Badener Zeitung. Nr. 38, Baden (Niederösterreich), 12.05.1909. Nr. 38 Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 [Spaltenumbruch] der wirtschaftliche Fortschritt, die Schule, Ungarischer Brauch! Das Ungarvolk, voll Temp'rament, Ist dann in seinem Element', Wenn der Zigeuner Czardas spielt, Die Tanzeslust wird aufgewühlt. Dann faßt die schöne Ungarin Die Wonne, die betört den Sinn, Der Ungar schreit sein "Eljen" laut, Der Tanzwut man sich anvertraut. Jedoch das End' der Tanzwut ist, Die man betreibt zu arg und wüst, Daß Ungarin, der Ungar auch Erschöpft finkt hin, so ist's mal Brauch. So geht's auch in der Politik, Sie fesselt mit dem stärksten Strick Das Ungarvolk an einen Tanz, Verhängnisvoller Resonanz. Erst sanft ertönt die Melodie, Von dennoch nöt'ger Harmonie, Dann macht jedoch ein Mißton sich Gar breit und peinigt fürchterlich. Von Banktrennung tönt etwas her, Sodann von einem eig'nen Heer, Daß nur im eig'nen Zollgebiet Der Segen sprießt und Heil erblüht. Der diplomatische Effekt Wird in den Vordergrund gesteckt, "Das Ungarwappen muß hervor", So tönt's zu laut in Oest'rreichs Ohr. So geht der Tanz an, wie verrückt, Verblendungswahn in's Sinnen drückt, Und jeder Mahnruf: "Seid doch klug", Gilt nur als Störung, als Betrug. [Spaltenumbruch] So tanzt der Ungar, holt sich oft, Ganz unerwartet, unverhofft Entzündungen, gar arg und schwer, Der Lunge, muß dann leiden sehr. Gar leicht der tolle Uebermut Entfacht Geschickes Zorn und Wut Und manches Dasein wird geknickt, Das hätt' Geschick sonst reich beglückt. So sollen diese Verslein hier, Ganz offen, frei und ohn' Gezier', Verkünden: "Ungar pass' gut auf, Verpatzt ist leicht der Lebenslauf! Hat's Euch der Czardas angetan, Ruft Oest'rreich zu Euch: Oft besann Ein Mensch im Dasein sich zu spät, Hat Leid sich statt -- Ersolg gesä't!" Kommunal-Zeitung. Unzukömmlichkeiten. Fortwährend laufen Sitzung der Kurkommission. Morgen Lokal-Nachrichten. -- Aerztliche Nachricht. Dr. Maximilian -- Hoher Besuch. Se. k. u. k. Hoheit der -- Promotion. Herr Franz Weinfurter -- Vor hundert Jahren. Am 13. Mai jährt [Spaltenumbruch] dem ersten trat oft noch die Zeichenkunst. Mit Stift Wie lieb, wie kostbar diese Schätze alle in ihrer Auch diese alte Sitte besteht nicht mehr oder Der Grund ihres Verfalles ist der gleiche wie Und wie ich dieses gewichtige Wort ausspreche, Wo findet man sich heutzutage mehr zusammen, War es unseren Vorfahren auch langweilig? Ich will allerdings eingestehen, daß auch ich In den ländlichen Kreisen war das Erzählen Einstmals waren ja keine Bahnen, die Fahr- An die Wundergeschichten schloß sich endlich die Der Anlaß zu den Abenderzählungen in den Nr. 38 Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 [Spaltenumbruch] der wirtſchaftliche Fortſchritt, die Schule, Ungariſcher Brauch! Das Ungarvolk, voll Temp’rament, Iſt dann in ſeinem Element’, Wenn der Zigeuner Czardas ſpielt, Die Tanzesluſt wird aufgewühlt. Dann faßt die ſchöne Ungarin Die Wonne, die betört den Sinn, Der Ungar ſchreit ſein „Eljen“ laut, Der Tanzwut man ſich anvertraut. Jedoch das End’ der Tanzwut iſt, Die man betreibt zu arg und wüſt, Daß Ungarin, der Ungar auch Erſchöpft finkt hin, ſo iſt’s mal Brauch. So geht’s auch in der Politik, Sie feſſelt mit