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Allgemeine Zeitung. Nr. 75. Augsburg (Bayern), 16. März 1871.

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[Spaltenumbruch] gibt, und der die naturgemäße Bedingung alles Erwerbs, die Arbeit für
einen wesentlichen Zweck der Gemeinschaft, in gegliederter rechtlicher Be-
rufsarbeit und Berufsgenossenschaft erst zur gesicherten Verwirklichung
bringt, für die Nationen wie für den einzelnen Bürger -- während jetzt
der bloße Erwerbs= und Nationalgeist nach unzähligen Seiten hin durch
zweckwidrigste Ueberhäufung in einzelnen Arbeitszweigen, durch unge-
nügenden und von der Zeit überholten Charakter der eignen Erwerbsform,
durch die sich selbst überlassene Unkenntniß des wahren Marktbedarfs und
der allgemeinen wie der örtlichen Productionsverhältnisse jenes natürliche
Gesetz immer wieder zu nichte macht, und anstatt seiner organischen Ord-
nung die spröde und selbstische Entzweiung der Jnteressen setzt.

Wie kein anderes Volk der Erde, macht die deutsche Geschichte jenen
Kreislauf alles Lebens durch welcher aus der Höhe= und Glanzzeit der
Sonne durch winterlichen Niedergang und Erstarrung hindurch zu erneu-
tem Aufsteigen und neuer Blüthe hinführt. Damals, als noch die Sonne
römisch=kirchlicher Einheit hoch im Mittag stand und in Römerzug und
Pilgerfahrt unser Volk über die Berge zog, da war die erste glänzende
Jugendzeit unseres Volkes, wo es neben die eine christlich=kirchliche Ord-
nung ihr gleich allgemeines weltliches Abbild, die des Kaiserthums, zu
setzen bestrebt war. Doch als diese Sonne des Südens verblich, als aus
der bunten und sinnenfälligen Aeußerlichkeit dieser alten Kirche der reli-
giöse Ernst und die Jnnerlichkeit deutschen Wesens immer mehr sich zurück-
zog und tiefer in das eigene Jnnere einkehrte, und als gleichzeitig die
nüchterne Thätigkeit des bürgerlichen Lebens in allen Theilen begann, da
starb auch jene äußere Einheit immer mehr ab, die bis dahin unser Volk
zusammengehalten, und mit den einbrechenden religiösen Kämpfen und
Stürmen brach die lange Winterzeit unseres Volkes herein, die endlich in
dreißigjährigem Rasen seinen Stamm vollends entlaubt hat. Aber tief
aus dem Kerne christlich=menschlicher Bildungs= und Geistesarbeit, in wel-
chen jetzt die innerste Kraft unseres Volkes sich zurückgezogen hatte, erhob
sich von neuem die schaffende Macht, die belebend nach außen drang, die
im prophetischen Aufschwung unserer Dichtung, unserer Kunst und Wissen-
schaft zuerst und dann im mächtigen Aufstreben des nationalen Geistes sich
gezeigt hat.

Doch umgekehrt gegen früher, und zum erstenmal in unserer Ge-
schichte, muß jetzt über diesem äußeren Kämpfen und Streben die letzte
und höchste Bestimmung unseres Volks noch zurückstehen. Einem glän-
zenden kantigen Krystall gleich hat unsere Nation jetzt unter der preu-
ßischen Führung sich gegen außen zusammengefaßt. Aber der Leben wir-
kende und lebendig quellende Mittelpunkt, der organisch beseelend nach
außen dringen und in immer weiterem Kreise die Welt um sich her zu ge-
gliederter und friedlicher Berufsgemeinschaft umschaffen soll, er ist jetzt
unter der starren nationalen Rinde, unter dem verständig äußerlichen und
empiristischen Streben der Zeit, noch zurückgedrängt. Und doch wird
mit seinem Erwachen erst das sich erfüllen was einst im Jugendtraum un-
seres Kaiserthums unserem Volke vorgeschwebt hat, wird mit ihm erst
neugeboren aus der unerschöpflichen Kraft deutschen Geistes und in frei
menschlicher und bürgerlicher Form jene Einheit und jenes Gemeinbewußt-
sein wieder erstehen das einst als unfreie kirchliche Macht in der Höhe-
zeit des Mittelalters die Völker zusammenhielt, und das unserer vom
Streite der Meinungen und der nationalen Jnteressen zersplitterten Zeit
längst entschwunden ist.

