Allgemeine Zeitung, Nr. 95, 5. April 1849.[Spaltenumbruch]
endlich viel mehr als eine litterarische Beobachtung. Sie ist nicht bloß Das ist der allgemeine Eindruck den jene Schriften hinterlassen. Es Es wird daher nicht ohne Interesse seyn wenn wir eine kurze Charak- Sieht man ab von der beiden gemeinsamen Feindschaft gegen die Guizot zunächst, der strenge Calvinist, kommt aus sich selbst, seinen Welche Gewalt nun ist es die dem Guten in der Gesellschaft, die sich [Spaltenumbruch]
endlich viel mehr als eine litterariſche Beobachtung. Sie iſt nicht bloß Das iſt der allgemeine Eindruck den jene Schriften hinterlaſſen. Es Es wird daher nicht ohne Intereſſe ſeyn wenn wir eine kurze Charak- Sieht man ab von der beiden gemeinſamen Feindſchaft gegen die Guizot zunächſt, der ſtrenge Calviniſt, kommt aus ſich ſelbſt, ſeinen Welche Gewalt nun iſt es die dem Guten in der Geſellſchaft, die ſich <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jFeuilleton" n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p><pb facs="#f0011" n="1459"/><cb/> endlich viel mehr als eine litterariſche Beobachtung. Sie iſt nicht bloß<lb/> ein deutungsvolles Anzeichen von der großen Tiefe der gegenwärtigen Be-<lb/> wegung, die ſelbſt ſolche Männer nicht haben ermeſſen können; ſie iſt zu-<lb/> gleich, und das iſt ein Thatſächlicheres, die entſcheidende <hi rendition="#g">Kriegserklä-<lb/> rung</hi> der alten ſcheidenden Welt gegen die neue. Es gibt keine Brücke<lb/> mehr hinüber und herüber; es gibt keine Verſöhnung, denn beide ſchließen<lb/> einander aus, und dennoch verſtehen ſich beide nicht; ſie ſind keine<lb/> Gegner mehr, ſie ſind Feinde auf Leben und Tod. Guizot wie Thiers<lb/> ſprechen es deutlich und energiſch aus daß die Revolution und ihre Folgen<lb/> nur das <hi rendition="#g">Unglück</hi> Frankreichs geweſen ſind; ſie erklären es, jeder in<lb/> ſeiner Weiſe und auf ſeinem Gebiete, der neuen Republik ins Geſicht daß<lb/> nur die Rückkehr zu den alten Zuſtänden, nur die alte Auffaſſungsweiſe,<lb/> nur die alte Form des Staats, nur der alte Gang der Regierung Frank-<lb/> reich und die Civiliſation retten könne; ihnen iſt keine Vermittelung denk-<lb/> bar, und ſo iſt, was wir im wirklichen Leben das franzöſiſche Volk durch-<lb/> wühlen ſehen mit furchtbarer Gewalt, hier als theoretiſcher Satz ausge-<lb/> ſprochen: es gibt <hi rendition="#g">keinen Frieden</hi> zwiſchen beiden Elementen; es wird<lb/> keinen geben, und erſt die völlige Vernichtung des einen oder des andern<lb/> wird den Widerſtreit beenden.</p><lb/> <p>Das iſt der allgemeine Eindruck den jene Schriften hinterlaſſen. Es<lb/> iſt nicht unſere Aufgabe hier zu fragen inwieweit dieſe beiden Männer<lb/> Recht oder Unrecht gehabt haben; wir würden nicht weniger als die<lb/> Parallele zwiſchen der Gegenwart und der Vergangenheit ziehen müſſen!