Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

statt finde. Jhr könnt es ebenso wenig. Und wenn Jhr
den gleichen Versuch, welchen ihr da so eben mit Bezug auf
den Raum gemacht habt, mit unserer Vorstellung von der
Zeit machen wollt, vorwärts und rückwärts, nach Anfang
und Ende, so wird es euch damit nicht besser ergehen und
ihr werdet das Geständniß, daß unser Verstand unfähig sei,
diese Aufgabe zu lösen, nur dadurch umgehen können, daß
ihr euch und uns mit Hülfe jener neuphilosophischdeutschen
Sprache, durch welche man Alles erklären kann, auch
das was man nicht denken kann, ein X für ein U machet.
Und bedenket es wohl: Es handelt sich hier nicht um das
Begreifen des Wesens der Dinge und auch nicht um
das Erfassen sittlicher Empfindungen, wozu der Ver-
stand ohnehin unfähig ist, es handelt sich hier um das,
was ihr die "allgemeinen Formen der Anschauung"
nennet, es handelt sich also hier um eine Frage, bei welcher
sich der Verstand auf dem ihm eigenthümlichen Gebiete
bewegt.

Während unsere krankhafte Bildung unfähig ist, das
sittliche Element zu befriedigen, weil sie es von unserem
Denken abhängig glaubt, so würde eine gesunde Bildung
die Selbstständigkeit dieses sittlichen Elementes anerkennen
und dasselbe auch auf selbstständigem Wege zu befriedigen
suchen. Mit dieser Anerkennung der Selbstständigkeit des
sittlichen Elements würde zugleich der Unterschied von Form
und Wesen des Glaubens ausgesprochen sein, und damit
wäre allen unseren kirchlich-theologischen Händeln die Spitze
abgebrochen. Durch diese Anerkennung der Selbstständigkeit
des sittlichen Elements wäre aber auch der Wahn von der
Allmacht des menschlichen Verstandes gebrochen und er würde

ſtatt finde. Jhr könnt es ebenſo wenig. Und wenn Jhr
den gleichen Verſuch, welchen ihr da ſo eben mit Bezug auf
den Raum gemacht habt, mit unſerer Vorſtellung von der
Zeit machen wollt, vorwärts und rückwärts, nach Anfang
und Ende, ſo wird es euch damit nicht beſſer ergehen und
ihr werdet das Geſtändniß, daß unſer Verſtand unfähig ſei,
dieſe Aufgabe zu löſen, nur dadurch umgehen können, daß
ihr euch und uns mit Hülfe jener neuphiloſophiſchdeutſchen
Sprache, durch welche man Alles erklären kann, auch
das was man nicht denken kann, ein X für ein U machet.
Und bedenket es wohl: Es handelt ſich hier nicht um das
Begreifen des Weſens der Dinge und auch nicht um
das Erfaſſen ſittlicher Empfindungen, wozu der Ver-
ſtand ohnehin unfähig iſt, es handelt ſich hier um das,
was ihr die „allgemeinen Formen der Anſchauung
nennet, es handelt ſich alſo hier um eine Frage, bei welcher
ſich der Verſtand auf dem ihm eigenthümlichen Gebiete
bewegt.