Das Gericht über die einseitig nationale Entwicklung der Volksgei-
ster ( wie sie seit den Endzeiten des Mittelalters sich immer stärker ausge-
bildet hat ) , das ist es was in diesen großen Tagen begonnen hat. Denn
was anderes hat Frankreichs Sturz jetzt herbeigeführt als daß es immer
tiefer in die gleißende und verführende Aeußerlichkeit seiner nationalen
Geistesrichtung und Bildungsform versunken war? Wie könnten wir
Deutschen, die wir das Werkzeug dieses Gerichtes gewesen sind, glauben daß
wir jetzt mit unserem eigenen nationalen Ziele schon das Letzte erreicht haben?
Wie sollten wir nicht uns erinnern daß auch im Alterthum schon die letzte
Steigerung nationalen Geistes ( in der römischen Weltmacht ) nur der Vor-
läufer einer neuen und universellen Ordnung war? Und wie sollten
wir nicht im Jnnersten fühlen daß auch diese schneidige Rüstung des Na-
tionalstaats, in der wir jetzt allen andern Völkern vorangehen, nur der
Vorbote eines ganz Andern und Größeren ist, daß hinter dieser Gegen-
wart erst das Ewige und echt Deutsche liegt, das kommende und bleibende
Friedens= und Berufsreich deutscher Nation?

Auf der Rückkehr aus dem Felde.

H. St. Gratien, 10 März, Abends. Jch schreibe Jhnen diese
Zeilen von St. Gratien, am Ufer des Sees von Enghien. Das Haupt-
quartier der III. Armee hat heute Morgens halb 9 Uhr Versailles ver-
lassen, nachdem das große Hauptquartier schon am Tage der Revue von
Villiers, 7 März, zugleich mit dem Kaiser dort aufgebrochen war. Seit
[Spaltenumbruch] dem 19 Sept. hatten wir in der Residenz Ludwigs XIV gelegen, 131
Tage der Belagerung von Paris bis zur Convention des 28 Jan.,
40 Tage des Waffenstillstandes, der Präliminarien und des Friedens-
zustandes bis zum heutigen Datum. Ueber Sevres, an St. Cloud vor-
bei, noch einmal am Fuße des Mont Valerien entlang, zogen wir, Neuilly
und Argenteuil passirend, hieher. Auf allen Straßen begegneten uns
entlassene Mobilgarden von Paris, die in ihre Heimath zurückkehren, zum
Theil in phantastischem Costüm, in welchem sich schon halb das Civil mit
dem Militär vermischt. Meistens den Wanderstab in der Hand, gehen sie
ruhig ihre Straße; wenn die deutschen Truppen vorüberkommen, bleiben
sie stehen, lassen dieselben vorüberziehen und schauen ihnen sinnend nach,
ohne irgendeine unziemliche Bemerkung, während die Civilbevölkerung
beim Vorübermarsch der Truppen nicht selten durch übermüthige Scherze
den deutschen Gleichmuth auf die Probe stellt. Der Stab der III. Armee,
dessen Führung in Abwesenheit des Kronprinzen dem Generallieutenant
v. Blumenthal obliegt, bewohnt, für den einen Tag den wir in St. Gra-
tien verweilen, das Schloß der Prinzessin Mathilde. Da die Räumlich-
keiten nicht ausreichen, sind viele der Officiere in einzelnen umliegenden
Villen und in den höchst bescheidenen Häusern des Dorfes untergebracht.
Die Begleiter der Colonnen welche uns den Proviant und die
Fourrage für die Pferde nachfahren, biwakiren, wie mitten im
Kriege, an mächtigen Wachtfeuern auf dem Platze vor der Kirche,
inmitten des Dorfes. Jch hatte mit einem Hauptmann und einem
Feldjägerlieutenant in einem prächtigen Landhaus am See, das Hrn.
Charles Quertier, dem Generalsecretär Cremieux ' während der Zeit der
Delegation von Bordeaux, gehört, Quartier genommen. Da der See
einige hundert Schritte vom Dorfe St. Gratien entfernt ist, beschlossen
wir mit den Ordonnanzen für unsere Bedienung eine Colonne zu bilden
und für uns selbst Menage zu machen. Zwar ist es lange her daß wir
das Lagerleben in seiner eigentlichen Form, wo jeder auf seine praktische
Umsicht angewiesen ist, durchgemacht haben, allein man kehrt rasch zu den
alten Gewohnheiten zurück. Einige wohlweislich mitgenommene Vor-
räthe wurden den Burschen zur Bereitung der Abendmahlzeit in die Küche
geliefert; es war die nicht ungewöhnliche Erbswurst und das noch gewöhn-
lichere Hammelfleisch. Jn dem großen Speisesaale des Hrn. Quertier, wo
leicht eine Gesellschaft von 40 Personen Raum finden würde, wurde be-
reits der Tisch für uns hergerichtet, und einige Weine zur Würze der fru-
galen Speisen sollten eben entkorkt werden, als plötzlich die Officiere welche
gerade zum Fourieren an der Reihe waren, den Befehl bekamen sofort drei
Meilen weiter nach Vert=Galant zu reiten, und hier für das Obercom-
mando auf morgen die Quartiere zu bestellen. So hat auch das Leben
des heimziehenden Kriegers seine unerwarteten Zwischenfälle. Unsere
Wirthschaft wurde schonungslos auseinandergerissen, und da ich meinem
Pferde nicht zumuthen wollte diesen Abend noch die weite Strecke zurück-
zulegen, blieb ich allein in den unbewohnten Räumen dieses verwunschenen
Schlosses. An Glanz fehlte es freilich nicht, desto mehr an Behaglichkeit
im deutschen Sinne. Prachtvolle Velour=Tapeten, kostbare Vasen, glän-
zende Gemälde, werthvolle Boulemöbel, ein Bett mit bronzenem Gestell,
aber auch nicht eine Spur von Linnenzeug, kein Kopfkissen, keine Decke;
"denn" -- so erzählt die einzige Jnsassin des Hauses, eine alte Wirthschaf-
terin -- "dieß alles ist von französischen Marodeuren gestohlen worden.
Jch bin nicht einmal im Stand Jhnen ein Handtuch zu geben."