<lb/> Allein es wird nicht ohne Intereſſe ſeyn dieſe beiden ſo ſehr verſchiedenen<lb/> Charaktere, die ſo lange das Ruder des franzöſiſchen Staats in Händen<lb/> gehabt haben, jetzt auch auf dieſem — vielleicht letztem Gebiet ihres poli-<lb/> tiſchen Lebens zu verfolgen. Wir laſſen dabei jede eigentliche Kritik bei<lb/> Seite; aber es wird vielleicht gelingen den tieferen Punkt zu berühren,<lb/> der im Innern beider Staatsmänner jenen geheimen Grund der eigenen<lb/> Rechtfertigung abgegeben hat, die es ihnen möglich machte mit ſolcher<lb/> Kraft und Ruhe alles auf die kommende Umwälzung Bezügliche als ein<lb/> entweder Unwahres oder Unbedeutendes zu überſehen. Von fern betrach-<lb/> tend hat man ſich gewiß oft über ihre ſtolze und faſt verzweifelte Abwehr<lb/> jeder wirklichen Reform in zweifacher Weiſe geirrt, beſonders bei Guizot,<lb/> dem ſtarren Haupt der unfügſamen Doctrinärs. Man hat das Auftreten<lb/> gewiß oft für leicht gehalten, und man hat es ebenſo oft einer mehr oder<lb/> weniger bewußten Unkenntniß des Volkes und ſeiner Verhältniſſe zuge-<lb/> ſchrieben. Beides iſt entſchieden zugleich ungerecht und unrichtig. Leicht<lb/> war es wahrlich nicht der Wuth, dem Grimm und der geiſtigen An-<lb/> ſtrengung der Oppoſition, dem machtvollen Druck des Volkswillens, der<lb/> immer ſtärker nach oben drängte, zu widerſtehen; es gehörte ein eiſerner<lb/> Wille dazu die täglich wachſende Laſt zu tragen, und mit feſter Ruhe der<lb/> Verantwortung entgegenzuſehen die dem verzweifelten Widerſtande folgen<lb/> mußte. Und unbedachtſam urtheilen die welche ſolchen Männern eine bis<lb/> zum Unbegreiflichen gehende Unkenntniß des Volkslebens zutrauen. Denn<lb/> am Ende umgab damals wie jetzt jeden öffentlichen Charakter die Preſſe,<lb/> das Wort, die tägliche Aufregung der Straßen und der Clubs; wenn ein<lb/> deutſcher Miniſter von Hohenzollern oder einem andern Duodezſtaate zu<lb/> entſchuldigen iſt daß er keine Volksſtimme hörte wo kein Volk war, ſo<lb/> wird man Aehnliches von Frankreich und von Paris wohl nicht meinen!<lb/> Wenn aber dieſe Männer dennoch mit feſtem Bewußtſeyn die Laſt ihrer<lb/> Stellung Angeſichts drohender Anklagen und drängender Gefahr zu tragen<lb/> wußten, ſo mußte eine höhere Ueberzeugung ihnen die andauernde Kraft<lb/> des Widerſtandes leihen; dieſe Ueberzeugung war manchem ein Räthſel;<lb/> mit dem Sturze der alten Zeit kam der Augenblick wo ſie ſie entweder auf-<lb/> geben, oder nunmehr endlich dem gegenwärtigen Zuſtande gegenüber ſie<lb/> ausſprechen, ihrem gewaltigen Widerſtande gegen den Gang der Reform<lb/> die höhere Weihe einer bewußten Erkenntniß geben mußten. Und das iſt<lb/> es was ſie verſucht haben. Mag man über den Kampf dynaſtiſcher Inter-<lb/> eſſen gegen die Reformen denken wie man will, hier begegnen wir dem<lb/><hi rendition="#g">ſittlichen</hi> Gegner derſelben, der Ueberzeugung die gegen die Ueberzeu-<lb/> gung kämpft; aus den Maßregeln und den Redensarten heraustretend,<lb/> treffen wir den Menſchen Guizot und Thiers, der ſich jetzt wie vor einem<lb/> Jahre der republicaniſchen Bewegung entgegenſtellt; es iſt der Troſt bei ſo<lb/> viel Erbärmlichkeit die das Guizot’ſche Syſtem erzeugte, daß dennoch das-<lb/> ſelbe irgendwo einen moraliſchen Mittelpunkt hatte, die Entlaſtung der<lb/> gegenwärtigen wenig republicaniſchen Strebungen des Hrn. Thiers, daß<lb/> er um eines Glaubens willen nicht an die alleinſeligmachende Republik<lb/> glauben kann. Das iſt es was dieſen Schriften ihr reineres Intereſſe gibt.