dem ſtärkſten Strick Das Ungarvolk an einen Tanz, Verhängnisvoller Reſonanz. Erſt ſanft ertönt die Melodie, Von dennoch nöt’ger Harmonie, Dann macht jedoch ein Mißton ſich Gar breit und peinigt fürchterlich. Von Banktrennung tönt etwas her, Sodann von einem eig’nen Heer, Daß nur im eig’nen Zollgebiet Der Segen ſprießt und Heil erblüht. Der diplomatiſche Effekt Wird in den Vordergrund geſteckt, „Das Ungarwappen muß hervor“, So tönt’s zu laut in Oeſt’rreichs Ohr. So geht der Tanz an, wie verrückt, Verblendungswahn in’s Sinnen drückt, Und jeder Mahnruf: „Seid doch klug“, Gilt nur als Störung, als Betrug. [Spaltenumbruch] So tanzt der Ungar, holt ſich oft, Ganz unerwartet, unverhofft Entzündungen, gar arg und ſchwer, Der Lunge, muß dann leiden ſehr. Gar leicht der tolle Uebermut Entfacht Geſchickes Zorn und Wut Und manches Daſein wird geknickt, Das hätt’ Geſchick ſonſt reich beglückt. So ſollen dieſe Verslein hier, Ganz offen, frei und ohn’ Gezier’, Verkünden: „Ungar paſſ’ gut auf, Verpatzt iſt leicht der Lebenslauf! Hat’s Euch der Czardas angetan, Ruft Oeſt’rreich zu Euch: Oft beſann Ein Menſch im Daſein ſich zu ſpät, Hat Leid ſich ſtatt — Erſolg geſä’t!“ Kommunal-Zeitung. Unzukömmlichkeiten. Fortwährend laufen Sitzung der Kurkommiſſion. Morgen Lokal-Nachrichten. — Aerztliche Nachricht. Dr. Maximilian — Hoher Beſuch. Se. k. u. k. Hoheit der — Promotion. Herr Franz Weinfurter — Vor hundert Jahren. Am 13. Mai jährt [Spaltenumbruch] dem erſten trat oft noch die Zeichenkunſt. Mit Stift Wie lieb, wie koſtbar dieſe Schätze alle in ihrer Auch dieſe alte Sitte beſteht nicht mehr oder Der Grund ihres Verfalles iſt der gleiche wie Und wie ich dieſes gewichtige Wort ausſpreche, Wo findet man ſich heutzutage mehr zuſammen, War es unſeren Vorfahren auch langweilig? Ich will allerdings eingeſtehen, daß auch ich In den ländlichen Kreiſen war das Erzählen Einſtmals waren ja keine Bahnen, die Fahr- An die Wundergeſchichten ſchloß ſich endlich die Der Anlaß zu den Abenderzählungen in den <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0003" n="3"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">Nr. 38 Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909</hi> </hi> </fw><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div xml:id="jubiläum2" prev="#jubiläum1" type="jArticle" n="2"> <p>der wirtſchaftliche Fortſchritt, die Schule,<lb/> die Wiſſenſchaft. 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Die Zuleitungsröhren werden erſt jetzt<lb/> gelegt und vor dem Thereſienbade gähnen breite<lb/> Gräben, in deren einen am verfloſſenen Sonntag ein<lb/> Zweirad ſtürzte, nachdem der Tretreiter als bekannter<lb/> Turnmeiſter noch rechtzeitig rückwärts abgeſeſſen war.<lb/> Und erſt die Thereſiengaſſe! Vom alten Herzoghofe<lb/> ſteht noch eine unſchöne Wandſäule da und überall<lb/> liegt Sand und Schutt, daß ſogar Paſſanten gefährdet<lb/> werden. Dem hätte ſchon längſt abgeholfen werden<lb/> können und ſollen. Wir wiſſen auch, daß ſich Bau-<lb/> materialien nicht auf dem Dache aufſpeichern laſſen,<lb/> aber von der Straßenfreiheit einen ſo ungebührlich<lb/> ausgiebigen Gebrauch zu machen, wie es hier geſchieht,<lb/> iſt denn doch etwas zu weit gehend. Es iſt dann<lb/><cb/> auch ganz begreiflich, wenn