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[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852.

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lichkeit zu den "überwundenen Standpunkten" gehören, wei-
ter aber ist sie zur Zeit noch nicht gekommen.

Wohin sollen denn nun unter diesen Umständen diejeni-
gen Gebildeten ihre Zuflucht nehmen, welche kraft ihrer
Bildung sich nicht mehr mit dem Glauben der Kirche ver-
tragen können und doch auch in ihrer Bildung nichts finden,
wodurch das im menschlichen Herzen nicht zu vertilgende
Bedürfniß eines religiösen Glaubens befriedigt würde? Bleibt
ihnen etwas Anderes übrig, als die innerste Stimme ihres
Herzens zu betäuben, indem sie sich selbst in einer Menge
von Zerstreuungen und Vergnügungen, von sinnlichen und
geistigen Genüssen zu vergessen suchen? Und ist nicht gerade
dieses das Bild, welches uns diejenigen Kreise der Gesell-
schaft darbieten, die wir vorzugsweise die gebildeten zu
nennen pflegen? Zwar ist durch die im Gefolge der franzö-
sischen Februar-Revolution überall ausgebrochenen anarchi-
schen Bewegungen einige Störung in der Lebensweise jener
Kreise eingetreten, und die Furcht vor einer zweiten Auflage
jener Schreckenstage läßt an vielen Orten eine vollständige
Rückkehr in die alten Geleise noch nicht zu. Allein die Er-
innerung an jene schönen vormärzlichen Zeiten ist uns Allen
noch gegenwärtig, und im Nothfall dürften wir, um diese
Erinnerungen aufzufrischen, uns nur in der "schönen"
Litteratur jener Tage umsehen und namentlich die aus Frank-
reich damals zu uns herübergekommenen Erzeugnisse dersel-
ben nochmals durchblättern, welche, weil sie die innersten
Gedanken der "guten" Gesellschaft so treu wiedergaben und
die "geistigen" Bedürfnisse derselben so trefflich durch
Schilderungen des Luxus und der sittlichen Verworfenheit
zu befriedigen wußten, von Allem, was auf Bildung Anspruch

lichkeit zu den „überwundenen Standpunkten“ gehören, wei-
ter aber iſt ſie zur Zeit noch nicht gekommen.

Wohin ſollen denn nun unter dieſen Umſtänden diejeni-
gen Gebildeten ihre Zuflucht nehmen, welche kraft ihrer
Bildung ſich nicht mehr mit dem Glauben der Kirche ver-
tragen können und doch auch in ihrer Bildung nichts finden,
wodurch das im menſchlichen Herzen nicht zu vertilgende
Bedürfniß eines religiöſen Glaubens befriedigt würde? Bleibt
ihnen etwas Anderes übrig, als die innerſte Stimme ihres
Herzens zu betäuben, indem ſie ſich ſelbſt in einer Menge
von Zerſtreuungen und Vergnügungen, von ſinnlichen und
geiſtigen Genüſſen zu vergeſſen ſuchen? Und iſt nicht gerade
dieſes das Bild, welches uns diejenigen Kreiſe der Geſell-
ſchaft darbieten, die wir vorzugsweiſe die gebildeten zu
nennen pflegen? Zwar iſt durch die im Gefolge der franzö-
ſiſchen Februar-Revolution überall ausgebrochenen anarchi-
ſchen Bewegungen einige Störung in der Lebensweiſe jener
Kreiſe eingetreten, und die Furcht vor einer zweiten Auflage
jener Schreckenstage läßt an vielen Orten eine vollſtändige
Rückkehr in die alten Geleiſe noch nicht zu. Allein die Er-
innerung an jene ſchönen vormärzlichen Zeiten iſt uns Allen
noch gegenwärtig, und im Nothfall dürften wir, um dieſe
Erinnerungen aufzufriſchen, uns nur in der „ſchönen
Litteratur jener Tage umſehen und namentlich die aus Frank-
reich damals zu uns herübergekommenen Erzeugniſſe derſel-
ben nochmals durchblättern, welche, weil ſie die innerſten
Gedanken der „guten“ Geſellſchaft ſo treu wiedergaben und
die „geiſtigen“ Bedürfniſſe derſelben ſo trefflich durch
Schilderungen des Luxus und der ſittlichen Verworfenheit
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[44/0050] lichkeit zu den „überwundenen Standpunkten“ gehören, wei- ter aber iſt ſie zur Zeit noch nicht gekommen. Wohin ſollen denn nun unter dieſen Umſtänden diejeni- gen Gebildeten ihre Zuflucht nehmen, welche kraft ihrer Bildung ſich nicht mehr mit dem Glauben der Kirche ver- tragen können und doch auch in ihrer Bildung nichts finden, wodurch das im menſchlichen Herzen nicht zu vertilgende Bedürfniß eines religiöſen Glaubens befriedigt würde? Bleibt ihnen etwas Anderes übrig, als die innerſte Stimme ihres Herzens zu betäuben, indem ſie ſich ſelbſt in einer Menge von Zerſtreuungen und Vergnügungen, von ſinnlichen und geiſtigen Genüſſen zu vergeſſen ſuchen? Und iſt nicht gerade dieſes das Bild, welches uns diejenigen Kreiſe der Geſell- ſchaft darbieten, die wir vorzugsweiſe die gebildeten zu nennen pflegen? Zwar iſt durch die im Gefolge der franzö- ſiſchen Februar-Revolution überall ausgebrochenen anarchi- ſchen Bewegungen einige Störung in der Lebensweiſe jener Kreiſe eingetreten, und die Furcht vor einer zweiten Auflage jener Schreckenstage läßt an vielen Orten eine vollſtändige Rückkehr in die alten Geleiſe noch nicht zu. Allein die Er- innerung an jene ſchönen vormärzlichen Zeiten iſt uns Allen noch gegenwärtig, und im Nothfall dürften wir, um dieſe Erinnerungen aufzufriſchen, uns nur in der „ſchönen“ Litteratur jener Tage umſehen und namentlich die aus Frank- reich damals zu uns herübergekommenen Erzeugniſſe derſel- ben nochmals durchblättern, welche, weil ſie die innerſten Gedanken der „guten“ Geſellſchaft ſo treu wiedergaben und die „geiſtigen“ Bedürfniſſe derſelben ſo trefflich durch Schilderungen des Luxus und der ſittlichen Verworfenheit zu befriedigen wußten, von Allem, was auf Bildung Anſpruch

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Zitationshilfe: [N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/50>, abgerufen am 25.04.2024.