<lb/> Und wohl zu bedenken iſt dabei daß wir hier nicht etwa bloß dieſe beiden<lb/> einzelnen Perſönlichkeiten vor uns haben. Wie einſt in der Politik, ſo<lb/> ſind ſie jetzt auch in der Litteratur die Vertreter einer — wir ſagen nicht<lb/> Partei — wohl aber einer beſtimmten Maſſe von Ueberzeugungen, die<lb/> wie jene nicht durch den Gang der Thatſachen ſich haben ändern laſſen<lb/> wollen. Wir können an der Hand dieſer beiden Schriſten einen Blick in<lb/><cb/> das Leben der franzöſiſchen Ueberzeugungen und Anſichten thun; wir<lb/> können die tiefen und unverſöhnlichen Gegner der neuen Ordnung der<lb/> Dinge kennen lernen, um ſo beſtimmter, je verſchiedener die Auffaſſung<lb/> beider Wortführer iſt; und gewiß wäre es für die Häupter der gegenwär-<lb/> tigen Zuſtände in Frankreich keine undankbare Aufgabe an dieſen Arbeiten<lb/> zu lernen wo die Feinde und wo die Gefahren der Republik ſind, nicht<lb/> weil Guizot und Thiers ein ganz Neues geſagt, ſondern weil eben Guizot<lb/> und Thiers es ſind die ſich ſo und nicht anders ausſprachen.</p><lb/> <p>Es wird daher nicht ohne Intereſſe ſeyn wenn wir eine kurze Charak-<lb/> teriſtik beider Schriften hier verſuchen. Sie wird nicht bloß auf dieſe<lb/> Schriften, ſondern auch auf die Perſönlichkeiten und die Verhältniſſe man-<lb/> ches Licht werfen.</p><lb/> <p>Sieht man ab von der beiden gemeinſamen Feindſchaft gegen die<lb/> neueren Bewegungen überhaupt die in beiden Arbeiten vorwaltet, ſo iſt<lb/> allerdings die Verſchiedenheit derſelben eine ſehr große und eigenthümliche,<lb/> und es ſpiegelt ſich der Charakter beider Männer ſowohl in der Auffaſſung<lb/> des Punktes, den ſie für den verletzbarſten und gefährlichſten in den heuti-<lb/> gen Zuſtänden halten, als in der Art und Weiſe wie ſie ihn angreifen.</p><lb/> <p>Guizot zunächſt, der ſtrenge Calviniſt, kommt aus ſich ſelbſt, ſeinen<lb/> eigenen Fehlern und Größen zur Betrachtung des Kampfes in der Geſell-<lb/> ſchaft. Er kann, als ein Mann der an das Leben in ſich ſelber gewöhnt iſt,<lb/> nicht die Verhältniſſe nach den äußern Thatſachen beurtheilen; die Quelle<lb/> der Erkenntniß iſt die Tiefe des individuellen Lebens ſelber. Er glaubt an<lb/> die Sündhaftigkeit, an das Böſe im Menſchen; er hält feſt an der Ueber-<lb/> zeugung daß die eigene Macht der Perſönlichkeit nicht genügt um den<lb/> Kampf des Guten mit dem Böſen zum Abſchluß zu führen, ihm iſt<lb/> eine andere höhere Gewalt nothwendig um dieſen Kampf zu beſtehen; ſich<lb/> ſelbſt überlaſſen ſtürzt der Menſch ins Verderben; ſeine Sünde, die er liebt,<lb/> iſt ſein Feind, und weil er ſie liebt iſt ſie mächtiger als er ſelber. Dennoch<lb/> iſt der Menſch ſtets durchdrungen von dem faſt unwiderſtehlichen Triebe<lb/> ſich allein überlaſſen zu bleiben; es gilt ihm das Verderben durch ihn ſel-<lb/> ber höher als die Rettung durch andere; denn an der Schwelle der Ver-<lb/> bindung mit den edleren Elementen ſteht der Stolz, der die Hülfe des an-<lb/> dern nicht will, auf die Gefahr hin ohne ſie unterzugehen. Darum muß<lb/> der Menſch mit Gewalt dem Beſſeren und ſeiner Macht unterworfen wer-<lb/> den; er muß wenn er kein guter iſt, unfrei werden um nicht zu verderben;<lb/> wird oder iſt er ein guter, ſo iſt der Zwang nicht da, und die Freiheit er-<lb/> ſcheint und iſt nur möglich wo das Böſe bewältigt iſt. Was aber der<lb/> Menſch im einzelnen iſt, das iſt