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Badener Zeitung. Nr. 5, Baden (Niederösterreich), 15.01.1908.

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Nr. 5. Mittwoch Badener Zeitung. 15. Jänner 1908.

[Spaltenumbruch]

sprache und ihre bis zur Peinlichkeit geübte
Anwendung in allen privaten und staatlichen
Aemtern, Schulen und Kirchen, das dehnbare
Wahlgesetz zur Volksvertretung, das
Ortsnamengesetz, das Militär, die
Magyarisierungsvereine, die staatlich
begünstigte Industriebewegung, die
deutschgeschriebene magyarenfreund-
liche Presse,
die wirtschaftliche Not
und als Unikum ein Gesetzesparagraph
"Aufreizung gegen die magyarische
Nation".

Nichts wurde den Nationalitäten mit
Hinterhältigkeiten mehr abgerungen als die
magyarische Staatssprache.

Mit einer Genauigkeit, die ihresgleichen
sucht, wacht nun Behörde auf Behörde über
den alleinigen Gebrauch der magyarischen
Sprache in allen staatlichen Aemtern, um
dadurch den Nationalitäten die Anschauung
abzuringen, es sei doch notwendig magyarisch
zu lernen.

Keine oder grobe Antworten auf deutsche
Fragen, je nach dem Aeußern des Bittstellers,
erhält man bei ungarischen Steuerämtern,
Eisenbahnen, Postanstalten, Gerichten, Sicher-
heitsanstalten (Gendarmerie und Polizei) und
Notarkanzleien. Alle Kundgebungen dieser,
wie Vorladungen, Krankheitsanzeigen selbst
epidemischen Charakters, Eisenbahnfahrpläne
n. a., erfolgen im deutschen Sprachgebiete
nur in der unverständlichen magyarischen
Sprache, ja auch alle Weg- und selbst War-
nungstaseln bei lebensgefährlichen Stellen.

In nicht wiederzugebenden Ausdrücken
werden deutsche Bauern vonseite magyarischer
Beamten beflegelt, nur weil sie diese "Welt-
sprache" nicht kennen. Ein Beschwerderecht
steht diesen deshalb nicht zu, da sie des
Magyarischen nicht mächtig sind und Be-
schwerden nur in dieser Sprache entgegen-
genommen werden. So erliegt eine deutsche
Beschwerde über ein Verbrechen vonseite eines
Notares noch heute in St. Gotthardt ohne
Erledigung, obgleich die Anzeige von mir vor
[Spaltenumbruch] drei Jahren gemacht wurde. Selbstverständlich
amtiert dieser Herr noch weiter.

Ebenso verlangt man von den Geschwo-
renen bei Gerichten die Kenntnis der Staats-
sprache in Schrift und Wort. Der nationale
Wahnsinn geht so weit, dem Angeklagten die
Verteidigung in seiner Muttersprache durch
erzwungene Verständnislosigkeit indirekt zu
verbieten. Es gehört demnach nicht zur Sel-
tenheit, daß ganz und gar unschuldige Menschen
durch diese seltsame Rechtspflege, deren sich
selbst innerafrikanische Völker schämen würden,
nicht nur der Freiheit für Monate und Jahre
beraubt werden.

Dabei ist die Bildung dieser Beamten
trotz ihrer Universitätsstudien äußerst kläglich.
So wurde ich bei meiner zweiten Verhaftung
in St. Gotthardt vom Oberstuhlrichter bei
meiner Angabe, ich fahre mit der Bahn über
Oderberg nach Posen, mit dem Hinweise
unterbrochen, daß man doch mit dem Schiff
von Oderberg nach Posen reisen könne.

Auch die Post muß für diesen "freiheits-
liebenden" Staat herhalten. Seltsamer Weise
kennt sie kein Preßburg, Oedenburg u. a.
und unter Umständen schickt sie solche Sen-
dungen als "unbestellbar" zurück.

Selbst auf private Anstalten, wie Ver-
sicherungsgesellschaften, Banken u. a. wird der
Druck ausgeübt magyarisch zu amtieren, was
ja auch in der Regel geschieht.

Unglaubliches geradezu erlebt man mit
der von ungarischen Wahlen her weltbekannten
ungarischen Gendarmerie, einer Elitetruppe
ersten Ranges. Ich selbst hatte das Ver-
gnügen, die Intelligenz dieser Behörde kennen
zu lernen. So wurde ich bei meiner ersten
Verhaftung im Weißbrunner Komitate gefragt:
"Warum reisen Sie zum Vergnügen, da das
Reisen doch Geld kostet?" "Warum reisen
Sie in einer so bösen Zeit?" uff. Ein köst-
liches Beispiel: Die Bürger von Szentmihaly
bei Temesvar erhielten auf Anmeldung einer
Wählerversammlung vom Oberstuhlrichter
folgenden Bescheid: "Es ist nicht notwendig,
die politischen und wirtschaftlichen Fragen
[Spaltenumbruch] zum Gegenstande einer Versammlung zu
machen, denn die gegenwärtige Regierung
leitet diese Angelegenheit in zufriedenstellender
Weise."