Während unſere krankhafte Bildung unfähig iſt, das
ſittliche Element zu befriedigen, weil ſie es von unſerem
Denken abhängig glaubt, ſo würde eine geſunde Bildung
die Selbſtſtändigkeit dieſes ſittlichen Elementes anerkennen
und daſſelbe auch auf ſelbſtſtändigem Wege zu befriedigen
ſuchen. Mit dieſer Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des
ſittlichen Elements würde zugleich der Unterſchied von Form
und Weſen des Glaubens ausgeſprochen ſein, und damit
wäre allen unſeren kirchlich-theologiſchen Händeln die Spitze
abgebrochen. Durch dieſe Anerkennung der Selbſtſtändigkeit
des ſittlichen Elements wäre aber auch der Wahn von der
Allmacht des menſchlichen Verſtandes gebrochen und er würde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0076" n="70"/>
&#x017F;tatt finde. Jhr könnt es eben&#x017F;o wenig. Und wenn Jhr<lb/>
den gleichen Ver&#x017F;uch, welchen ihr da &#x017F;o eben mit Bezug auf<lb/>
den <hi rendition="#g">Raum</hi> gemacht habt, mit un&#x017F;erer Vor&#x017F;tellung von der<lb/><hi rendition="#g">Zeit</hi> machen wollt, vorwärts und rückwärts, nach Anfang<lb/>
und Ende, &#x017F;o wird es euch damit nicht be&#x017F;&#x017F;er ergehen und<lb/>
ihr werdet das Ge&#x017F;tändniß, daß un&#x017F;er Ver&#x017F;tand unfähig &#x017F;ei,<lb/>
die&#x017F;e Aufgabe zu lö&#x017F;en, nur dadurch umgehen können, daß<lb/>
ihr euch und uns mit Hülfe jener neuphilo&#x017F;ophi&#x017F;chdeut&#x017F;chen<lb/>
Sprache, durch welche man Alles <hi rendition="#g">erklären</hi> kann, auch<lb/>
das was man nicht <hi rendition="#g">denken</hi> kann, ein X für ein U machet.<lb/>
Und bedenket es wohl: Es handelt &#x017F;ich hier nicht um das<lb/>
Begreifen des <hi rendition="#g">We&#x017F;ens</hi> der Dinge und auch nicht um<lb/>
das Erfa&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#g">&#x017F;ittlicher</hi> Empfindungen, wozu der Ver-<lb/>
&#x017F;tand ohnehin unfähig i&#x017F;t, es handelt &#x017F;ich hier um das,<lb/>
was ihr die &#x201E;<hi rendition="#g">allgemeinen Formen der An&#x017F;chauung</hi>&#x201C;<lb/>
nennet, es handelt &#x017F;ich al&#x017F;o hier um eine Frage, bei welcher<lb/>
&#x017F;ich der Ver&#x017F;tand auf dem ihm <hi rendition="#g">eigenthümlichen</hi> Gebiete<lb/>
bewegt.</p><lb/>
        <p>Während un&#x017F;ere <hi rendition="#g">krankhafte</hi> Bildung unfähig i&#x017F;t, das<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;ittliche</hi> Element zu befriedigen, weil &#x017F;ie es von un&#x017F;erem<lb/>
Denken abhängig glaubt, &#x017F;o würde eine <hi rendition="#g">ge&#x017F;unde</hi> Bildung<lb/>
die Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit die&#x017F;es &#x017F;ittlichen Elementes anerkennen<lb/>
und da&#x017F;&#x017F;elbe auch auf &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändigem Wege zu befriedigen<lb/>
&#x017F;uchen. Mit die&#x017F;er Anerkennung der Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit des<lb/>
&#x017F;ittlichen Elements würde zugleich der Unter&#x017F;chied von Form<lb/>
und We&#x017F;en des Glaubens ausge&#x017F;prochen &#x017F;ein, und damit<lb/>
wäre allen un&#x017F;eren kirchlich-theologi&#x017F;chen Händeln die Spitze<lb/>
abgebrochen. Durch die&#x017F;e Anerkennung der Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit<lb/>
des &#x017F;ittlichen Elements wäre aber auch der Wahn von der<lb/>
Allmacht des men&#x017F;chlichen Ver&#x017F;tandes gebrochen und er würde<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0076] ſtatt finde. Jhr könnt es ebenſo wenig. Und wenn Jhr den gleichen Verſuch, welchen ihr da ſo eben mit Bezug auf den Raum gemacht habt, mit unſerer Vorſtellung von der Zeit machen wollt, vorwärts und rückwärts, nach Anfang und Ende, ſo wird es euch damit nicht beſſer ergehen und ihr werdet das Geſtändniß, daß unſer Verſtand unfähig ſei, dieſe Aufgabe zu löſen, nur dadurch umgehen können, daß ihr euch und uns mit Hülfe jener neuphiloſophiſchdeutſchen Sprache, durch welche man Alles erklären kann, auch das was man nicht denken kann, ein X für ein U machet. Und bedenket es wohl: Es handelt ſich hier nicht um das Begreifen des Weſens der Dinge und auch nicht um das Erfaſſen ſittlicher Empfindungen, wozu der Ver- ſtand ohnehin unfähig iſt, es handelt ſich hier um das, was ihr die „allgemeinen Formen der Anſchauung“ nennet, es handelt ſich alſo hier um eine Frage, bei welcher ſich der Verſtand auf dem ihm eigenthümlichen Gebiete bewegt. Während unſere krankhafte Bildung unfähig iſt, das ſittliche Element zu befriedigen, weil ſie es von unſerem Denken abhängig glaubt, ſo würde eine geſunde Bildung die Selbſtſtändigkeit dieſes ſittlichen Elementes anerkennen und daſſelbe auch auf ſelbſtſtändigem Wege zu befriedigen ſuchen. Mit dieſer Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des ſittlichen Elements würde zugleich der Unterſchied von Form und Weſen des Glaubens ausgeſprochen ſein, und damit wäre allen unſeren kirchlich-theologiſchen Händeln die Spitze abgebrochen. Durch dieſe Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des ſittlichen Elements wäre aber auch der Wahn von der Allmacht des menſchlichen Verſtandes gebrochen und er würde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/76
Zitationshilfe: [N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/76>, abgerufen am 02.05.2024.