Kurgäſte ſich entſchließen,<lb/> Baden wieder zu verlaſſen, bis es möglich ſein würde,<lb/> ohne Beläſtigung durch Staub und Unrat hier hauſen<lb/> zu können. Wenn es aber noch Leute gibt, welche<lb/> ſagen, es ſei noch nicht die <hi rendition="#aq">„haute saison“</hi> und ſich<lb/> damit tröſten, daß in Juli ſchon Ordnung eintreten<lb/> werde, ſo iſt das eine merkwürdige Geſchmacksrichtung,<lb/> die den Kurort mit ſchädigt. Auch der Uebergang<lb/> vom Theaterplatz zum Nebeneingange in den Park<lb/> läßt viel, läßt alles zu wünſchen übrig; denn er iſt<lb/> bis heute eines Kurortes ganz unwürdig. 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Infanterie-Regiment bei der „Schwarzen Lacke“<lb/> oder „Schwarzlackenau“ unſterbliche Verdienſte er-<lb/> worben hatte. Die „Heſſer“ feiern heuer mit der<lb/> Enthüllung des Heſſer-Denkmales die Vorkämpfe der<lb/> großen Schlacht bei Aſpern, in der die Gloriole der<lb/> Unbeſiegbarkeit des erſten Napoleon hinweggeblaſen<lb/> ward. Die Einleitung zum Rieſenkampfe, der ſich in<lb/> der Gegend von Aſpern abwickelte und den Franzoſen-<lb/> kaiſer zum Rückzuge zwang, war ſozuſagen das<lb/> blutige Ringen um die Lackeninſel gegenüber Jedleſee.<lb/> Napoleon wollte bei Nußdorf die Donau überſetzen,<lb/> um die im Anmarſch befindliche und noch nicht kampf-<lb/> bereite öſterreichiſche Armee zu überrumpeln oder<lb/> deren einzelne Armeekorps, zunächſt das Hiller’ſche,<lb/> aufzureiben. Unbemerkt von den Oeſterreichern, die<lb/> um den Süd- und Oſtrand des Biſamberges lagerten,</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div next="#briefe4" xml:id="briefe3" prev="#briefe2" type="jArticle" n="2"> <p>dem erſten trat oft noch die Zeichenkunſt. Mit Stift<lb/> und Pinſel vertraute Leute verzierten die Blätter mit<lb/> allerlei zierlichen Arabesken, Blumengewinden, ſon-<lb/> ſtigen bedeutungsvollen Motiven und ahnungsvollen<lb/> Farbenarrangements.</p><lb/> <p>Wie lieb, wie koſtbar dieſe Schätze alle in ihrer<lb/> Blütezeit ihren Beſitzern waren, kann ſich die jetzige<lb/> Welt, in der es keine Götter gibt, vielleicht gar<lb/> nicht mehr vorſtellen.</p><lb/> <p>Auch dieſe alte Sitte beſteht nicht mehr oder<lb/> nur in ganz vereinzelten Fällen in einer meiſt herab-<lb/> geſunkenen Form.</p><lb/> <p>Der Grund ihres Verfalles iſt der gleiche wie<lb/> der, welcher den Briefſtil verflachte: das Geſellig-<lb/> keitsleben iſt verſchwunden.</p><lb/> <p>Und wie ich dieſes gewichtige Wort ausſpreche,<lb/> komme ich auf den dritten Punkt meines Aufſatzes,<lb/> auf das Erzählen.</p><lb/> <p>Wo findet man ſich heutzutage mehr zuſammen,<lb/> um ſich gegenſeitig zu erzählen? Höchſtens in ganz<lb/> einſamen Landgegenden, unter ungebildeten Leuten —<lb/> vielleicht! Auch in die entfernteſten Winkel unſerer<lb/> deutſchen Heimat iſt ja bereits der neue Zeitgeiſt in<lb/> irgend einer Art gedrungen und ich glaube kaum,<lb/> daß noch viele Kreiſe beſtehen, in denen abends er-<lb/> zählt wird. Und die Gebildeten? Je nun, die würden<lb/> heute ſchön lachen, wenn ihnen einer zumutete, in<lb/> ihren Mußeſtunden eine ſo „kindiſche, dumme, lang-<lb/> weilige und unmoderne Unterhaltung“ zu ſuchen.<lb/> „Schade um die Zeit, die wir einem Sporte hätten<lb/> widmen können!