Daß durch solche Schikanen der von Natur
ohnehin ruhige deutsche Bauer gezwungen
wird, die ihm in einer unverständlichen Sprache
aufgebotene Steuer, die widerrechtlich erfolgte
Eröffnung eines Briefes, die Verurteilung zu
irgend einer Strafe, die Beschimpfung durch
öffentlich angestellte Beamte zu ertragen, ist
wohl nur zu leicht erklärlich.

Die verderbliche Tätigkeit auf dem Ge-
biete des Volksschulwesens zeigt zur
Genüge folgende Tabelle:




Jahrrein
magyarische
magyarische
und deutsche
rein deutsche
Schulen in Ungarn
1872??1810
18777024?1141
1879??953
1880??867
188577531051701
18908649877657
18959903797462
189810173806387

Im Jahre 1905 gab es gegenüber 14.008
magyarischen Schulen 2142 Schulen der
Nationalitäten, obgleich in diesem Jahre nur
52·9% Kinder magyarischer Muttersprache
waren.




(Schluß folgt.)

Versammlung der "Südmark"
in Leobersdorf.

Die im September v. J. gegründete Ortsgruppe
Leobersdorf des Vereines "Südmark" hielt am Don-
nerstag, den 9. Jänner, eine Versammlung im Gast-
hause "zum schwarzen Adler" ab, in welcher der
Wanderlehrer des Vereines, Herr Schneider aus
Graz, sprach. Der Erfolg der Versammlung war ein
großartiger. Bauern und Gewerbetreibende, Arbeiter
und Beamte, und auch Vertreter der besitzenden
Klasse waren vertreten, um den Ausführungen des
Redners mit Aufmerksamkeit zu lauschen.

Als der Vortragende nach einer schwungvoll
angelegten Rede von stündiger Dauer schloß, da




[Spaltenumbruch]

so liebes Bild! Wer hatte da hineingezeichnet? Helene
beugte sich tief über Käthchen nnd zupfte die Löckchen
unter der roten Kappe zurecht, um ihrer tiefen Be-
wegung Herr zu werden. Dann reichte sie Franz von
Scholten herzlich die Hand: "Ich freue mich sehr,
Sie nach langen Jahren wiederzusehen" und einem
plötzlichen Gedankengang folgend: "Lebt Ihre Mutter
noch?"

"Danke sehr, Gnädigste, sie ist noch rüstig".

"Sie leben bei ihr? Oder sind Sie auch ver-
heiratet?"

"Ach nein, weder das eine noch das andere. Ich
bin ein alter Junggeselle und da -- Sie verstehen,
Gnädigste, daß jeder für sich leben muß. Aber ich
sehe sie natürlich häufig. Wundere mich nur, daß ich
die gnädige Frau so lange nicht gesehen habe. Ich
bin seit vier Jahren hier als Regierungsrat. Es ist
ja angenehm für Mama, mich doch auch in Wien
zu wissen. Ihre Töchter. Gnädigste?"

"Dies und dort und dort -- das sind alle
meine Kinder". Helene sagte es nicht ohne Mutter-
stolz, dann aber sah sie wieder tiefernst auf das
schmale, verlebte Gesicht vor ihr, und sie dachte an
zwei junge Menschenkinder, die eine alte Frau einst
durchaus trennen wollte und getrennt hatte. Und sie
dachte an die heimlichen Kämpfe ihres jungen, stolzen
Herzens.

Und nun wußte sie es ganz genau -- es war
ganz umsonst gewesen das Opfer, das sie einst ge-
bracht, seine Mutter hatte ihn wohl viel, viel mehr
verloren.

Der Regierungsrat hatte sich inzwischen mit
einigen höflichen Phrasen entfernt. Er konnte nicht
lange auf einer Stelle stehen, ohne kalte Füße zu
bekommen, die ihm dann gleich einen unangenehmen
Nervenschmerz bereiteten. Er hatte ihr das Wesen
dieses Schmerzes genau geschildert und entfernte sich
[Spaltenumbruch] nun, indem er die Hoffnung aussprach, die so un-
vermutet wiedergefundene Jugendfreundin noch öfter
hier zu sehen.

Käthe und Grete beanspruchten Mutter Helene
indessen nach Möglichkeit. Die müde gewordenen
Beinchen wollten nicht mehr auf den unsicheren Stahl-
schuhen gleiten. Max und Willi mußten herbeigerufen
werden, um die Schwesterchen in einen Stuhlschlitten
zu setzen und spazieren zu fahren.