Versailles hatte nach dem Abrücken des großen Hauptquartieres allen
Glanz verloren. Bei unserer Rückkehr von der großen Parade bei Vil-
liers erkannten wir die sonst während der Zeit des Feldlagers so lebhafte
Stadt kaum wieder. Der überwiegend preußische Charakter den sie an
sich getragen war abgestreift, und sie war wieder französisch geworden;
auch sah man auf den Straßen zuletzt schon einige französische Soldaten.
Die Präfectur hatte, sogleich nachdem der Kaiser sie verlassen, ihr goldenes
Gitter und ihre sämmtlichen Pforten geschlossen, nur noch die beiden preu-
ßischen Schilderhäuser standen leer vor dem Hauptportal. Als wir am
nächsten Tage, zu einigen Aufzeichnungen über die Oertlichkeiten die der
Schauplatz so hochwichtiger Berathungen und welthistorischer Staatsacte
gewesen sind, noch einmal Einlaß begehrten, zögerte der Thürwärter an
der Avenue de Paris, nicht aus Ungefälligkeit, sondern weil, wie er uns
mittheilte, die Arbeiter bereits in den Zimmern seien, um einige Verände-
rungen an der Decoration vorzunehmen. Als er auf mein Zureden den-
noch nachgab, fand ich in den Gartenzimmern des Parterreraumes die von
Flügeladjutanten des Kaisers bewohnt waren, Delegirte aus Bordeaux,
die hier mit Baumeistern der Stadt Versailles und Beamten des Schlosses
wegen der Jnstallation der National = Versammlung, die demnächst im
Theater Ludwigs XIV tagen wird, verhandelten. Jch erfuhr daß der
Chef der französischen Executivgewalt, Hr. Thiers, des Kaisers Nachfolger
in den Gemächern der Präfectur sein wird. Als Kaiser Wilhelm im
December 1870 die Reichstagsdeputation in feierlicher Audienz empfieng,

[Spaltenumbruch] gibt, und der die naturgemäße Bedingung alles Erwerbs, die Arbeit für
einen wesentlichen Zweck der Gemeinschaft, in gegliederter rechtlicher Be-
rufsarbeit und Berufsgenossenschaft erst zur gesicherten Verwirklichung
bringt, für die Nationen wie für den einzelnen Bürger -- während jetzt
der bloße Erwerbs= und Nationalgeist nach unzähligen Seiten hin durch
zweckwidrigste Ueberhäufung in einzelnen Arbeitszweigen, durch unge-
nügenden und von der Zeit überholten Charakter der eignen Erwerbsform,
durch die sich selbst überlassene Unkenntniß des wahren Marktbedarfs und
der allgemeinen wie der örtlichen Productionsverhältnisse jenes natürliche
Gesetz immer wieder zu nichte macht, und anstatt seiner organischen Ord-
nung die spröde und selbstische Entzweiung der Jnteressen setzt.

