namen ausgesprochen, zu
gleicher Zeit gesagt hätte: Jch leide und rufe Dich,
damit Du mich tröstest. --     Forts. folgt.

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Tübinger [Abbildung] Chronik.
[Spaltenumbruch]

Briefkästen sind aufgestellt:
bei Hrn. Messerschmidt Busse
nächst d. Rathhaus, bei Hrn.
Bürstenfabrikant Klein beim
Hirsch, bei Fr. Messrschm[unleserliches Material]Wlh[unleserliches Material]. Fack in d. neuen Straße
bei Hrn. -- -- am
Neckarsthor u. bei Hrn --

-- in der Neckarhalde, in
welche Ankündigungen aller
Art eingelegt werden können.
Diese Briefkästen werden je-
den Tag geleert.

[Ende Spaltensatz]
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 83. Freitag den 11. Juli. 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Louise Dalmar.

Jm Jahr 1831 wohnte in Marseille ein Ban-
kier Namens Granville, der seit einem Jahr mit
einem jungen Mädchen vermählt war, in deren
jugendlichen Zügen, obwohl sie kaum 20 Jahre
zählte, unverkennbarer Schmerz zu lesen war. --
Jhre Wangen hatten nicht mehr die rosige Farbe
der Jugend, ihre durchsichtig blauen Augen besaßen
einen Ausdruck von Milde und Sanftmuth, der sich
unmöglich beschreiben läßt, aber hob sie sie zum
Himmel empor, dann glich sie dem Bilde einer be-
tenden Heiligen. Die Umrisse ihres Gesichtes wa-
ren fein und graziös gezeichnet und wurden von
langen, blonden Locken umgeben, die leicht und
nachlässig auf ihren Hals herabfielen. Sie hieß
Louise. -- Jhre Lebensweise war einfach und regel-
mäßig. Den größten Theil des Tages beschäftigte
sie sich mit weiblichen Handarbeiten an ihrem Fen-
ster, dagegen ging sie fast regelmäßig im Sommer
des Abends, im Winter des Mittags mit ihrem
Gatten spazieren.

Es wurde Jedem, der beide zusammen sah,
schwer, sie als Ehegatten zu betrachten, sie so jung,
so schön, mit blonden Locken, welche der Wind unter
ihrem Strohhut hervorholte, und er, ein ehrwür-
diger Greis, der dreimal so alt war, als sie und
dessen kahler Scheitel kaum noch von einigen weißen
Haaren geschützt wurde. -- Aber die junge Frau
lächelte den Greis aus vollem Herzen an, bewies
ihm so zarte, fromme Sorgfalt, daß der, welcher
sie hätte beklagen wollen, vielleicht sehr unrecht da-
mit gekommen wäre. Wenn man sie so zusammen
sah, wie sich Louise sanft auf den Arm ihres Man-
nes stützte, dann schien der Vogel, der oben in der
freien Luft schwebte, nicht glücklicher, nicht freier
zu seyn, als sie.

Und dabei war der Theil ihres Lebens, den die
Welt nicht betrachten konnte, noch ruhiger und
glücklicher. Das Leben dieses Greises ging unge-
trübt an der Seite eines Engels einem sanften Ende
entgegen. So sah er sie auch oft dankbar an, oder
hörte ihr mit frommer Andacht zu, wenn sie mit
ihrer klangreichen Stimme das Abendgebet sprach,
und wenn sie zu Ende damit war, wenn sie sich
noch ganz begeistert, ganz strahlend erhob, dann
streckte er ihr seine beide Arme entgegen, und indem
[Spaltenumbruch] er ihr den Kuß eines Vaters auf die Stirne drückte,
sagte er:

„Weißt Du, Louise, daß die Jahre unbemerkt
dahinfließen, indem ich Dich sehe und höre, jeden
Tag danke ich dem Himmel, daß er mir am Ende
meines Lebens einen so großen Trost gegeben hat.“

Dann legte die junge Frau ihre Arme um den
Hals des Greises und während sie ihren Kopf kind-
lich auf seine Schultern legte, antwortete sie:

„Jch bin so glücklich, dem Manne mein ganzes
Leben widmen zu können, den ich vor Allem auf
der Welt liebe und achte, dem Wohlthäter, der
mir die Hand reichte, als er mich traurig und ver-
lassen sah, der mir so ruhigen und vernünftigen
Trost zusprach, daß sich die Thränen, wie durch
Zauber in meinen Augen trockneten, und Freude
und Ruhe wieder in mein Herz zurückkehrten.

So waren diese Beiden Vater und Tochter,
Frau und Mann; sie lebten still für sich allein, und
das Außenleben hatte nichts mit ihnen zu thun. --
Den Tag über war Hr. Granville in seinem Comp-
toir beschäftigt, um 5 Uhr, wenn das Mittagsbrod
vorüber war, schloß er sich noch eine Stund in sei-
nem Arbeitszimmer ein und dann verbrachte er den
Rest des Tages bei seiner jungen Frau.