Nun war Helene freier und begann selbst in
größeren Bogen über das Eis zu kreisen. Da beob-
achtete sie dann ihren alten Verehrer, der einst so
schöne Achter mit ihr geübt. Er schien sich auch noch
einmal jung fühlen zu wollen, aber das schöne
Gleichgewicht der Referendarzeit war doch ins
Schwanken gekommen. Das Biegen und Wiegen ging
nicht ganz so kühn wie einst, und allzu gerade neigte
sich die Gestalt nach hinten über. Er lief eigentlich
bureaukratisch. Helene erinnerte sich, daß sie im Tier-
garten oft amusante Studien an den Reitern ge-
trieben. Der eine zuckte am Zügel, als führe er die
Feder und saß auf dem Sattel wie auf dem Schreib-
bock, der andere trat immerfort in die Bügel, als
müsse er Treppen ersteigen, und Helene hatte immer
behauptet, es sei ihr Spezialstudium, die einzeinen
Berufe der Reiter an ihrer Haltung zu erkennen.
Hier nun begann sie unwillkürlich den Regierungs-
rat auf seine bureaukratischen Bewegungen hin zu
studieren. Er wiederum, als er sich beobachtet fühlte,
setzte mit doppelter Kraft zu prächtigem Bogen ein,
aber ach -- er setzte nicht ein, wie etwa der junge
Referendar dort in der Seecke, der ihr wie ein
Spiegelbild aus jungen Jahren schien, mit leicht ge-
neigter Schulterbewegung, sondern mit jener geraden
Haltung, mit der er etwa am Bureautische eine
Regierungsvorlage zu stützen hätte. So folgte denn,
eben durch diese gerade Haltung, ein kleiner Rück-
schlag, der sogleich die ganze Gestalt ins Wanken
[Spaltenumbruch] brachte und auf jeden Fall die Glorie des stolzen
Bogens in einige Zickzackwendungen auflöste.

Leise lächelnd setzte nun Helene ihrerseits zum
kräftigen Stoße an -- ach, auch dieser Stoß war
uuendlich heftiger als Noras anmutige Bogen, und
ihre königliche Frauengestalt sauste mit solcher Wucht
und Gewalt über die Seefläche dahin, daß Hans und
Walter, die eben an ihr vorbeiliefen, ganz achtungs-
voll bemerkten: "Nun sieh mal unsere alte Dame
an!" Helene hatte es gerade noch gehört. Nun, vom
weiten Bogen zurücklehrend, stieß sie fast den ihr ent-
gegensteuernden Regierungsrat um, der, durch die
einbrechende Dunkelheit an die fernen Zeiten ge-
mahnt, die sie beide hier auf dem neuen See ver-
lebt hatten, ein längeres Gespräch mit ihr anknüpfen
wollte.

Ach! Helenes Gedanken waren jetzt mehr bei
Nora, die herbeizurufen war -- sie kam mit leuchtenden
Augen und brennenden Wangen, rosig und jung --
und bei Käthe und Grete, die nicht im Abendnebel
sich erkälten sollten, bei den Buben, denen der Heim-
weg zu früh schien. So stand sie im Dämmerlicht
zwischen ihren blühenden Sieben, und grau und
einsam schien ihr plötzlich der eine dazustehen, der
von ihrer Jugendzeit und seiner Jugendzeit sprach.

"Ja, ja", sagte sie zerstreut und eilig und
drückte ihm im Fortgehen flüchtig die Hand, "so
vergehen die Jahre und die Jugend, und auch die
Grazie".

"Oh, Gnädigste, ich komme mir noch ganz jung
vor, und Sie --"

"Ganz unverändert", nickte Helene mit ver-
haltenem Lächeln. Im Stillen aber dachte sie: Gut,
daß meine Jugend um mich her lebendig geworden
ist. Und so schritt sie mit ihren Kindern heim durch
den froststillen Tiergarten.




Nr. 5. Mittwoch Badener Zeitung. 15. Jänner 1908.

[Spaltenumbruch]

ſprache und ihre bis zur Peinlichkeit geübte
Anwendung in allen privaten und ſtaatlichen
Aemtern, Schulen und Kirchen, das dehnbare
Wahlgeſetz zur Volksvertretung, das
Ortsnamengeſetz, das Militär, die
Magyariſierungsvereine, die ſtaatlich
begünſtigte Induſtriebewegung, die
deutſchgeſchriebene magyarenfreund-
liche Preſſe,
die wirtſchaftliche Not
und als Unikum ein Geſetzesparagraph
„Aufreizung gegen die magyariſche
Nation“.

Nichts wurde den Nationalitäten mit
Hinterhältigkeiten mehr abgerungen als die
magyariſche Staatsſprache.

Mit einer Genauigkeit, die ihresgleichen
ſucht, wacht nun Behörde auf Behörde über
den alleinigen Gebrauch der magyariſchen
Sprache in allen ſtaatlichen Aemtern, um
dadurch den Nationalitäten die Anſchauung
abzuringen, es ſei doch notwendig magyariſch
zu lernen.

Keine oder grobe Antworten auf deutſche
Fragen, je nach dem Aeußern des Bittſtellers,
erhält man bei ungariſchen Steuerämtern,
Eiſenbahnen, Poſtanſtalten, Gerichten, Sicher-
heitsanſtalten (Gendarmerie und Polizei) und
Notarkanzleien. Alle Kundgebungen dieſer,
wie Vorladungen, Krankheitsanzeigen ſelbſt
epidemiſchen Charakters, Eiſenbahnfahrpläne
n. a., erfolgen im deutſchen Sprachgebiete
nur in der unverſtändlichen magyariſchen
Sprache, ja auch alle Weg- und ſelbſt War-
nungstaſeln bei lebensgefährlichen Stellen.