“ würden ſie ſagen.</p><lb/> <p>War es unſeren Vorfahren auch langweilig?<lb/> Das Erzählen galt früher nicht nur in den ſchönſten<lb/> Bürgershäuſern, ſondern auch in den familiären<lb/> Kreiſen der hochgebildeten und Ariſtokraten als ein<lb/> beliebtes und überall gepflegtes Erholungsmittel. In<lb/> den Zirkeln unſerer klaſſiſchen Dichter wurde die<lb/> Sitte viel betrieben und ſie ſelbſt beteiligten ſich mit<lb/><cb/> Vorliebe dabei: Waren auch ſie deshalb etwa kindiſch<lb/> und dumm?</p><lb/> <p>Ich will allerdings eingeſtehen, daß auch ich<lb/> nicht zuhören möchte, wenn von meinen Bekannten<lb/> jemand die Luſt bekäme, den Hiſtörchenerzähler zu<lb/> ſpielen. Aber da muß eben bedacht werden, daß die<lb/> Leute von jetzt die Kunſt des Erzählens nicht mehr<lb/> bemeiſtern, unſere Vorfahren ſie aber ſehr oft in<lb/> hohem Grade innehatten.</p><lb/> <p>In den ländlichen Kreiſen war das Erzählen<lb/> ein Mittel, um die langen Winterabende abzukürzen,<lb/> teils auch um gewiſſe mechaniſche monotone Arbeiten<lb/> leichter und lieber zu vollenden. Die Spinnſtuben<lb/> können gar nicht genannt werden, ohne daß wir mit<lb/> ihrem Weſen uns auch den Begriff des Märchen-<lb/> erzählers oder der Märchenerzählerin vergegenwärtigten.<lb/> Eine zweite Arbeit, bei welcher man ſich immer die<lb/> Zeit auf die gleiche Art vertrieb, iſt das ſogenannte<lb/> Federnſchleißen.</p><lb/> <p>Einſtmals waren ja keine Bahnen, die Fahr-<lb/> ſtraßen im Winter vom Schnee verweht urd unſicher,<lb/> daher die Dörfer viel, viel einſamer als heute das<lb/> entfernteſte Gebirgsneſt. Wenn da die Tage kurz<lb/> wurden und die eiſige Kälte das Ausgehen unbequem<lb/> machten, dann war es Zeit, alle jene Verrichtungen<lb/> zu pflegen, für welche, ſo lange es in Feld und<lb/> Garten zu ſchaffen gab, keine Hand freiblieb. Der<lb/> Winter gehörte dem Hauſe, der Familie, der Freundſchaft.<lb/> Um den maſſiven Kachelofen herum in der großen<lb/> Wohnſtube vereinigte ſich der ſchlichte Kreis. Der<lb/> Hausvater, die Frau, die Burſchen und Mädchen,<lb/> aber auch die Knechte und Mägde; alles was dem<lb/> Hauſe angehörte und noch manches, das abends zu<lb/> Beſuch kam, um die Runde zu vergrößern. Die jungen<lb/> Leute arbeitend, ſcherzend, die Alten auch ein bißchen<lb/> tändelnd oder ruhend auf der Ofenbank. Ein patri-<lb/> archaliſches Bild. Manchmal gab es überhaupt kein<lb/> neues Ereignis und die alten Erinnerungen aus der<lb/><cb/> Jugend hatten die Großeltern und Eltern ſchon ſo<lb/> oft zum beſten gegeben, daß ſie jeder auswendig<lb/> kannte. Der ganze Bücherſchatz des Hauſes war die<lb/> Bibel, wenn es hoch ging, ein paar alte Flugſchriften.<lb/> Doch wer las ſie jetzt, wo man zugleich ſchaffen und<lb/> zu der einzigen Zeit, in welcher man beiſammen ſein<lb/> konnte, doch dem mündlichen Geſpräche das Recht<lb/> laſſen wollte? Da wurde nun zu dem uralten Mittel<lb/> gegriffen, zum Erzählen von Geſchichten. Das Märchen<lb/> ſpielte wohl in dieſem ländlichen Rahmen die Haupt-<lb/> rolle; ſeine Abart (vielleicht ſoll ich ſagen Aus-<lb/> artung?) war die gruſelige Geſpenſtergeſchichte, welche<lb/> man dummer Weiſe beſonders den Kindern auftiſchte.