Wie kein anderes Volk der Erde, macht die deutsche Geschichte jenen
Kreislauf alles Lebens durch welcher aus der Höhe= und Glanzzeit der
Sonne durch winterlichen Niedergang und Erstarrung hindurch zu erneu-
tem Aufsteigen und neuer Blüthe hinführt. Damals, als noch die Sonne
römisch=kirchlicher Einheit hoch im Mittag stand und in Römerzug und
Pilgerfahrt unser Volk über die Berge zog, da war die erste glänzende
Jugendzeit unseres Volkes, wo es neben die eine christlich=kirchliche Ord-
nung ihr gleich allgemeines weltliches Abbild, die des Kaiserthums, zu
setzen bestrebt war. Doch als diese Sonne des Südens verblich, als aus
der bunten und sinnenfälligen Aeußerlichkeit dieser alten Kirche der reli-
giöse Ernst und die Jnnerlichkeit deutschen Wesens immer mehr sich zurück-
zog und tiefer in das eigene Jnnere einkehrte, und als gleichzeitig die
nüchterne Thätigkeit des bürgerlichen Lebens in allen Theilen begann, da
starb auch jene äußere Einheit immer mehr ab, die bis dahin unser Volk
zusammengehalten, und mit den einbrechenden religiösen Kämpfen und
Stürmen brach die lange Winterzeit unseres Volkes herein, die endlich in
dreißigjährigem Rasen seinen Stamm vollends entlaubt hat. Aber tief
aus dem Kerne christlich=menschlicher Bildungs= und Geistesarbeit, in wel-
chen jetzt die innerste Kraft unseres Volkes sich zurückgezogen hatte, erhob
sich von neuem die schaffende Macht, die belebend nach außen drang, die
im prophetischen Aufschwung unserer Dichtung, unserer Kunst und Wissen-
schaft zuerst und dann im mächtigen Aufstreben des nationalen Geistes sich
gezeigt hat.

Doch umgekehrt gegen früher, und zum erstenmal in unserer Ge-
schichte, muß jetzt über diesem äußeren Kämpfen und Streben die letzte
und höchste Bestimmung unseres Volks noch zurückstehen. Einem glän-
zenden kantigen Krystall gleich hat unsere Nation jetzt unter der preu-
ßischen Führung sich gegen außen zusammengefaßt. Aber der Leben wir-
kende und lebendig quellende Mittelpunkt, der organisch beseelend nach
außen dringen und in immer weiterem Kreise die Welt um sich her zu ge-
gliederter und friedlicher Berufsgemeinschaft umschaffen soll, er ist jetzt
unter der starren nationalen Rinde, unter dem verständig äußerlichen und
empiristischen Streben der Zeit, noch zurückgedrängt. Und doch wird
mit seinem Erwachen erst das sich erfüllen was einst im Jugendtraum un-
seres Kaiserthums unserem Volke vorgeschwebt hat, wird mit ihm erst
neugeboren aus der unerschöpflichen Kraft deutschen Geistes und in frei
menschlicher und bürgerlicher Form jene Einheit und jenes Gemeinbewußt-
sein wieder erstehen das einst als unfreie kirchliche Macht in der Höhe-
zeit des Mittelalters die Völker zusammenhielt, und das unserer vom
Streite der Meinungen und der nationalen Jnteressen zersplitterten Zeit
längst entschwunden ist.

Das Gericht über die einseitig nationale Entwicklung der Volksgei-
ster ( wie sie seit den Endzeiten des Mittelalters sich immer stärker ausge-
bildet hat ) , das ist es was in diesen großen Tagen begonnen hat. Denn
was anderes hat Frankreichs Sturz jetzt herbeigeführt als daß es immer
tiefer in die gleißende und verführende Aeußerlichkeit seiner nationalen
Geistesrichtung und Bildungsform versunken war? Wie könnten wir
Deutschen, die wir das Werkzeug dieses Gerichtes gewesen sind, glauben daß
wir jetzt mit unserem eigenen nationalen Ziele schon das Letzte erreicht haben?
Wie sollten wir nicht uns erinnern daß auch im Alterthum schon die letzte
Steigerung nationalen Geistes ( in der römischen Weltmacht ) nur der Vor-
läufer einer neuen und universellen Ordnung war? Und wie sollten
wir nicht im Jnnersten fühlen daß auch diese schneidige Rüstung des Na-
tionalstaats, in der wir jetzt allen andern Völkern vorangehen, nur der
Vorbote eines ganz Andern und Größeren ist, daß hinter dieser Gegen-
wart erst das Ewige und echt Deutsche liegt, das kommende und bleibende
Friedens= und Berufsreich deutscher Nation?

Auf der Rückkehr aus dem Felde.