In nicht wiederzugebenden Ausdrücken
werden deutſche Bauern vonſeite magyariſcher
Beamten beflegelt, nur weil ſie dieſe „Welt-
ſprache“ nicht kennen. Ein Beſchwerderecht
ſteht dieſen deshalb nicht zu, da ſie des
Magyariſchen nicht mächtig ſind und Be-
ſchwerden nur in dieſer Sprache entgegen-
genommen werden. So erliegt eine deutſche
Beſchwerde über ein Verbrechen vonſeite eines
Notares noch heute in St. Gotthardt ohne
Erledigung, obgleich die Anzeige von mir vor
[Spaltenumbruch] drei Jahren gemacht wurde. Selbſtverſtändlich
amtiert dieſer Herr noch weiter.

Ebenſo verlangt man von den Geſchwo-
renen bei Gerichten die Kenntnis der Staats-
ſprache in Schrift und Wort. Der nationale
Wahnſinn geht ſo weit, dem Angeklagten die
Verteidigung in ſeiner Mutterſprache durch
erzwungene Verſtändnisloſigkeit indirekt zu
verbieten. Es gehört demnach nicht zur Sel-
tenheit, daß ganz und gar unſchuldige Menſchen
durch dieſe ſeltſame Rechtspflege, deren ſich
ſelbſt innerafrikaniſche Völker ſchämen würden,
nicht nur der Freiheit für Monate und Jahre
beraubt werden.

Dabei iſt die Bildung dieſer Beamten
trotz ihrer Univerſitätsſtudien äußerſt kläglich.
So wurde ich bei meiner zweiten Verhaftung
in St. Gotthardt vom Oberſtuhlrichter bei
meiner Angabe, ich fahre mit der Bahn über
Oderberg nach Poſen, mit dem Hinweiſe
unterbrochen, daß man doch mit dem Schiff
von Oderberg nach Poſen reiſen könne.

Auch die Poſt muß für dieſen „freiheits-
liebenden“ Staat herhalten. Seltſamer Weiſe
kennt ſie kein Preßburg, Oedenburg u. a.
und unter Umſtänden ſchickt ſie ſolche Sen-
dungen als „unbeſtellbar“ zurück.

Selbſt auf private Anſtalten, wie Ver-
ſicherungsgeſellſchaften, Banken u. a. wird der
Druck ausgeübt magyariſch zu amtieren, was
ja auch in der Regel geſchieht.

Unglaubliches geradezu erlebt man mit
der von ungariſchen Wahlen her weltbekannten
ungariſchen Gendarmerie, einer Elitetruppe
erſten Ranges. Ich ſelbſt hatte das Ver-
gnügen, die Intelligenz dieſer Behörde kennen
zu lernen. So wurde ich bei meiner erſten
Verhaftung im Weißbrunner Komitate gefragt:
„Warum reiſen Sie zum Vergnügen, da das
Reiſen doch Geld koſtet?“ „Warum reiſen
Sie in einer ſo böſen Zeit?“ uff. Ein köſt-
liches Beiſpiel: Die Bürger von Szentmihaly
bei Temesvar erhielten auf Anmeldung einer
Wählerverſammlung vom Oberſtuhlrichter
folgenden Beſcheid: „Es iſt nicht notwendig,
die politiſchen und wirtſchaftlichen Fragen
[Spaltenumbruch] zum Gegenſtande einer Verſammlung zu
machen, denn die gegenwärtige Regierung
leitet dieſe Angelegenheit in zufriedenſtellender
Weiſe.“

Daß durch ſolche Schikanen der von Natur
ohnehin ruhige deutſche Bauer gezwungen
wird, die ihm in einer unverſtändlichen Sprache
aufgebotene Steuer, die widerrechtlich erfolgte
Eröffnung eines Briefes, die Verurteilung zu
irgend einer Strafe, die Beſchimpfung durch
öffentlich angeſtellte Beamte zu ertragen, iſt
wohl nur zu leicht erklärlich.

Die verderbliche Tätigkeit auf dem Ge-
biete des Volksſchulweſens zeigt zur
Genüge folgende Tabelle:




Jahrrein
magyariſche
magyariſche
und deutſche
rein deutſche
Schulen in Ungarn
1872??1810
18777024?1141
1879??953
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188577531051701
18908649877657
18959903797462
189810173806387

Im Jahre 1905 gab es gegenüber 14.008
magyariſchen Schulen 2142 Schulen der
Nationalitäten, obgleich in dieſem Jahre nur
52·9% Kinder magyariſcher Mutterſprache
waren.




(Schluß folgt.)

Verſammlung der „Südmark“
in Leobersdorf.

Die im September v. J. gegründete Ortsgruppe
Leobersdorf des Vereines „Südmark“ hielt am Don-
nerstag, den 9. Jänner, eine Verſammlung im Gaſt-
hauſe „zum ſchwarzen Adler“ ab, in welcher der
Wanderlehrer des Vereines, Herr Schneider aus
Graz, ſprach. Der Erfolg der Verſammlung war ein
großartiger. Bauern und Gewerbetreibende, Arbeiter
und Beamte, und auch Vertreter der beſitzenden
Klaſſe waren vertreten, um den Ausführungen des
Redners mit Aufmerkſamkeit zu lauſchen.