<lb/> Sehr häufig waren die Stoffe für ſolche Wunder-<lb/> geſchichtleins der Vergangenheit der jeweiligen Gegend<lb/> entnommen. Sie ſpielten auch in den nächſten Bergen<lb/> und Schlöſſern, waren urſprünglich tatſächlich ein<lb/> Krümmchen Wirklichkeit, welches unter der abergläu-<lb/> biſchen Menge von Mund zu Mund, von Generation<lb/> zu Generation getragen wurde, bis es ſchließlich ein<lb/> ausgeſchmücktes Wundermärchen wurde. Dieſe Abart<lb/> iſt die Sage, welche auf dem eben beſprochenen<lb/> Boden der Spinnſtuben und Landhütten ihre Ent-<lb/> ſtehung hat.</p><lb/> <p>An die Wundergeſchichten ſchloß ſich endlich die<lb/> naturwahre Erzählung.</p><lb/> <p>Der Anlaß zu den Abenderzählungen in den<lb/> Bürgershäuſern der Städte war in den früheſten<lb/> Zeiten allerdings derſelbe wie auf dem Lande. Aber<lb/> zu Großvaters Jugend, in dem eigentlichen ſchön-<lb/> geiſtigen, klaſſiſchen Zeitalter des deutſchen Volkes<lb/> war das Bedürfnis nach einer derartigen Unterhaltung<lb/> wohl nicht mehr allein durch die langweilige Ein-<lb/> ſamkeit, den Mangel an Büchern, durch ſchlechtes<lb/> Licht und ſeltene Beheizung erzeugt. In den gebil-<lb/> deten Ständen hielt man gerade damals ſehr viel<lb/> auf gute Handbibliotheken und man richtete ſich Stu-<lb/> dierſtuben ein, deren einfache Traulichkeit gewiß auch</p> </div> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [3/0003]
Nr. 38 Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909
der wirtſchaftliche Fortſchritt, die Schule,
die Wiſſenſchaft. Und darum iſt der 40jährige
ſchemengleiche Beſtand des Reichsvolksſchul-
geſetzes für uns kein Freudenjubiläum, ſondern
ein Anlaß zur Trauer über ver-
ſunkene Hoffnungsinſeln, eine Auf-
forderung zum Proteſte wider das
krumme Rückgrat vergangener Re-
gierungsepiſoden, eine Gelegenheit
zur muſternden Heerſchau im Abge-
ordnetenhaus, in den eigenen Reihen
und ein flammender Aufruf zur
Einigung aller jener, die noch Mut
und Begeiſterung im Herzen tragen.
Ungariſcher Brauch!
Das Ungarvolk, voll Temp’rament,
Iſt dann in ſeinem Element’,
Wenn der Zigeuner Czardas ſpielt,
Die Tanzesluſt wird aufgewühlt.
Dann faßt die ſchöne Ungarin
Die Wonne, die betört den Sinn,
Der Ungar ſchreit ſein „Eljen“ laut,
Der Tanzwut man ſich anvertraut.
Jedoch das End’ der Tanzwut iſt,
Die man betreibt zu arg und wüſt,
Daß Ungarin, der Ungar auch
Erſchöpft finkt hin, ſo iſt’s mal Brauch.
So geht’s auch in der Politik,
Sie feſſelt mit dem ſtärkſten Strick
Das Ungarvolk an einen Tanz,
Verhängnisvoller Reſonanz.
Erſt ſanft ertönt die Melodie,
Von dennoch nöt’ger Harmonie,
Dann macht jedoch ein Mißton ſich
Gar breit und peinigt fürchterlich.
Von Banktrennung tönt etwas her,
Sodann von einem eig’nen Heer,
Daß nur im eig’nen Zollgebiet
Der Segen ſprießt und Heil erblüht.
Der diplomatiſche Effekt
Wird in den Vordergrund geſteckt,
„Das Ungarwappen muß hervor“,
So tönt’s zu laut in Oeſt’rreichs Ohr.
So geht der Tanz an, wie verrückt,
Verblendungswahn in’s Sinnen drückt,
Und jeder Mahnruf: „Seid doch klug“,
Gilt nur als Störung, als Betrug.
So tanzt der Ungar, holt ſich oft,
Ganz unerwartet, unverhofft
Entzündungen, gar arg und ſchwer,
Der Lunge, muß dann leiden ſehr.
Gar leicht der tolle Uebermut
Entfacht Geſchickes Zorn und Wut
Und manches Daſein wird geknickt,
Das hätt’ Geſchick ſonſt reich beglückt.