die Geſellſchaft im ganzen. Dieſelben Lei-<lb/> denſchaften, dieſelben Kämpfe durchwühlen ſie, dieſelbe Machtloſigkeit des<lb/> Guten in ihr läßt ſie dem Böſen unterliegen, dieſelben Bedingungen füh-<lb/> ren in ihr zur wahren Freiheit, zum wahren Leben. „Zu glauben daß die<lb/> ſich ſelbſt überlaſſene menſchliche Freiheit ſich dem Guten zuwendet und<lb/> dazu ausreichen kann, iſt eine gränzenloſe Unkenntniß der Natur des Men-<lb/> ſchen und ſeiner Verhältniſſe. Dieß iſt der Irrthum des Stolzes, ein Irr-<lb/> thum der zu gleicher Zeit die moraliſche und politiſche Ordnung, die in-<lb/> nere Regierung des Menſchen und die allgemeine Regierung der Geſell-<lb/> ſchaft ihrer wahren Kraft beraubt. Denn in der Geſellſchaft wie im Men-<lb/> ſchen iſt der Kampf der nämliche, die Gefahr gleich dringend, die Hülfe<lb/> gleich nothwendig.“ Das iſt der Urgrund aller Erkenntniß und aller Be-<lb/> herrſchung menſchlicher Dinge für den ſtrenggläubigen Calviniſten. Er<lb/> weiß es wohl daß es „Leute gibt welche dieſer Kampf nicht beunruhigt, und<lb/> die volles Vertrauen auf die menſchliche Natur haben daß ſie, ſich ſelbſt<lb/> überlaſſen, dem Guten ſich zuwenden.“ Er geſteht daß es andere gibt „die<lb/> kein natürliches und nothwendiges Böſe anerkennen, die keine menſchliche<lb/> Regung als an ſich ſchlecht betrachten.“ Er verdammt beide. „Die erſteren<lb/> verkennen den Menſchen, die letzteren verkennen den Menſchen und läugnen<lb/> Gott.“ Der Menſch iſt der Kampfplatz des Guten und des Böſen, die Ge-<lb/> ſellſchaft iſt es im größern Maße wie der Einzelne. Für ſich ſtehend ſind<lb/> beide unrettbar an das Böſe verloren. So legt Guizot die Grundlage ſei-<lb/> ner Betrachtung des Lebens der Menſchen und des Staates.</p><lb/> <p>Welche Gewalt nun iſt es die dem Guten in der Geſellſchaft, die ſich<lb/> allein nicht helfen kann, zum Siege verhilft? 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endlich viel mehr als eine litterariſche Beobachtung. Sie iſt nicht bloß
ein deutungsvolles Anzeichen von der großen Tiefe der gegenwärtigen Be-
wegung, die ſelbſt ſolche Männer nicht haben ermeſſen können; ſie iſt zu-
gleich, und das iſt ein Thatſächlicheres, die entſcheidende Kriegserklä-
rung der alten ſcheidenden Welt gegen die neue. Es gibt keine Brücke
mehr hinüber und herüber; es gibt keine Verſöhnung, denn beide ſchließen
einander aus, und dennoch verſtehen ſich beide nicht; ſie ſind keine
Gegner mehr, ſie ſind Feinde auf Leben und Tod. Guizot wie Thiers
ſprechen es deutlich und energiſch aus daß die Revolution und ihre Folgen
nur das Unglück Frankreichs geweſen ſind; ſie erklären es, jeder in
ſeiner Weiſe und auf ſeinem Gebiete, der neuen Republik ins Geſicht daß
nur die Rückkehr zu den alten Zuſtänden, nur die alte Auffaſſungsweiſe,
nur die alte Form des Staats, nur der alte Gang der Regierung Frank-
reich und die Civiliſation retten könne; ihnen iſt keine Vermittelung denk-
bar, und ſo iſt, was wir im wirklichen Leben das franzöſiſche Volk durch-
wühlen ſehen mit furchtbarer Gewalt, hier als theoretiſcher Satz ausge-
ſprochen: es gibt keinen Frieden zwiſchen beiden Elementen; es wird
keinen geben, und erſt die völlige Vernichtung des einen oder des andern
wird den Widerſtreit beenden.