Als der Vortragende nach einer ſchwungvoll
angelegten Rede von ſtündiger Dauer ſchloß, da




[Spaltenumbruch]

ſo liebes Bild! Wer hatte da hineingezeichnet? Helene
beugte ſich tief über Käthchen nnd zupfte die Löckchen
unter der roten Kappe zurecht, um ihrer tiefen Be-
wegung Herr zu werden. Dann reichte ſie Franz von
Scholten herzlich die Hand: „Ich freue mich ſehr,
Sie nach langen Jahren wiederzuſehen“ und einem
plötzlichen Gedankengang folgend: „Lebt Ihre Mutter
noch?“

„Danke ſehr, Gnädigſte, ſie iſt noch rüſtig“.

„Sie leben bei ihr? Oder ſind Sie auch ver-
heiratet?“

„Ach nein, weder das eine noch das andere. Ich
bin ein alter Junggeſelle und da — Sie verſtehen,
Gnädigſte, daß jeder für ſich leben muß. Aber ich
ſehe ſie natürlich häufig. Wundere mich nur, daß ich
die gnädige Frau ſo lange nicht geſehen habe. Ich
bin ſeit vier Jahren hier als Regierungsrat. Es iſt
ja angenehm für Mama, mich doch auch in Wien
zu wiſſen. Ihre Töchter. Gnädigſte?“

„Dies und dort und dort — das ſind alle
meine Kinder“. Helene ſagte es nicht ohne Mutter-
ſtolz, dann aber ſah ſie wieder tiefernſt auf das
ſchmale, verlebte Geſicht vor ihr, und ſie dachte an
zwei junge Menſchenkinder, die eine alte Frau einſt
durchaus trennen wollte und getrennt hatte. Und ſie
dachte an die heimlichen Kämpfe ihres jungen, ſtolzen
Herzens.

Und nun wußte ſie es ganz genau — es war
ganz umſonſt geweſen das Opfer, das ſie einſt ge-
bracht, ſeine Mutter hatte ihn wohl viel, viel mehr
verloren.

Der Regierungsrat hatte ſich inzwiſchen mit
einigen höflichen Phraſen entfernt. Er konnte nicht
lange auf einer Stelle ſtehen, ohne kalte Füße zu
bekommen, die ihm dann gleich einen unangenehmen
Nervenſchmerz bereiteten. Er hatte ihr das Weſen
dieſes Schmerzes genau geſchildert und entfernte ſich
[Spaltenumbruch] nun, indem er die Hoffnung ausſprach, die ſo un-
vermutet wiedergefundene Jugendfreundin noch öfter
hier zu ſehen.

Käthe und Grete beanſpruchten Mutter Helene
indeſſen nach Möglichkeit. Die müde gewordenen
Beinchen wollten nicht mehr auf den unſicheren Stahl-
ſchuhen gleiten. Max und Willi mußten herbeigerufen
werden, um die Schweſterchen in einen Stuhlſchlitten
zu ſetzen und ſpazieren zu fahren.

Nun war Helene freier und begann ſelbſt in
größeren Bogen über das Eis zu kreiſen. Da beob-
achtete ſie dann ihren alten Verehrer, der einſt ſo
ſchöne Achter mit ihr geübt. Er ſchien ſich auch noch
einmal jung fühlen zu wollen, aber das ſchöne
Gleichgewicht der Referendarzeit war doch ins
Schwanken gekommen. Das Biegen und Wiegen ging
nicht ganz ſo kühn wie einſt, und allzu gerade neigte
ſich die Geſtalt nach hinten über. Er lief eigentlich
bureaukratiſch. Helene erinnerte ſich, daß ſie im Tier-
garten oft amuſante Studien an den Reitern ge-
trieben. Der eine zuckte am Zügel, als führe er die
Feder und ſaß auf dem Sattel wie auf dem Schreib-
bock, der andere trat immerfort in die Bügel, als
müſſe er Treppen erſteigen, und Helene hatte immer
behauptet, es ſei ihr Spezialſtudium, die einzeinen
Berufe der Reiter an ihrer Haltung zu erkennen.
Hier nun begann ſie unwillkürlich den Regierungs-
rat auf ſeine bureaukratiſchen Bewegungen hin zu
ſtudieren. Er wiederum, als er ſich beobachtet fühlte,
ſetzte mit doppelter Kraft zu prächtigem Bogen ein,
aber ach — er ſetzte nicht ein, wie etwa der junge
Referendar dort in der Seecke, der ihr wie ein
Spiegelbild aus jungen Jahren ſchien, mit leicht ge-
neigter Schulterbewegung, ſondern mit jener geraden
Haltung, mit der er etwa am Bureautiſche eine
Regierungsvorlage zu ſtützen hätte. So folgte denn,
eben durch dieſe gerade Haltung, ein kleiner Rück-
ſchlag, der ſogleich die ganze Geſtalt ins Wanken
[Spaltenumbruch] brachte und auf jeden Fall die Glorie des ſtolzen
Bogens in einige Zickzackwendungen auflöſte.