So ſollen dieſe Verslein hier,
Ganz offen, frei und ohn’ Gezier’,
Verkünden: „Ungar paſſ’ gut auf,
Verpatzt iſt leicht der Lebenslauf!
Hat’s Euch der Czardas angetan,
Ruft Oeſt’rreich zu Euch: Oft beſann
Ein Menſch im Daſein ſich zu ſpät,
Hat Leid ſich ſtatt — Erſolg geſä’t!“
Alfred Pollak.
Kommunal-Zeitung.
Unzukömmlichkeiten. Fortwährend laufen
Klagen ein, daß Baden dieſes Jahr in einem deſolaten
Zuſtande ſei und daß an allen Ecken und Enden
ganz unnotwendige Verkehrshinderniſſe finde. Allge-
mein iſt die Meinung der „Saiſoniſteu“, daß die
machthabenden Faktoren des Kurortes dafür verant-
wortlich zu machen ſeien, daß ſich gerade im Rayon
der Hauptbäder und des Stadtparkes nicht alles in
einem Zuſtande befinde, wie ihn die Kurgäſte zu ver-
langen berechtigt wären. Die Klagen ſind leider nicht
Querulantengeſchwätz. Vom Theaterbau abgeſehen, um
den herum auch noch viel unnötiges Zeug der eheſten
Hinausbeförderung harrt — wie ſieht es vor der
ſtädtiſchen Heilanſtalt aus, wo die glückbringende
Terraſſe oder Veranda gebaut wird. Anderswo
ſtellt man ein ſolches Ding in einer Woche her, in
Baden brauchte man Monate zum Entſchluß und weitere
Wochen zur Errichtung der Ziegelpfeiler. Aehnlich iſt
es beim Undinebrunnen und beim Urſprung, vor dem
Kurhauſe. Die Zuleitungsröhren werden erſt jetzt
gelegt und vor dem Thereſienbade gähnen breite
Gräben, in deren einen am verfloſſenen Sonntag ein
Zweirad ſtürzte, nachdem der Tretreiter als bekannter
Turnmeiſter noch rechtzeitig rückwärts abgeſeſſen war.
Und erſt die Thereſiengaſſe! Vom alten Herzoghofe
ſteht noch eine unſchöne Wandſäule da und überall
liegt Sand und Schutt, daß ſogar Paſſanten gefährdet
werden. Dem hätte ſchon längſt abgeholfen werden
können und ſollen. Wir wiſſen auch, daß ſich Bau-
materialien nicht auf dem Dache aufſpeichern laſſen,
aber von der Straßenfreiheit einen ſo ungebührlich
ausgiebigen Gebrauch zu machen, wie es hier geſchieht,
iſt denn doch etwas zu weit gehend. Es iſt dann
auch ganz begreiflich, wenn Kurgäſte ſich entſchließen,
Baden wieder zu verlaſſen, bis es möglich ſein würde,
ohne Beläſtigung durch Staub und Unrat hier hauſen
zu können. Wenn es aber noch Leute gibt, welche
ſagen, es ſei noch nicht die „haute saison“ und ſich
damit tröſten, daß in Juli ſchon Ordnung eintreten
werde, ſo iſt das eine merkwürdige Geſchmacksrichtung,
die den Kurort mit ſchädigt. Auch der Uebergang
vom Theaterplatz zum Nebeneingange in den Park
läßt viel, läßt alles zu wünſchen übrig; denn er iſt
bis heute eines Kurortes ganz unwürdig. Wann ſoll
es in Baden anno 1909 beſſer werden?
Sitzung der Kurkommiſſion. Morgen
Donnerstag ſoll eine Sitzung der Kurkommiſſion ſtatt-
finden, in welcher der Gebarungsausweis beraten und
die Frage wegen des Beitrages zur Penſionsverſiche-
rung der Mitglieder der Kurkapelle beſprochen werden ſoll.
Lokal-Nachrichten.
— Aerztliche Nachricht. Dr. Maximilian
Fuchs hat ſeine kurärztliche Tätigkeit in Baden bei
Wien wieder aufgenommen und ordiniert wie in
früheren Jahren Renngaſſe Nr. 6.
— Hoher Beſuch. Se. k. u. k. Hoheit der
Herr Erzherzog Ferdinand Karl zeichnete am
8. d. M. das Atelier des k. u. k. Hof- und erherzog-
lichen Kammerphotographen Fritz Knozer (Weilburg-
ſtraße 4a) mit ſeinem hohen Beſuche aus und ließ
ſich daſelbſt in mehreren Stellungen photographieren.