Das iſt der allgemeine Eindruck den jene Schriften hinterlaſſen. Es
iſt nicht unſere Aufgabe hier zu fragen inwieweit dieſe beiden Männer
Recht oder Unrecht gehabt haben; wir würden nicht weniger als die
Parallele zwiſchen der Gegenwart und der Vergangenheit ziehen müſſen!
Allein es wird nicht ohne Intereſſe ſeyn dieſe beiden ſo ſehr verſchiedenen
Charaktere, die ſo lange das Ruder des franzöſiſchen Staats in Händen
gehabt haben, jetzt auch auf dieſem — vielleicht letztem Gebiet ihres poli-
tiſchen Lebens zu verfolgen. Wir laſſen dabei jede eigentliche Kritik bei
Seite; aber es wird vielleicht gelingen den tieferen Punkt zu berühren,
der im Innern beider Staatsmänner jenen geheimen Grund der eigenen
Rechtfertigung abgegeben hat, die es ihnen möglich machte mit ſolcher
Kraft und Ruhe alles auf die kommende Umwälzung Bezügliche als ein
entweder Unwahres oder Unbedeutendes zu überſehen. Von fern betrach-
tend hat man ſich gewiß oft über ihre ſtolze und faſt verzweifelte Abwehr
jeder wirklichen Reform in zweifacher Weiſe geirrt, beſonders bei Guizot,
dem ſtarren Haupt der unfügſamen Doctrinärs. Man hat das Auftreten
gewiß oft für leicht gehalten, und man hat es ebenſo oft einer mehr oder
weniger bewußten Unkenntniß des Volkes und ſeiner Verhältniſſe zuge-
ſchrieben. Beides iſt entſchieden zugleich ungerecht und unrichtig. Leicht
war es wahrlich nicht der Wuth, dem Grimm und der geiſtigen An-
ſtrengung der Oppoſition, dem machtvollen Druck des Volkswillens, der
immer ſtärker nach oben drängte, zu widerſtehen; es gehörte ein eiſerner
Wille dazu die täglich wachſende Laſt zu tragen, und mit feſter Ruhe der
Verantwortung entgegenzuſehen die dem verzweifelten Widerſtande folgen
mußte. Und unbedachtſam urtheilen die welche ſolchen Männern eine bis
zum Unbegreiflichen gehende Unkenntniß des Volkslebens zutrauen. Denn
am Ende umgab damals wie jetzt jeden öffentlichen Charakter die Preſſe,
das Wort, die tägliche Aufregung der Straßen und der Clubs; wenn ein
deutſcher Miniſter von Hohenzollern oder einem andern Duodezſtaate zu
entſchuldigen iſt daß er keine Volksſtimme hörte wo kein Volk war, ſo
wird man Aehnliches von Frankreich und von Paris wohl nicht meinen!
Wenn aber dieſe Männer dennoch mit feſtem Bewußtſeyn die Laſt ihrer
Stellung Angeſichts drohender Anklagen und drängender Gefahr zu tragen
wußten, ſo mußte eine höhere Ueberzeugung ihnen die andauernde Kraft
des Widerſtandes leihen; dieſe Ueberzeugung war manchem ein Räthſel;
mit dem Sturze der alten Zeit kam der Augenblick wo ſie ſie entweder auf-
geben, oder nunmehr endlich dem gegenwärtigen Zuſtande gegenüber ſie
ausſprechen, ihrem gewaltigen Widerſtande gegen den Gang der Reform
die höhere Weihe einer bewußten Erkenntniß geben mußten. Und das iſt
es was ſie verſucht haben. Mag man über den Kampf dynaſtiſcher Inter-
eſſen gegen die Reformen denken wie man will, hier begegnen wir dem
ſittlichen Gegner derſelben, der Ueberzeugung die gegen die Ueberzeu-
gung kämpft; aus den Maßregeln und den Redensarten heraustretend,
treffen wir den Menſchen Guizot und Thiers, der ſich jetzt wie vor einem
Jahre der republicaniſchen Bewegung entgegenſtellt; es iſt der Troſt bei ſo
viel Erbärmlichkeit die das Guizot’ſche Syſtem erzeugte, daß dennoch das-
ſelbe irgendwo einen moraliſchen Mittelpunkt hatte, die Entlaſtung der
gegenwärtigen wenig republicaniſchen Strebungen des Hrn. Thiers, daß
er um eines Glaubens willen nicht an die alleinſeligmachende Republik
glauben kann. Das iſt es was dieſen Schriften ihr reineres Intereſſe gibt.