Leiſe lächelnd ſetzte nun Helene ihrerſeits zum
kräftigen Stoße an — ach, auch dieſer Stoß war
uuendlich heftiger als Noras anmutige Bogen, und
ihre königliche Frauengeſtalt ſauſte mit ſolcher Wucht
und Gewalt über die Seefläche dahin, daß Hans und
Walter, die eben an ihr vorbeiliefen, ganz achtungs-
voll bemerkten: „Nun ſieh mal unſere alte Dame
an!“ Helene hatte es gerade noch gehört. Nun, vom
weiten Bogen zurücklehrend, ſtieß ſie faſt den ihr ent-
gegenſteuernden Regierungsrat um, der, durch die
einbrechende Dunkelheit an die fernen Zeiten ge-
mahnt, die ſie beide hier auf dem neuen See ver-
lebt hatten, ein längeres Geſpräch mit ihr anknüpfen
wollte.

Ach! Helenes Gedanken waren jetzt mehr bei
Nora, die herbeizurufen war — ſie kam mit leuchtenden
Augen und brennenden Wangen, roſig und jung —
und bei Käthe und Grete, die nicht im Abendnebel
ſich erkälten ſollten, bei den Buben, denen der Heim-
weg zu früh ſchien. So ſtand ſie im Dämmerlicht
zwiſchen ihren blühenden Sieben, und grau und
einſam ſchien ihr plötzlich der eine dazuſtehen, der
von ihrer Jugendzeit und ſeiner Jugendzeit ſprach.

„Ja, ja“, ſagte ſie zerſtreut und eilig und
drückte ihm im Fortgehen flüchtig die Hand, „ſo
vergehen die Jahre und die Jugend, und auch die
Grazie“.

„Oh, Gnädigſte, ich komme mir noch ganz jung
vor, und Sie —“

„Ganz unverändert“, nickte Helene mit ver-
haltenem Lächeln. Im Stillen aber dachte ſie: Gut,
daß meine Jugend um mich her lebendig geworden
iſt. Und ſo ſchritt ſie mit ihren Kindern heim durch
den froſtſtillen Tiergarten.