— Promotion. Herr Franz Weinfurter
wurde vergangenen Montag an der Wiener Univer-
ſität zum Doktor der geſamten Heilkunde promoviert.
Sein Vater iſt Meiſter in der Vöslauer Kammgarn-
fabrik und erfreut ſich der Wertſchätzung aller, die
ihn kennen.
— Vor hundert Jahren. Am 13. Mai jährt
ſich zum hundertſtenmale der Tag, an dem ſich das
49. Infanterie-Regiment bei der „Schwarzen Lacke“
oder „Schwarzlackenau“ unſterbliche Verdienſte er-
worben hatte. Die „Heſſer“ feiern heuer mit der
Enthüllung des Heſſer-Denkmales die Vorkämpfe der
großen Schlacht bei Aſpern, in der die Gloriole der
Unbeſiegbarkeit des erſten Napoleon hinweggeblaſen
ward. Die Einleitung zum Rieſenkampfe, der ſich in
der Gegend von Aſpern abwickelte und den Franzoſen-
kaiſer zum Rückzuge zwang, war ſozuſagen das
blutige Ringen um die Lackeninſel gegenüber Jedleſee.
Napoleon wollte bei Nußdorf die Donau überſetzen,
um die im Anmarſch befindliche und noch nicht kampf-
bereite öſterreichiſche Armee zu überrumpeln oder
deren einzelne Armeekorps, zunächſt das Hiller’ſche,
aufzureiben. Unbemerkt von den Oeſterreichern, die
um den Süd- und Oſtrand des Biſamberges lagerten,
dem erſten trat oft noch die Zeichenkunſt. Mit Stift
und Pinſel vertraute Leute verzierten die Blätter mit
allerlei zierlichen Arabesken, Blumengewinden, ſon-
ſtigen bedeutungsvollen Motiven und ahnungsvollen
Farbenarrangements.
Wie lieb, wie koſtbar dieſe Schätze alle in ihrer
Blütezeit ihren Beſitzern waren, kann ſich die jetzige
Welt, in der es keine Götter gibt, vielleicht gar
nicht mehr vorſtellen.
Auch dieſe alte Sitte beſteht nicht mehr oder
nur in ganz vereinzelten Fällen in einer meiſt herab-
geſunkenen Form.
Der Grund ihres Verfalles iſt der gleiche wie
der, welcher den Briefſtil verflachte: das Geſellig-
keitsleben iſt verſchwunden.
Und wie ich dieſes gewichtige Wort ausſpreche,
komme ich auf den dritten Punkt meines Aufſatzes,
auf das Erzählen.
Wo findet man ſich heutzutage mehr zuſammen,
um ſich gegenſeitig zu erzählen? Höchſtens in ganz
einſamen Landgegenden, unter ungebildeten Leuten —
vielleicht! Auch in die entfernteſten Winkel unſerer
deutſchen Heimat iſt ja bereits der neue Zeitgeiſt in
irgend einer Art gedrungen und ich glaube kaum,
daß noch viele Kreiſe beſtehen, in denen abends er-
zählt wird. Und die Gebildeten? Je nun, die würden
heute ſchön lachen, wenn ihnen einer zumutete, in
ihren Mußeſtunden eine ſo „kindiſche, dumme, lang-
weilige und unmoderne Unterhaltung“ zu ſuchen.
„Schade um die Zeit, die wir einem Sporte hätten
widmen können!“ würden ſie ſagen.
War es unſeren Vorfahren auch langweilig?
Das Erzählen galt früher nicht nur in den ſchönſten
Bürgershäuſern, ſondern auch in den familiären
Kreiſen der hochgebildeten und Ariſtokraten als ein
beliebtes und überall gepflegtes Erholungsmittel. In
den Zirkeln unſerer klaſſiſchen Dichter wurde die
Sitte viel betrieben und ſie ſelbſt beteiligten ſich mit
Vorliebe dabei: Waren auch ſie deshalb etwa kindiſch
und dumm?
Ich will allerdings eingeſtehen, daß auch ich
nicht zuhören möchte, wenn von meinen Bekannten
jemand die Luſt bekäme, den Hiſtörchenerzähler zu
ſpielen. Aber da muß eben bedacht werden, daß die
Leute von jetzt die Kunſt des Erzählens nicht mehr
bemeiſtern, unſere Vorfahren ſie aber ſehr oft in
hohem Grade innehatten.