H. St. Gratien, 10 März, Abends. Jch schreibe Jhnen diese
Zeilen von St. Gratien, am Ufer des Sees von Enghien. Das Haupt-
quartier der III. Armee hat heute Morgens halb 9 Uhr Versailles ver-
lassen, nachdem das große Hauptquartier schon am Tage der Revue von
Villiers, 7 März, zugleich mit dem Kaiser dort aufgebrochen war. Seit
[Spaltenumbruch] dem 19 Sept. hatten wir in der Residenz Ludwigs XIV gelegen, 131
Tage der Belagerung von Paris bis zur Convention des 28 Jan.,
40 Tage des Waffenstillstandes, der Präliminarien und des Friedens-
zustandes bis zum heutigen Datum. Ueber Sèvres, an St. Cloud vor-
bei, noch einmal am Fuße des Mont Valérien entlang, zogen wir, Neuilly
und Argenteuil passirend, hieher. Auf allen Straßen begegneten uns
entlassene Mobilgarden von Paris, die in ihre Heimath zurückkehren, zum
Theil in phantastischem Costüm, in welchem sich schon halb das Civil mit
dem Militär vermischt. Meistens den Wanderstab in der Hand, gehen sie
ruhig ihre Straße; wenn die deutschen Truppen vorüberkommen, bleiben
sie stehen, lassen dieselben vorüberziehen und schauen ihnen sinnend nach,
ohne irgendeine unziemliche Bemerkung, während die Civilbevölkerung
beim Vorübermarsch der Truppen nicht selten durch übermüthige Scherze
den deutschen Gleichmuth auf die Probe stellt. Der Stab der III. Armee,
dessen Führung in Abwesenheit des Kronprinzen dem Generallieutenant
v. Blumenthal obliegt, bewohnt, für den einen Tag den wir in St. Gra-
tien verweilen, das Schloß der Prinzessin Mathilde. Da die Räumlich-
keiten nicht ausreichen, sind viele der Officiere in einzelnen umliegenden
Villen und in den höchst bescheidenen Häusern des Dorfes untergebracht.
Die Begleiter der Colonnen welche uns den Proviant und die
Fourrage für die Pferde nachfahren, biwakiren, wie mitten im
Kriege, an mächtigen Wachtfeuern auf dem Platze vor der Kirche,
inmitten des Dorfes. Jch hatte mit einem Hauptmann und einem
Feldjägerlieutenant in einem prächtigen Landhaus am See, das Hrn.
Charles Quertier, dem Generalsecretär Crémieux ' während der Zeit der
Delegation von Bordeaux, gehört, Quartier genommen. Da der See
einige hundert Schritte vom Dorfe St. Gratien entfernt ist, beschlossen
wir mit den Ordonnanzen für unsere Bedienung eine Colonne zu bilden
und für uns selbst Menage zu machen. Zwar ist es lange her daß wir
das Lagerleben in seiner eigentlichen Form, wo jeder auf seine praktische
Umsicht angewiesen ist, durchgemacht haben, allein man kehrt rasch zu den
alten Gewohnheiten zurück. Einige wohlweislich mitgenommene Vor-
räthe wurden den Burschen zur Bereitung der Abendmahlzeit in die Küche
geliefert; es war die nicht ungewöhnliche Erbswurst und das noch gewöhn-
lichere Hammelfleisch. Jn dem großen Speisesaale des Hrn. Quertier, wo
leicht eine Gesellschaft von 40 Personen Raum finden würde, wurde be-
reits der Tisch für uns hergerichtet, und einige Weine zur Würze der fru-
galen Speisen sollten eben entkorkt werden, als plötzlich die Officiere welche
gerade zum Fourieren an der Reihe waren, den Befehl bekamen sofort drei
Meilen weiter nach Vert=Galant zu reiten, und hier für das Obercom-
mando auf morgen die Quartiere zu bestellen. So hat auch das Leben
des heimziehenden Kriegers seine unerwarteten Zwischenfälle. Unsere
Wirthschaft wurde schonungslos auseinandergerissen, und da ich meinem
Pferde nicht zumuthen wollte diesen Abend noch die weite Strecke zurück-
zulegen, blieb ich allein in den unbewohnten Räumen dieses verwunschenen
Schlosses. An Glanz fehlte es freilich nicht, desto mehr an Behaglichkeit
im deutschen Sinne. Prachtvolle Velour=Tapeten, kostbare Vasen, glän-
zende Gemälde, werthvolle Boulemöbel, ein Bett mit bronzenem Gestell,
aber auch nicht eine Spur von Linnenzeug, kein Kopfkissen, keine Decke;
„denn“ -- so erzählt die einzige Jnsassin des Hauses, eine alte Wirthschaf-
terin -- „dieß alles ist von französischen Marodeuren gestohlen worden.
Jch bin nicht einmal im Stand Jhnen ein Handtuch zu geben.“