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[3/0003] Nr. 5. Mittwoch Badener Zeitung. 15. Jänner 1908. ſprache und ihre bis zur Peinlichkeit geübte Anwendung in allen privaten und ſtaatlichen Aemtern, Schulen und Kirchen, das dehnbare Wahlgeſetz zur Volksvertretung, das Ortsnamengeſetz, das Militär, die Magyariſierungsvereine, die ſtaatlich begünſtigte Induſtriebewegung, die deutſchgeſchriebene magyarenfreund- liche Preſſe, die wirtſchaftliche Not und als Unikum ein Geſetzesparagraph „Aufreizung gegen die magyariſche Nation“. Nichts wurde den Nationalitäten mit Hinterhältigkeiten mehr abgerungen als die magyariſche Staatsſprache. Mit einer Genauigkeit, die ihresgleichen ſucht, wacht nun Behörde auf Behörde über den alleinigen Gebrauch der magyariſchen Sprache in allen ſtaatlichen Aemtern, um dadurch den Nationalitäten die Anſchauung abzuringen, es ſei doch notwendig magyariſch zu lernen. Keine oder grobe Antworten auf deutſche Fragen, je nach dem Aeußern des Bittſtellers, erhält man bei ungariſchen Steuerämtern, Eiſenbahnen, Poſtanſtalten, Gerichten, Sicher- heitsanſtalten (Gendarmerie und Polizei) und Notarkanzleien. Alle Kundgebungen dieſer, wie Vorladungen, Krankheitsanzeigen ſelbſt epidemiſchen Charakters, Eiſenbahnfahrpläne n. a., erfolgen im deutſchen Sprachgebiete nur in der unverſtändlichen magyariſchen Sprache, ja auch alle Weg- und ſelbſt War- nungstaſeln bei lebensgefährlichen Stellen. In nicht wiederzugebenden Ausdrücken werden deutſche Bauern vonſeite magyariſcher Beamten beflegelt, nur weil ſie dieſe „Welt- ſprache“ nicht kennen. Ein Beſchwerderecht ſteht dieſen deshalb nicht zu, da ſie des Magyariſchen nicht mächtig ſind und Be- ſchwerden nur in dieſer Sprache entgegen- genommen werden. So erliegt eine deutſche Beſchwerde über ein Verbrechen vonſeite eines Notares noch heute in St. Gotthardt ohne Erledigung, obgleich die Anzeige von mir vor drei Jahren gemacht wurde. Selbſtverſtändlich amtiert dieſer Herr noch weiter. Ebenſo verlangt man von den Geſchwo- renen bei Gerichten die Kenntnis der Staats- ſprache in Schrift und Wort. Der nationale Wahnſinn geht ſo weit, dem Angeklagten die Verteidigung in ſeiner Mutterſprache durch erzwungene Verſtändnisloſigkeit indirekt zu verbieten. Es gehört demnach nicht zur Sel- tenheit, daß ganz und gar unſchuldige Menſchen durch dieſe ſeltſame Rechtspflege, deren ſich ſelbſt innerafrikaniſche Völker ſchämen würden, nicht nur der Freiheit für Monate und Jahre beraubt werden. Dabei iſt die Bildung dieſer Beamten trotz ihrer Univerſitätsſtudien äußerſt kläglich. So wurde ich bei meiner zweiten Verhaftung in St. Gotthardt vom Oberſtuhlrichter bei meiner Angabe, ich fahre mit der Bahn über Oderberg nach Poſen, mit dem Hinweiſe unterbrochen, daß man doch mit dem Schiff von Oderberg nach Poſen reiſen könne. Auch die Poſt muß für dieſen „freiheits- liebenden“ Staat herhalten. Seltſamer Weiſe kennt ſie kein Preßburg, Oedenburg u. a. und unter Umſtänden ſchickt ſie ſolche Sen- dungen als „unbeſtellbar“ zurück. Selbſt auf private Anſtalten, wie Ver- ſicherungsgeſellſchaften, Banken u. a. wird der Druck ausgeübt magyariſch zu amtieren, was ja auch in der Regel geſchieht. Unglaubliches geradezu erlebt man mit der von ungariſchen Wahlen her weltbekannten ungariſchen Gendarmerie, einer Elitetruppe erſten Ranges. Ich ſelbſt hatte das Ver- gnügen, die Intelligenz dieſer Behörde kennen zu lernen. So wurde ich bei meiner erſten Verhaftung im Weißbrunner Komitate gefragt: „Warum reiſen Sie zum Vergnügen, da das Reiſen doch Geld koſtet?“ „Warum reiſen Sie in einer ſo böſen Zeit?“ uff. Ein köſt- liches Beiſpiel: Die Bürger von Szentmihaly bei Temesvar erhielten auf Anmeldung einer Wählerverſammlung vom Oberſtuhlrichter folgenden Beſcheid: „Es iſt nicht notwendig, die politiſchen und wirtſchaftlichen Fragen zum Gegenſtande einer Verſammlung zu machen, denn die gegenwärtige Regierung leitet dieſe Angelegenheit in zufriedenſtellender Weiſe.“ Daß durch ſolche Schikanen der von Natur ohnehin ruhige deutſche Bauer gezwungen wird, die ihm in einer unverſtändlichen Sprache aufgebotene Steuer, die widerrechtlich erfolgte Eröffnung eines Briefes, die Verurteilung zu irgend einer Strafe, die Beſchimpfung durch öffentlich angeſtellte Beamte zu ertragen, iſt wohl nur zu leicht erklärlich. Die verderbliche Tätigkeit auf dem Ge- biete des Volksſchulweſens zeigt zur Genüge folgende Tabelle: Jahr rein magyariſche magyariſche und deutſche rein deutſche Schulen in Ungarn 1872 ? ? 1810 1877 7024 ? 1141 1879 ? ? 953 1880 ? ? 867 1885 7753 1051 701 1890 8649 877 657 1895 9903 797 462 1898 10173 806 387 Im Jahre 1905 gab es gegenüber 14.008 magyariſchen Schulen 2142 Schulen der Nationalitäten, obgleich in dieſem Jahre nur 52·9% Kinder magyariſcher Mutterſprache waren. (Schluß folgt.) Verſammlung der „Südmark“ in Leobersdorf. Die im September v. J. gegründete Ortsgruppe Leobersdorf des Vereines „Südmark“ hielt am Don- nerstag, den 9. Jänner, eine Verſammlung im Gaſt- hauſe „zum ſchwarzen Adler“ ab, in welcher der Wanderlehrer des Vereines, Herr Schneider aus Graz, ſprach. Der Erfolg der Verſammlung war ein großartiger. Bauern und Gewerbetreibende, Arbeiter und Beamte, und auch Vertreter der beſitzenden Klaſſe waren vertreten, um den Ausführungen des Redners mit Aufmerkſamkeit zu lauſchen. Als der Vortragende nach einer ſchwungvoll angelegten Rede von [FORMEL]ſtündiger Dauer ſchloß, da ſo liebes Bild! Wer hatte da hineingezeichnet? Helene beugte ſich tief über Käthchen nnd zupfte die Löckchen unter der roten Kappe zurecht, um ihrer tiefen Be- wegung Herr zu werden. Dann reichte ſie Franz von Scholten herzlich die Hand: „Ich freue mich ſehr, Sie nach langen Jahren wiederzuſehen“ und einem plötzlichen Gedankengang folgend: „Lebt Ihre Mutter noch?