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[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852.

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VI. Die Erziehung.

Die Kirche, für sich allein, besitzt unter den gegen-
wärtigen Verhältnissen nicht die Mittel, den Wahrheiten der
Religion überall tieferen Eingang in die Herzen der Men-
schen zu verschaffen. Die Kirche kann nur ermahnen, nicht
die Gemüther empfänglich machen für diese Ermahnungen.
Sie kann nur erinnern, nur in's Gewissen reden, nicht jene
sittlichen Erfahrungen selbst bilden, an welche sie erinnern soll,
nicht das Gewissen kräftigen, an welches sie appelliren soll.
Was hilft das Ausstreuen des besten Samens, wenn er fast
allerwärts auf steinharte Erde fällt? Erst muß der Boden
zur Aufnahme des Samens zubereitet werden, es müssen die
Steine, welche ihn bedecken, entfernt, es muß die harte Rinde
mit dem Eisen durchbrochen werden. Das ist schwere Arbeit,
welche mehr Hände, mehr Zeit und andere Mittel erfordert,
als das Geschäft des Sämanns.

Diesen vorbereitenden Einfluß, durch welchen die
Kirche unterstützt werden muß, kann jedes Verhältniß auf
den Menschen ausüben, in welchem sittliche Beweg-
gründe
auf ihn einwirken können, ganz besonders aber das
unmittelbare Verhältniß zu überlegenen sittlichen Per-
sönlichkeiten.
Wenn der Staat und seine Leitung, wenn
die Gesetze und ihre Handhabung, wenn die Gesellschaft
und der gesellschaftliche Verkehr von sittlichen Ueberzeugungen
durchdrungen ist, dann strömen dem sittlichen Bewußtsein des
Einzelnen von überallher so viele Anregungen zu, welche
dasselbe entwickeln und kräftigen, daß in ihm die sittlichen
Ueberzeugungen wie von selbst entstehen, und dann ist die
Aufgabe der Kirche eine leichte. Wenn aber im Gegentheil

VI. Die Erziehung.

Die Kirche, für ſich allein, beſitzt unter den gegen-
wärtigen Verhältniſſen nicht die Mittel, den Wahrheiten der
Religion überall tieferen Eingang in die Herzen der Men-
ſchen zu verſchaffen. Die Kirche kann nur ermahnen, nicht
die Gemüther empfänglich machen für dieſe Ermahnungen.
Sie kann nur erinnern, nur in’s Gewiſſen reden, nicht jene
ſittlichen Erfahrungen ſelbſt bilden, an welche ſie erinnern ſoll,
nicht das Gewiſſen kräftigen, an welches ſie appelliren ſoll.
Was hilft das Ausſtreuen des beſten Samens, wenn er faſt
allerwärts auf ſteinharte Erde fällt? Erſt muß der Boden
zur Aufnahme des Samens zubereitet werden, es müſſen die
Steine, welche ihn bedecken, entfernt, es muß die harte Rinde
mit dem Eiſen durchbrochen werden. Das iſt ſchwere Arbeit,
welche mehr Hände, mehr Zeit und andere Mittel erfordert,
als das Geſchäft des Sämanns.

Dieſen vorbereitenden Einfluß, durch welchen die
Kirche unterſtützt werden muß, kann jedes Verhältniß auf
den Menſchen ausüben, in welchem ſittliche Beweg-
gründe
auf ihn einwirken können, ganz beſonders aber das
unmittelbare Verhältniß zu überlegenen ſittlichen Per-
ſönlichkeiten.
Wenn der Staat und ſeine Leitung, wenn
die Geſetze und ihre Handhabung, wenn die Geſellſchaft
und der geſellſchaftliche Verkehr von ſittlichen Ueberzeugungen
durchdrungen iſt, dann ſtrömen dem ſittlichen Bewußtſein des
Einzelnen von überallher ſo viele Anregungen zu, welche
daſſelbe entwickeln und kräftigen, daß in ihm die ſittlichen
Ueberzeugungen wie von ſelbſt entſtehen, und dann iſt die
Aufgabe der Kirche eine leichte. Wenn aber im Gegentheil

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[84/0090] VI. Die Erziehung. Die Kirche, für ſich allein, beſitzt unter den gegen- wärtigen Verhältniſſen nicht die Mittel, den Wahrheiten der Religion überall tieferen Eingang in die Herzen der Men- ſchen zu verſchaffen. Die Kirche kann nur ermahnen, nicht die Gemüther empfänglich machen für dieſe Ermahnungen. Sie kann nur erinnern, nur in’s Gewiſſen reden, nicht jene ſittlichen Erfahrungen ſelbſt bilden, an welche ſie erinnern ſoll, nicht das Gewiſſen kräftigen, an welches ſie appelliren ſoll. Was hilft das Ausſtreuen des beſten Samens, wenn er faſt allerwärts auf ſteinharte Erde fällt? Erſt muß der Boden zur Aufnahme des Samens zubereitet werden, es müſſen die Steine, welche ihn bedecken, entfernt, es muß die harte Rinde mit dem Eiſen durchbrochen werden. Das iſt ſchwere Arbeit, welche mehr Hände, mehr Zeit und andere Mittel erfordert, als das Geſchäft des Sämanns. Dieſen vorbereitenden Einfluß, durch welchen die Kirche unterſtützt werden muß, kann jedes Verhältniß auf den Menſchen ausüben, in welchem ſittliche Beweg- gründe auf ihn einwirken können, ganz beſonders aber das unmittelbare Verhältniß zu überlegenen ſittlichen Per- ſönlichkeiten. Wenn der Staat und ſeine Leitung, wenn die Geſetze und ihre Handhabung, wenn die Geſellſchaft und der geſellſchaftliche Verkehr von ſittlichen Ueberzeugungen durchdrungen iſt, dann ſtrömen dem ſittlichen Bewußtſein des Einzelnen von überallher ſo viele Anregungen zu, welche daſſelbe entwickeln und kräftigen, daß in ihm die ſittlichen Ueberzeugungen wie von ſelbſt entſtehen, und dann iſt die Aufgabe der Kirche eine leichte. Wenn aber im Gegentheil

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Zitationshilfe: [N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/90>, abgerufen am 24.11.2024.