Versailles hatte nach dem Abrücken des großen Hauptquartieres allen
Glanz verloren. Bei unserer Rückkehr von der großen Parade bei Vil-
liers erkannten wir die sonst während der Zeit des Feldlagers so lebhafte
Stadt kaum wieder. Der überwiegend preußische Charakter den sie an
sich getragen war abgestreift, und sie war wieder französisch geworden;
auch sah man auf den Straßen zuletzt schon einige französische Soldaten.
Die Präfectur hatte, sogleich nachdem der Kaiser sie verlassen, ihr goldenes
Gitter und ihre sämmtlichen Pforten geschlossen, nur noch die beiden preu-
ßischen Schilderhäuser standen leer vor dem Hauptportal. Als wir am
nächsten Tage, zu einigen Aufzeichnungen über die Oertlichkeiten die der
Schauplatz so hochwichtiger Berathungen und welthistorischer Staatsacte
gewesen sind, noch einmal Einlaß begehrten, zögerte der Thürwärter an
der Avenue de Paris, nicht aus Ungefälligkeit, sondern weil, wie er uns
mittheilte, die Arbeiter bereits in den Zimmern seien, um einige Verände-
rungen an der Decoration vorzunehmen. Als er auf mein Zureden den-
noch nachgab, fand ich in den Gartenzimmern des Parterreraumes die von
Flügeladjutanten des Kaisers bewohnt waren, Delegirte aus Bordeaux,
die hier mit Baumeistern der Stadt Versailles und Beamten des Schlosses
wegen der Jnstallation der National = Versammlung, die demnächst im
Theater Ludwigs XIV tagen wird, verhandelten. Jch erfuhr daß der
Chef der französischen Executivgewalt, Hr. Thiers, des Kaisers Nachfolger
in den Gemächern der Präfectur sein wird. Als Kaiser Wilhelm im
December 1870 die Reichstagsdeputation in feierlicher Audienz empfieng,