“ „Danke ſehr, Gnädigſte, ſie iſt noch rüſtig“. „Sie leben bei ihr? Oder ſind Sie auch ver- heiratet?“ „Ach nein, weder das eine noch das andere. Ich bin ein alter Junggeſelle und da — Sie verſtehen, Gnädigſte, daß jeder für ſich leben muß. Aber ich ſehe ſie natürlich häufig. Wundere mich nur, daß ich die gnädige Frau ſo lange nicht geſehen habe. Ich bin ſeit vier Jahren hier als Regierungsrat. Es iſt ja angenehm für Mama, mich doch auch in Wien zu wiſſen. Ihre Töchter. Gnädigſte?“ „Dies und dort und dort — das ſind alle meine Kinder“. Helene ſagte es nicht ohne Mutter- ſtolz, dann aber ſah ſie wieder tiefernſt auf das ſchmale, verlebte Geſicht vor ihr, und ſie dachte an zwei junge Menſchenkinder, die eine alte Frau einſt durchaus trennen wollte und getrennt hatte. Und ſie dachte an die heimlichen Kämpfe ihres jungen, ſtolzen Herzens. Und nun wußte ſie es ganz genau — es war ganz umſonſt geweſen das Opfer, das ſie einſt ge- bracht, ſeine Mutter hatte ihn wohl viel, viel mehr verloren. Der Regierungsrat hatte ſich inzwiſchen mit einigen höflichen Phraſen entfernt. Er konnte nicht lange auf einer Stelle ſtehen, ohne kalte Füße zu bekommen, die ihm dann gleich einen unangenehmen Nervenſchmerz bereiteten. Er hatte ihr das Weſen dieſes Schmerzes genau geſchildert und entfernte ſich nun, indem er die Hoffnung ausſprach, die ſo un- vermutet wiedergefundene Jugendfreundin noch öfter hier zu ſehen. Käthe und Grete beanſpruchten Mutter Helene indeſſen nach Möglichkeit. Die müde gewordenen Beinchen wollten nicht mehr auf den unſicheren Stahl- ſchuhen gleiten. Max und Willi mußten herbeigerufen werden, um die Schweſterchen in einen Stuhlſchlitten zu ſetzen und ſpazieren zu fahren. Nun war Helene freier und begann ſelbſt in größeren Bogen über das Eis zu kreiſen. Da beob- achtete ſie dann ihren alten Verehrer, der einſt ſo ſchöne Achter mit ihr geübt. Er ſchien ſich auch noch einmal jung fühlen zu wollen, aber das ſchöne Gleichgewicht der Referendarzeit war doch ins Schwanken gekommen. Das Biegen und Wiegen ging nicht ganz ſo kühn wie einſt, und allzu gerade neigte ſich die Geſtalt nach hinten über. Er lief eigentlich bureaukratiſch. Helene erinnerte ſich, daß ſie im Tier- garten oft amuſante Studien an den Reitern ge- trieben. Der eine zuckte am Zügel, als führe er die Feder und ſaß auf dem Sattel wie auf dem Schreib- bock, der andere trat immerfort in die Bügel, als müſſe er Treppen erſteigen, und Helene hatte immer behauptet, es ſei ihr Spezialſtudium, die einzeinen Berufe der Reiter an ihrer Haltung zu erkennen. Hier nun begann ſie unwillkürlich den Regierungs- rat auf ſeine bureaukratiſchen Bewegungen hin zu ſtudieren. Er wiederum, als er ſich beobachtet fühlte, ſetzte mit doppelter Kraft zu prächtigem Bogen ein, aber ach — er ſetzte nicht ein, wie etwa der junge Referendar dort in der Seecke, der ihr wie ein Spiegelbild aus jungen Jahren ſchien, mit leicht ge- neigter Schulterbewegung, ſondern mit jener geraden Haltung, mit der er etwa am Bureautiſche eine Regierungsvorlage zu ſtützen hätte. So folgte denn, eben durch dieſe gerade Haltung, ein kleiner Rück- ſchlag, der ſogleich die ganze Geſtalt ins Wanken brachte und auf jeden Fall die Glorie des ſtolzen Bogens in einige Zickzackwendungen auflöſte. Leiſe lächelnd ſetzte nun Helene ihrerſeits zum kräftigen Stoße an — ach, auch dieſer Stoß war uuendlich heftiger als Noras anmutige Bogen, und ihre königliche Frauengeſtalt ſauſte mit ſolcher Wucht und Gewalt über die Seefläche dahin, daß Hans und Walter, die eben an ihr vorbeiliefen, ganz achtungs- voll bemerkten: „Nun ſieh mal unſere alte Dame an!“ Helene hatte es gerade noch gehört. Nun, vom weiten Bogen zurücklehrend, ſtieß ſie faſt den ihr ent- gegenſteuernden Regierungsrat um, der, durch die einbrechende Dunkelheit an die fernen Zeiten ge- mahnt, die ſie beide hier auf dem neuen See ver- lebt hatten, ein längeres Geſpräch mit ihr anknüpfen wollte. Ach! Helenes Gedanken waren jetzt mehr bei Nora, die herbeizurufen war — ſie kam mit leuchtenden Augen und brennenden Wangen, roſig und jung — und bei Käthe und Grete, die nicht im Abendnebel ſich erkälten ſollten, bei den Buben, denen der Heim- weg zu früh ſchien. So ſtand ſie im Dämmerlicht zwiſchen ihren blühenden Sieben, und grau und einſam ſchien ihr plötzlich der eine dazuſtehen, der von ihrer Jugendzeit und ſeiner Jugendzeit ſprach. „Ja, ja“, ſagte ſie zerſtreut und eilig und drückte ihm im Fortgehen flüchtig die Hand, „ſo vergehen die Jahre und die Jugend, und auch die Grazie“. „Oh, Gnädigſte, ich komme mir noch ganz jung vor, und Sie —“ „Ganz unverändert“, nickte Helene mit ver- haltenem Lächeln. Im Stillen aber dachte ſie: Gut, daß meine Jugend um mich her lebendig geworden iſt. Und ſo ſchritt ſie mit ihren Kindern heim durch den froſtſtillen Tiergarten.

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Zitationshilfe: Badener Zeitung. Nr. 5, Baden (Niederösterreich), 15.01.1908, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_badener005_1908/3>, abgerufen am 22.11.2024.