Eines Abends begab sich Hr. Granville wider
seine Gewohnheit nicht in sein Kabinet, obgleich es
5 Uhr vorbei war; während der Mahlzeit war er
traurig und unruhig gewesen. -- Das Gesicht des
Bankiers war in der Regel zu heiter, zu ruhig, als
daß Louise die außergewöhnliche Bewegung, welche
sich in ihm aussprach, nicht hätte bemerken sollen.
Sie wurde dadurch beunruhigt, aber sie achtete das
Stillschweigen ihres Mannes, verbarg ihre Unruhe
und verdoppelte aus diesem Grunde ihre Sorgfalt
und Zärtlichkeit für ihn. Nur von Zeit zu Zeit ver-
ließen ihre Augen wider Willen die Arbeit, an wel-
cher sie beschäftigt war, und sie folgte mehr mit
Herzen, als mit den Blicken dieser ungewöhnlichen
Traurigkeit, welche die Stirn des Greises bedeckte.
Sie würde gerne zu ihm gegangen seyn, aber sie
wagte es nicht. So verging ungefähr eine halbe
Stunde, als sie plötzlich die Stimme ihres Mannes
hörte, der ihr das eine Wort: Louise! sagte.

Sie sprang schnell auf und warf ihre Stickerei
zu Boden, denn es lag für sie in dem Klange dieses
Wortes ein ganzer Gedanke. Es schien ihr als wenn
die Stimme, welche ihren Namen ausgesprochen, zu
gleicher Zeit gesagt hätte: Jch leide und rufe Dich,
damit Du mich tröstest. --     Forts. folgt.

[Ende Spaltensatz]
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Jm Jahr 1831 wohnte in Marseille ein Ban- kier Namens Granville, der seit einem Jahr mit einem jungen Mädchen vermählt war, in deren jugendlichen Zügen, obwohl sie kaum 20 Jahre zählte, unverkennbarer Schmerz zu lesen war. -- Jhre Wangen hatten nicht mehr die rosige Farbe der Jugend, ihre durchsichtig blauen Augen besaßen einen Ausdruck von Milde und Sanftmuth, der sich unmöglich beschreiben läßt, aber hob sie sie zum Himmel empor, dann glich sie dem Bilde einer be- tenden Heiligen. Die Umrisse ihres Gesichtes wa- ren fein und graziös gezeichnet und wurden von langen, blonden Locken umgeben, die leicht und nachlässig auf ihren Hals herabfielen. Sie hieß Louise. -- Jhre Lebensweise war einfach und regel- mäßig. Den größten Theil des Tages beschäftigte sie sich mit weiblichen Handarbeiten an ihrem Fen- ster, dagegen ging sie fast regelmäßig im Sommer des Abends, im Winter des Mittags mit ihrem Gatten spazieren. 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So waren diese Beiden Vater und Tochter, Frau und Mann; sie lebten still für sich allein, und das Außenleben hatte nichts mit ihnen zu thun. -- Den Tag über war Hr. Granville in seinem Comp- toir beschäftigt, um 5 Uhr, wenn das Mittagsbrod vorüber war, schloß er sich noch eine Stund in sei- nem Arbeitszimmer ein und dann verbrachte er den Rest des Tages bei seiner jungen Frau. Eines Abends begab sich Hr. Granville wider seine Gewohnheit nicht in sein Kabinet, obgleich es 5 Uhr vorbei war; während der Mahlzeit war er traurig und unruhig gewesen. -- Das Gesicht des Bankiers war in der Regel zu heiter, zu ruhig, als daß Louise die außergewöhnliche Bewegung, welche sich in ihm aussprach, nicht hätte bemerken sollen. Sie wurde dadurch beunruhigt, aber sie achtete das Stillschweigen ihres Mannes, verbarg ihre Unruhe und verdoppelte aus diesem Grunde ihre Sorgfalt und Zärtlichkeit für ihn. Nur von Zeit zu Zeit ver- ließen ihre Augen wider Willen die Arbeit, an wel- cher sie beschäftigt war, und sie folgte mehr mit Herzen, als mit den Blicken dieser ungewöhnlichen Traurigkeit, welche die Stirn des Greises bedeckte. Sie würde gerne zu ihm gegangen seyn, aber sie wagte es nicht. So verging ungefähr eine halbe Stunde, als sie plötzlich die Stimme ihres Mannes hörte, der ihr das eine Wort: Louise! sagte. Sie sprang schnell auf und warf ihre Stickerei zu Boden, denn es lag für sie in dem Klange dieses Wortes ein ganzer Gedanke. Es schien ihr als wenn die Stimme, welche ihren Namen ausgesprochen, zu gleicher Zeit gesagt hätte: Jch leide und rufe Dich, damit Du mich tröstest. -- Forts. folgt.

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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 83. [Tübingen (Württemberg)], 11. Juli 1845, S. [333]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik083_1845/1>, abgerufen am 15.05.2024.