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[1262/0002] gibt, und der die naturgemäße Bedingung alles Erwerbs, die Arbeit für einen wesentlichen Zweck der Gemeinschaft, in gegliederter rechtlicher Be- rufsarbeit und Berufsgenossenschaft erst zur gesicherten Verwirklichung bringt, für die Nationen wie für den einzelnen Bürger -- während jetzt der bloße Erwerbs= und Nationalgeist nach unzähligen Seiten hin durch zweckwidrigste Ueberhäufung in einzelnen Arbeitszweigen, durch unge- nügenden und von der Zeit überholten Charakter der eignen Erwerbsform, durch die sich selbst überlassene Unkenntniß des wahren Marktbedarfs und der allgemeinen wie der örtlichen Productionsverhältnisse jenes natürliche Gesetz immer wieder zu nichte macht, und anstatt seiner organischen Ord- nung die spröde und selbstische Entzweiung der Jnteressen setzt. Wie kein anderes Volk der Erde, macht die deutsche Geschichte jenen Kreislauf alles Lebens durch welcher aus der Höhe= und Glanzzeit der Sonne durch winterlichen Niedergang und Erstarrung hindurch zu erneu- tem Aufsteigen und neuer Blüthe hinführt. Damals, als noch die Sonne römisch=kirchlicher Einheit hoch im Mittag stand und in Römerzug und Pilgerfahrt unser Volk über die Berge zog, da war die erste glänzende Jugendzeit unseres Volkes, wo es neben die eine christlich=kirchliche Ord- nung ihr gleich allgemeines weltliches Abbild, die des Kaiserthums, zu setzen bestrebt war. Doch als diese Sonne des Südens verblich, als aus der bunten und sinnenfälligen Aeußerlichkeit dieser alten Kirche der reli- giöse Ernst und die Jnnerlichkeit deutschen Wesens immer mehr sich zurück- zog und tiefer in das eigene Jnnere einkehrte, und als gleichzeitig die nüchterne Thätigkeit des bürgerlichen Lebens in allen Theilen begann, da starb auch jene äußere Einheit immer mehr ab, die bis dahin unser Volk zusammengehalten, und mit den einbrechenden religiösen Kämpfen und Stürmen brach die lange Winterzeit unseres Volkes herein, die endlich in dreißigjährigem Rasen seinen Stamm vollends entlaubt hat. Aber tief aus dem Kerne christlich=menschlicher Bildungs= und Geistesarbeit, in wel- chen jetzt die innerste Kraft unseres Volkes sich zurückgezogen hatte, erhob sich von neuem die schaffende Macht, die belebend nach außen drang, die im prophetischen Aufschwung unserer Dichtung, unserer Kunst und Wissen- schaft zuerst und dann im mächtigen Aufstreben des nationalen Geistes sich gezeigt hat. Doch umgekehrt gegen früher, und zum erstenmal in unserer Ge- schichte, muß jetzt über diesem äußeren Kämpfen und Streben die letzte und höchste Bestimmung unseres Volks noch zurückstehen. Einem glän- zenden kantigen Krystall gleich hat unsere Nation jetzt unter der preu- ßischen Führung sich gegen außen zusammengefaßt. Aber der Leben wir- kende und lebendig quellende Mittelpunkt, der organisch beseelend nach außen dringen und in immer weiterem Kreise die Welt um sich her zu ge- gliederter und friedlicher Berufsgemeinschaft umschaffen soll, er ist jetzt unter der starren nationalen Rinde, unter dem verständig äußerlichen und empiristischen Streben der Zeit, noch zurückgedrängt. Und doch wird mit seinem Erwachen erst das sich erfüllen was einst im Jugendtraum un- seres Kaiserthums unserem Volke vorgeschwebt hat, wird mit ihm erst neugeboren aus der unerschöpflichen Kraft deutschen Geistes und in frei menschlicher und bürgerlicher Form jene Einheit und jenes Gemeinbewußt- sein wieder erstehen das einst als unfreie kirchliche Macht in der Höhe- zeit des Mittelalters die Völker zusammenhielt, und das unserer vom Streite der Meinungen und der nationalen Jnteressen zersplitterten Zeit längst entschwunden ist. Das Gericht über die einseitig nationale Entwicklung der Volksgei- ster ( wie sie seit den Endzeiten des Mittelalters sich immer stärker ausge- bildet hat ) , das ist es was in diesen großen Tagen begonnen hat. Denn was anderes hat Frankreichs Sturz jetzt herbeigeführt als daß es immer tiefer in die gleißende und verführende Aeußerlichkeit seiner nationalen Geistesrichtung und Bildungsform versunken war? Wie könnten wir Deutschen, die wir das Werkzeug dieses Gerichtes gewesen sind, glauben daß wir jetzt mit unserem eigenen nationalen Ziele schon das Letzte erreicht haben? Wie sollten wir nicht uns erinnern daß auch im Alterthum schon die letzte Steigerung nationalen Geistes ( in der römischen Weltmacht ) nur der Vor- läufer einer neuen und universellen Ordnung war? Und wie sollten wir nicht im Jnnersten fühlen daß auch diese schneidige Rüstung des Na- tionalstaats, in der wir jetzt allen andern Völkern vorangehen, nur der Vorbote eines ganz Andern und Größeren ist, daß hinter dieser Gegen- wart erst das Ewige und echt Deutsche liegt, das kommende und bleibende Friedens= und Berufsreich deutscher Nation? Auf der Rückkehr aus dem Felde. H. St. Gratien, 10 März, Abends. Jch schreibe Jhnen diese Zeilen von St. Gratien, am Ufer des Sees von Enghien. Das Haupt- quartier der III. Armee hat heute Morgens halb 9 Uhr Versailles ver- lassen, nachdem das große Hauptquartier schon am Tage der Revue von Villiers, 7 März, zugleich mit dem Kaiser dort aufgebrochen war. Seit dem 19 Sept. hatten wir in der Residenz Ludwigs XIV gelegen, 131 Tage der Belagerung von Paris bis zur Convention des 28 Jan., 40 Tage des Waffenstillstandes, der Präliminarien und des Friedens- zustandes bis zum heutigen Datum. Ueber Sèvres, an St. Cloud vor- bei, noch einmal am Fuße des Mont Valérien entlang, zogen wir, Neuilly und Argenteuil passirend, hieher. Auf allen Straßen begegneten uns entlassene