In den ländlichen Kreiſen war das Erzählen
ein Mittel, um die langen Winterabende abzukürzen,
teils auch um gewiſſe mechaniſche monotone Arbeiten
leichter und lieber zu vollenden. Die Spinnſtuben
können gar nicht genannt werden, ohne daß wir mit
ihrem Weſen uns auch den Begriff des Märchen-
erzählers oder der Märchenerzählerin vergegenwärtigten.
Eine zweite Arbeit, bei welcher man ſich immer die
Zeit auf die gleiche Art vertrieb, iſt das ſogenannte
Federnſchleißen.
Einſtmals waren ja keine Bahnen, die Fahr-
ſtraßen im Winter vom Schnee verweht urd unſicher,
daher die Dörfer viel, viel einſamer als heute das
entfernteſte Gebirgsneſt. Wenn da die Tage kurz
wurden und die eiſige Kälte das Ausgehen unbequem
machten, dann war es Zeit, alle jene Verrichtungen
zu pflegen, für welche, ſo lange es in Feld und
Garten zu ſchaffen gab, keine Hand freiblieb. Der
Winter gehörte dem Hauſe, der Familie, der Freundſchaft.
Um den maſſiven Kachelofen herum in der großen
Wohnſtube vereinigte ſich der ſchlichte Kreis. Der
Hausvater, die Frau, die Burſchen und Mädchen,
aber auch die Knechte und Mägde; alles was dem
Hauſe angehörte und noch manches, das abends zu
Beſuch kam, um die Runde zu vergrößern. Die jungen
Leute arbeitend, ſcherzend, die Alten auch ein bißchen
tändelnd oder ruhend auf der Ofenbank. Ein patri-
archaliſches Bild. Manchmal gab es überhaupt kein
neues Ereignis und die alten Erinnerungen aus der
Jugend hatten die Großeltern und Eltern ſchon ſo
oft zum beſten gegeben, daß ſie jeder auswendig
kannte. Der ganze Bücherſchatz des Hauſes war die
Bibel, wenn es hoch ging, ein paar alte Flugſchriften.
Doch wer las ſie jetzt, wo man zugleich ſchaffen und
zu der einzigen Zeit, in welcher man beiſammen ſein
konnte, doch dem mündlichen Geſpräche das Recht
laſſen wollte? Da wurde nun zu dem uralten Mittel
gegriffen, zum Erzählen von Geſchichten. Das Märchen
ſpielte wohl in dieſem ländlichen Rahmen die Haupt-
rolle; ſeine Abart (vielleicht ſoll ich ſagen Aus-
artung?) war die gruſelige Geſpenſtergeſchichte, welche
man dummer Weiſe beſonders den Kindern auftiſchte.
Sehr häufig waren die Stoffe für ſolche Wunder-
geſchichtleins der Vergangenheit der jeweiligen Gegend
entnommen. Sie ſpielten auch in den nächſten Bergen
und Schlöſſern, waren urſprünglich tatſächlich ein
Krümmchen Wirklichkeit, welches unter der abergläu-
biſchen Menge von Mund zu Mund, von Generation
zu Generation getragen wurde, bis es ſchließlich ein
ausgeſchmücktes Wundermärchen wurde. Dieſe Abart
iſt die Sage, welche auf dem eben beſprochenen
Boden der Spinnſtuben und Landhütten ihre Ent-
ſtehung hat.
An die Wundergeſchichten ſchloß ſich endlich die
naturwahre Erzählung.
Der Anlaß zu den Abenderzählungen in den
Bürgershäuſern der Städte war in den früheſten
Zeiten allerdings derſelbe wie auf dem Lande. Aber
zu Großvaters Jugend, in dem eigentlichen ſchön-
geiſtigen, klaſſiſchen Zeitalter des deutſchen Volkes
war das Bedürfnis nach einer derartigen Unterhaltung
wohl nicht mehr allein durch die langweilige Ein-
ſamkeit, den Mangel an Büchern, durch ſchlechtes
Licht und ſeltene Beheizung erzeugt. In den gebil-
deten Ständen hielt man gerade damals ſehr viel
auf gute Handbibliotheken und man richtete ſich Stu-
dierſtuben ein, deren einfache Traulichkeit gewiß auch
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