Und wohl zu bedenken iſt dabei daß wir hier nicht etwa bloß dieſe beiden
einzelnen Perſönlichkeiten vor uns haben. Wie einſt in der Politik, ſo
ſind ſie jetzt auch in der Litteratur die Vertreter einer — wir ſagen nicht
Partei — wohl aber einer beſtimmten Maſſe von Ueberzeugungen, die
wie jene nicht durch den Gang der Thatſachen ſich haben ändern laſſen
wollen. Wir können an der Hand dieſer beiden Schriſten einen Blick in
das Leben der franzöſiſchen Ueberzeugungen und Anſichten thun; wir
können die tiefen und unverſöhnlichen Gegner der neuen Ordnung der
Dinge kennen lernen, um ſo beſtimmter, je verſchiedener die Auffaſſung
beider Wortführer iſt; und gewiß wäre es für die Häupter der gegenwär-
tigen Zuſtände in Frankreich keine undankbare Aufgabe an dieſen Arbeiten
zu lernen wo die Feinde und wo die Gefahren der Republik ſind, nicht
weil Guizot und Thiers ein ganz Neues geſagt, ſondern weil eben Guizot
und Thiers es ſind die ſich ſo und nicht anders ausſprachen.
Es wird daher nicht ohne Intereſſe ſeyn wenn wir eine kurze Charak-
teriſtik beider Schriften hier verſuchen. Sie wird nicht bloß auf dieſe
Schriften, ſondern auch auf die Perſönlichkeiten und die Verhältniſſe man-
ches Licht werfen.
Sieht man ab von der beiden gemeinſamen Feindſchaft gegen die
neueren Bewegungen überhaupt die in beiden Arbeiten vorwaltet, ſo iſt
allerdings die Verſchiedenheit derſelben eine ſehr große und eigenthümliche,
und es ſpiegelt ſich der Charakter beider Männer ſowohl in der Auffaſſung
des Punktes, den ſie für den verletzbarſten und gefährlichſten in den heuti-
gen Zuſtänden halten, als in der Art und Weiſe wie ſie ihn angreifen.
Guizot zunächſt, der ſtrenge Calviniſt, kommt aus ſich ſelbſt, ſeinen
eigenen Fehlern und Größen zur Betrachtung des Kampfes in der Geſell-
ſchaft. Er kann, als ein Mann der an das Leben in ſich ſelber gewöhnt iſt,
nicht die Verhältniſſe nach den äußern Thatſachen beurtheilen; die Quelle
der Erkenntniß iſt die Tiefe des individuellen Lebens ſelber. Er glaubt an
die Sündhaftigkeit, an das Böſe im Menſchen; er hält feſt an der Ueber-
zeugung daß die eigene Macht der Perſönlichkeit nicht genügt um den
Kampf des Guten mit dem Böſen zum Abſchluß zu führen, ihm iſt
eine andere höhere Gewalt nothwendig um dieſen Kampf zu beſtehen; ſich
ſelbſt überlaſſen ſtürzt der Menſch ins Verderben; ſeine Sünde, die er liebt,
iſt ſein Feind, und weil er ſie liebt iſt ſie mächtiger als er ſelber. Dennoch
iſt der Menſch ſtets durchdrungen von dem faſt unwiderſtehlichen Triebe
ſich allein überlaſſen zu bleiben; es gilt ihm das Verderben durch ihn ſel-
ber höher als die Rettung durch andere; denn an der Schwelle der Ver-
bindung mit den edleren Elementen ſteht der Stolz, der die Hülfe des an-
dern nicht will, auf die Gefahr hin ohne ſie unterzugehen. Darum muß
der Menſch mit Gewalt dem Beſſeren und ſeiner Macht unterworfen wer-
den; er muß wenn er kein guter iſt, unfrei werden um nicht zu verderben;