Mobilgarden von Paris, die in ihre Heimath zurückkehren, zum Theil in phantastischem Costüm, in welchem sich schon halb das Civil mit dem Militär vermischt. Meistens den Wanderstab in der Hand, gehen sie ruhig ihre Straße; wenn die deutschen Truppen vorüberkommen, bleiben sie stehen, lassen dieselben vorüberziehen und schauen ihnen sinnend nach, ohne irgendeine unziemliche Bemerkung, während die Civilbevölkerung beim Vorübermarsch der Truppen nicht selten durch übermüthige Scherze den deutschen Gleichmuth auf die Probe stellt. Der Stab der III. Armee, dessen Führung in Abwesenheit des Kronprinzen dem Generallieutenant v. Blumenthal obliegt, bewohnt, für den einen Tag den wir in St. Gra- tien verweilen, das Schloß der Prinzessin Mathilde. Da die Räumlich- keiten nicht ausreichen, sind viele der Officiere in einzelnen umliegenden Villen und in den höchst bescheidenen Häusern des Dorfes untergebracht. Die Begleiter der Colonnen welche uns den Proviant und die Fourrage für die Pferde nachfahren, biwakiren, wie mitten im Kriege, an mächtigen Wachtfeuern auf dem Platze vor der Kirche, inmitten des Dorfes. Jch hatte mit einem Hauptmann und einem Feldjägerlieutenant in einem prächtigen Landhaus am See, das Hrn. Charles Quertier, dem Generalsecretär Crémieux ' während der Zeit der Delegation von Bordeaux, gehört, Quartier genommen. Da der See einige hundert Schritte vom Dorfe St. Gratien entfernt ist, beschlossen wir mit den Ordonnanzen für unsere Bedienung eine Colonne zu bilden und für uns selbst Menage zu machen. Zwar ist es lange her daß wir das Lagerleben in seiner eigentlichen Form, wo jeder auf seine praktische Umsicht angewiesen ist, durchgemacht haben, allein man kehrt rasch zu den alten Gewohnheiten zurück. Einige wohlweislich mitgenommene Vor- räthe wurden den Burschen zur Bereitung der Abendmahlzeit in die Küche geliefert; es war die nicht ungewöhnliche Erbswurst und das noch gewöhn- lichere Hammelfleisch. Jn dem großen Speisesaale des Hrn. Quertier, wo leicht eine Gesellschaft von 40 Personen Raum finden würde, wurde be- reits der Tisch für uns hergerichtet, und einige Weine zur Würze der fru- galen Speisen sollten eben entkorkt werden, als plötzlich die Officiere welche gerade zum Fourieren an der Reihe waren, den Befehl bekamen sofort drei Meilen weiter nach Vert=Galant zu reiten, und hier für das Obercom- mando auf morgen die Quartiere zu bestellen. So hat auch das Leben des heimziehenden Kriegers seine unerwarteten Zwischenfälle. Unsere Wirthschaft wurde schonungslos auseinandergerissen, und da ich meinem Pferde nicht zumuthen wollte diesen Abend noch die weite Strecke zurück- zulegen, blieb ich allein in den unbewohnten Räumen dieses verwunschenen Schlosses. An Glanz fehlte es freilich nicht, desto mehr an Behaglichkeit im deutschen Sinne. Prachtvolle Velour=Tapeten, kostbare Vasen, glän- zende Gemälde, werthvolle Boulemöbel, ein Bett mit bronzenem Gestell, aber auch nicht eine Spur von Linnenzeug, kein Kopfkissen, keine Decke; „denn“ -- so erzählt die einzige Jnsassin des Hauses, eine alte Wirthschaf- terin -- „dieß alles ist von französischen Marodeuren gestohlen worden. Jch bin nicht einmal im Stand Jhnen ein Handtuch zu geben.“ Versailles hatte nach dem Abrücken des großen Hauptquartieres allen Glanz verloren. Bei unserer Rückkehr von der großen Parade bei Vil- liers erkannten wir die sonst während der Zeit des Feldlagers so lebhafte Stadt kaum wieder. Der überwiegend preußische Charakter den sie an sich getragen war abgestreift, und sie war wieder französisch geworden; auch sah man auf den Straßen zuletzt schon einige französische Soldaten. Die Präfectur hatte, sogleich nachdem der Kaiser sie verlassen, ihr goldenes Gitter und ihre sämmtlichen Pforten geschlossen, nur noch die beiden preu- ßischen Schilderhäuser standen leer vor dem Hauptportal. Als wir am nächsten Tage, zu einigen Aufzeichnungen über die Oertlichkeiten die der Schauplatz so hochwichtiger Berathungen und welthistorischer Staatsacte gewesen sind, noch einmal Einlaß begehrten, zögerte der Thürwärter an der Avenue de Paris, nicht aus Ungefälligkeit, sondern weil, wie er uns mittheilte, die Arbeiter bereits in den Zimmern seien, um einige Verände- rungen an der Decoration vorzunehmen. Als er auf mein Zureden den- noch nachgab, fand ich in den Gartenzimmern des Parterreraumes die von Flügeladjutanten des Kaisers bewohnt waren, Delegirte aus Bordeaux, die hier mit Baumeistern der Stadt Versailles und Beamten des Schlosses wegen der Jnstallation der National = Versammlung, die demnächst im Theater Ludwigs XIV tagen wird, verhandelten. Jch erfuhr daß der Chef der französischen Executivgewalt, Hr. Thiers, des Kaisers Nachfolger in den Gemächern der Präfectur sein wird. Als Kaiser Wilhelm im December 1870 die Reichstagsdeputation in feierlicher Audienz empfieng,

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  • fremdsprachliches Material: nur Fremdskripte gekennzeichnet.
  • Kolumnentitel: nicht übernommen.
  • Kustoden: nicht übernommen.
  • langes s (?): in Frakturschrift als s transkribiert, in Antiquaschrift beibehalten.
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert.
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert.
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst.
  • Zeichensetzung: DTABf-getreu.



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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 75. Augsburg (Bayern), 16. März 1871, S. 1262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg75_1871/2>, abgerufen am 28.04.2024.