wird oder iſt er ein guter, ſo iſt der Zwang nicht da, und die Freiheit er-
ſcheint und iſt nur möglich wo das Böſe bewältigt iſt. Was aber der
Menſch im einzelnen iſt, das iſt die Geſellſchaft im ganzen. Dieſelben Lei-
denſchaften, dieſelben Kämpfe durchwühlen ſie, dieſelbe Machtloſigkeit des
Guten in ihr läßt ſie dem Böſen unterliegen, dieſelben Bedingungen füh-
ren in ihr zur wahren Freiheit, zum wahren Leben. „Zu glauben daß die
ſich ſelbſt überlaſſene menſchliche Freiheit ſich dem Guten zuwendet und
dazu ausreichen kann, iſt eine gränzenloſe Unkenntniß der Natur des Men-
ſchen und ſeiner Verhältniſſe. Dieß iſt der Irrthum des Stolzes, ein Irr-
thum der zu gleicher Zeit die moraliſche und politiſche Ordnung, die in-
nere Regierung des Menſchen und die allgemeine Regierung der Geſell-
ſchaft ihrer wahren Kraft beraubt. Denn in der Geſellſchaft wie im Men-
ſchen iſt der Kampf der nämliche, die Gefahr gleich dringend, die Hülfe
gleich nothwendig.“ Das iſt der Urgrund aller Erkenntniß und aller Be-
herrſchung menſchlicher Dinge für den ſtrenggläubigen Calviniſten. Er
weiß es wohl daß es „Leute gibt welche dieſer Kampf nicht beunruhigt, und
die volles Vertrauen auf die menſchliche Natur haben daß ſie, ſich ſelbſt
überlaſſen, dem Guten ſich zuwenden.“ Er geſteht daß es andere gibt „die
kein natürliches und nothwendiges Böſe anerkennen, die keine menſchliche
Regung als an ſich ſchlecht betrachten.“ Er verdammt beide. „Die erſteren
verkennen den Menſchen, die letzteren verkennen den Menſchen und läugnen
Gott.“ Der Menſch iſt der Kampfplatz des Guten und des Böſen, die Ge-
ſellſchaft iſt es im größern Maße wie der Einzelne. Für ſich ſtehend ſind
beide unrettbar an das Böſe verloren. So legt Guizot die Grundlage ſei-
ner Betrachtung des Lebens der Menſchen und des Staates.
Welche Gewalt nun iſt es die dem Guten in der Geſellſchaft, die ſich
allein nicht helfen kann, zum Siege verhilft? Es muß eine Gewalt ſeyn
die eine ſtets gegenwärtige, eine äußerliche, machtvolle und von den Käm-
pfen der Geſellſchaft unberührte iſt; und dieſe Gewalt iſt die Regierung.
Ihr Weſen und ihre Aufgabe ergeben ſich aus dieſer ihrer höheren Natur.
Die Regierung eines Staates iſt nicht die Verwaltung desſelben. Die
Verwaltung mag ſich dem praktiſchen Bedürfniß zuwenden; die Regie-
rung ſteht als gerüſteter Vorkämpfer dem Böſen und ſeinen ewig arbeiten-
den Elementen gegenüber. „Nicht allein dem Böſen, ſondern auch dem
Princip des Böſen, nicht allein der Unordnung, ſondern auch den Leiden-
ſchaften und Ideen widerſtehen welche die Unordnung hervorbringen, das
iſt die weſentliche Aufgabe, die erſte Pflicht jeder Regierung.“ Auf dieſe
Weiſe hebt Guizot die Regierung aus der Geſellſchaft heraus; er hebt ſie
über ſie, er ſtellt ſie als das abſolut Erhabene in der menſchlichen Welt;
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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